Sof'ja Kowalewskaja: Mathematikstudium in Berlin

Carl Weierstraß versuchte für S. Kowalewskaja die Erlaubnis zu erwirken, an der Berliner Universität Mathematikvorlesungen zu hören. So schrieb er am 25.10.1870 an seinen ehemaligen Schüler Leo Koenigsberger in Heidelberg:

Berlin, 25. Oktober 1870.

Verehrter Freund und Kollege!
An der Universität werden wir den Einfluß der kriegerischen Zeit wahrscheinlich sehr stark verspüren. Ich habe heute meine Vorlesung über elliptische Funktionen vor 20 Zuhörern begonnen, während vor zwei Jahren deren 50 vorhanden waren. Kummer und Kronecker wollen deswegen auch erst nach dem 1. November anfangen. Umso schwerer trifft es uns, daß der — bis jetzt — unbeugsame Wille des hohen Senats uns nicht einmal den Ersatz gönnen mag, der uns aus Ihren Händen in der Person Ihres bisherigen weiblichen Zuhörers geboten wird, und — mit den richtigen Grewichts-Koeffizienten versehen — vielleicht ein recht wertvoller sein möchte. Sie würden mich übrigens verpflichten, wenn Sie mir über diese Dame und deren Befähigung zu tieferen mathematischen Studien Ihre Ansicht mitteilen wollten. Dies würde mir um so mehr erwünscht sein, als in der nächsten Senatssitzung — heute über 8 Tage — das Gesuch derselben um Zulassung zu den mathematischen Vorlesungen nochmals zur Sprache kommen wird und ich dies Gesuch befürworten würde, wenn ich, auf Ihr Urteil mich stützend, meine Überzeugung dahin aussprechen könnte, daß die Dame wirklichen wissenschaftlichen Beruf habe. Wie sie mir sagt, hat sie mehrere Semester bei Ihnen Vorlesungen gehört, namentlich auch elliptische Funktionen, und möchte nun gern weiter gehen. Könnte ich erwarten, daß sie dazu befähigt sei, wäre sie z. B. imstande, wenn ich ihr Ausarbeitungen über hyperelliptische Funktionen gäbe, mit meiner Unterstützung sich darin zurechtzufinden, so würde ich gern bereit sein, ihre Bestrebungen auf alle Weise zu fordern. Sie werden es aber begreiflich finden, daß ich nicht gern etwas anfangen möchte, was sich vielleicht nicht durchführen läßt.

Daß die Persönlichkeit der Dame die erforderlichen Garantien bietet, — ein Punkt, auf den es bei der Verhandlung im Senat ebenfalls ankommen wird —, darf ich, da sie längere Zeit an Ihrer Universität studiert hat, wohl voraussetzen. Doch würde mir eine ausdrückliche Versicherung hierüber gleichfalls willkommen sein, da man sich hier in eine so ungewöhnliche Erscheinung, daß eine junge Dame Mathematik studieren will und sich nicht scheut, ein Lokal, wie unser Auditorium 17 es ist, zu betreten, gar nicht recht finden kann.

Mit freundlichstem Gruß
 der Ihrige
  WEIERSTRASS.


Weierstraß, Carl:
Briefe von K. Weierstraß an L. Koenigsberger
In: Acta mathematica. - 39 (1923), S. 230-231
Signatur UB Heidelberg: L 15-6::39.1923


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

Zur Inhaltsübersicht     Historia Mathematica     Homo Heidelbergensis