Anna Charlotte Leffler:
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„Letzten Sonntag hatten wir den Besuch eines interessanten russischen Paares — Herr und Frau Kovalevsky; sie, ein anmutiges Wesen, gewinnend bescheiden in Stimme und Rede, die in Heidelberg (zufolge besonderer Erlaubnis, durch Kirchhoff bewilligt) Mathematik studiert; er liebenswürdig und intelligent, studiert die konkreten Wissenschaften — speziell Geologie, ist im Begriffe, nach Wien zu reisen, um dort sechs Monate zu diesem Zwecke zu bleiben, und läßt seine Frau in Heidelberg zurück.“
Dieser Plan wurde indessen nicht sofort realisiert, sondern Woldemar blieb eine Zeitlang mit seiner Frau in Heidelberg. Ihr Leben während dieser Zeit wird von jener Freundin, die ich vorhin zitiert habe und die durch Sonjas Vermittlung von ihren Eltern die Erlaubnis erhalten hatte, mit ihr zusammen an der Universität zu studieren, auf folgende Weise beschrieben:
„Einige Tage nach meiner Ankunft in Heidelberg, im Oktober 1869, kehrte Sonja mit ihrem Manne von England zurück. Sie schien sehr glücklich und sehr zufrieden mit ihrer Reise. Sie war frisch, rosig, einnehmend wie das erste Mal, als ich sie sah, aber in ihren Augen war noch mehr Feuer und Glanz, sie fühlte selbst, wie sich in ihr eine neue Energie, ihre kaum begonnenen Studien fortzusetzen, entwickelte.
Diese ernste Streben hinderte sie indes nicht, an allem möglichen anderen, selbst an den unbedeutendsten Dingen, Vergnügen zu finden. Ich erinnere mich sehr wohl unserer Promenade zu zweien, den Tag nach ihrer Ankunft. Wie machten einen weiten Streifzug durch Heidelbergs Umgebungen, und als wie auf einem ebenen Weg kamen, da begannen wir zwei junge Frauen um die Wette zu laufen wie Kinder.
Mein Gott, mit welcher Frische schweben mir diese Erinnerungen aus der ersten Zeit unseres Universitätslebens vor! Sonja schien mir damals so glücklich, und glücklich auf eine so vornehme Art; und trotzdem, wenn sie später von ihrer Jugend sprach, geschah dies mit einem bitteren Gram, als ob sie sie ganz nutzlos vergeudet hätte.
Ich dachte da immer an diese ersten Monate in Heidelberg, ich gedachte unserer enthusiastischen Diskussionen über alle möglichen Gegenstände, ihres so poetischen Verhältnisses zu ihrem jungen Gatten, der sie mit einer ganz und gar idealen Liebe, ohne irgend welche sinnlichen Regungen, liebte. Sie schien ihm gleicherweise zu lieben, beide waren noch der niedrigen Leidenschaft unkundig, die man so oft mit dem Namen Liebe zu benennen pflegt. Wenn ich alles dessen gedenke, so scheint es mir, daß Sonja keine Ursache hatte, sich zu beklagen, ihre Jugendzeit war wirklich von den edelsten Gefühlen und Bestrebungen erfüllt, und an ihrer Seite lebt ein Mann, der sie mit beherrschter, unterdrückter Leidenschaft zärtlich liebte. Das war die einzige Zeit, in welcher ich Sonja glücklich gesehen habe. Ein wenig später, ja schon das Jahr darauf, war es nicht mehr so.
Gleich nach unserer Ankunft begannen die Vorlesungen. Tagsüber waren wir alle drei auf der Universität, auch die Abende waren von Studien in Anspruch genommen. Unter der Woche hatten wir fast nie Zeit, Spaziergänge zu machen, nur an den Sonntagen machten wir jederzeit weite Ausflüge in Heidelbergs Umgebung; zuweilen fuhren wir nach Mannheim, um das Theater zu besuchen. Wir hatten sehr wenig Bekannte und besuchten nur ausnahmsweise jemand von den Familien der Professoren.
Sonja lenkte von Anfang an durch ihre ungewöhnliche Begabung für Mathematik die Aufmerksamkeit ihrer Lehrer auf sich.
Professor Königsberger, der beühmte Physiker Kirchhoff, bei welchem sie einen Kursus praktische Physik hörte, alle sprachen von ihr als etwas ganz Außerordentlichem. Ihr Ruf verbreitete sich in der kleinen Stadt so weit, daß die Leute auf der Gasse stehen blieben, um die merkwürdige Russin zu sehen. Einmal kam sie nach Hause und erzählte mir lachend, wie ein einfaches Weib mit einem Kind an der Hand stehen geblieben sei, sie angesehen und in deutscher Sprache laut zum Kinde gesagt habe: ,Sieh, sieh, das ist das Mädchen, was so fleißig in die Schule geht.' Zurückgezogen, schüchtern, beinahe verlegen in ihrem Benehmen gegen Lehrer und Kollegen, betrat Sonja den Hörsaal nie anders als mit niedergeschlagenen oder ruhig vor sin hinblickenden Augen. Sie sprach mit ihren Kameraden nur das Unvermeidlichste während der Übungen im Seminar. Dieses Wesen gefiel den deutschen Professoren sehr gut, denn diese schätzen bei einem Weibe immer die Bescheidenheit, besonders bei einer so einnehmenden jungen Frau, die eine so abstrakte Wissenschaft, wie die Mathematik studiert. Und diese Bescheidenheit war keineswegs affektiert, sondern im damaligen Zeitabschnitt ihres Lebens bei Sonja vollkommen natürlich. Ich erinnere mich, wie sie einmal nach Hause kam und erzählte, daß sie in einer Demonstration, die einer von den Hörern oder Professoren auf der Tafel während der Vorlesung entwickelte, einen Fehler entdeckte. Der Vortragende kam immer mehr in Verwirrung und konnte den Fehler nicht herausfinden. Sonja erzählte, wie ihr Herz klopfte, als sie sich endlich entschloß, aufzustehen und an die Tafel zu treten, um zu zeigen, wo der Fehler steckte.
Aber unser Leben zu dreien, welches so glücklich und so ausgefüllt war, da sich Herr Kovalevsky für alle Fragen, auch außer den wissenschaftlichen, so lebhaft interessierte, sollte nicht lange währen. Schon zu Anfang des Winters kamen Sonjas Schwester und ihre Freundin Ines an, beide mehrere Jahre älter als wir. Da wir sehr beschränkt wohnten, entschloß sich Kovalevsky, in eine andere Wohnung zu übersiedeln, um jenen sein Zimmer zu überlassen. Sonja besuchte ihn oft und brachte zuweilen ganze Tage bei ihm zu, auch machten sie öfters allein Spaziergänge ohne uns. Es konnte ihnen natürlicherweise nicht angenehm sein, stets so viele Damen um sich zu haben, zumal die beiden Neuangekommenen nicht besonders liebenswürdig gegen Kovalevsky waren. Sie hatten ihre eigenen Ideen und meinten, nachdem die Ehe jedenfalls nur eine Fiktion sei, dürfe Kovalevsky nicht trachten, ihrem Verhältnisse einen mehr vertraulichen Charakter aufzudrängen. Diese Einmischung von ihrer Seite verursachte verschiedene kleine Unbehaglichkeiten und störte das gute Verhältnis, das bisher in unserem kleinen Kreise geherrscht hatte.
Nachdem man ein Semester auf diese Weise zugebracht hatte, beschloß auch Kovalevsky, Heidelberg, wo er sich nicht länger wohl fühlte, zu verlassen, und begab sich zuerst nach Jena, später nach München. Hier lebte er ausschließlich seinen Studien. Er war reich begabt, überaus fleißig und anspruchslos in seinen Gewohnheiten, ohne jegliches Bedürfnis nach Zerstreuung. Sonja sagte oft, er brauche nichts weiter als ein Buch und ein Glas Tee, um sich vollkommen befriedigt zu fühlen. Indes lag gerade hierin etwas für Sonja Verletzendes. Sie begann auf seine Studien eifersüchtig zu werden, da sie gewahrte, daß diese ihm ihre Gesellschaft zu ersetzen schienen. Wir reisten mehrmals mit ihr und besuchten ihn, und zeitweilig machten sie beide zusammen Reisen, woran Sonja jederzeit großen Gefallen fand. Aber sie konnte sich nicht darein finden, im übrigen von ihm getrennt zu leben, und begann ihn jetzt mit fortwährenden Anforderungen zu bestürmen. Sie könne nicht allein reisen, sondern er solle kommen, sie holen und sie begleiten, wohin sie wolle; während er am meisten von seinen Studien in Anspruch genommen war, sollte er für sie Kommissionen besorgen und ihr alle diese kleinen Dienste erweisen, die er bisher stets aus eigenem Antriebe und auf eine so liebenswürdige Art übernommen hatte, die ihn aber jetzt zu stören schienen, seitdem er so ganz von seiner Wissenschaft absorbiert wurde.“
Als Sonja in späteren Jahren mit mir über ihr vergangenes Leben sprach, war ihre bitterste Klage immer diese: „Niemand hat mich jemals wirklich geliebt.“ — Und wenn ich einwendete: Aber dein Mann liebte dich ja so sehr,“ sagte sie immer: „Er liebte mich nur, wenn er bei mir war, aber er konnte sich so ausgezeichnet darin finden, getrennt von mir zu leben.“
Die Erklärung dafür, daß er zu jener Zeit und wie die Verhältnisse damals waren, es vorzog, nicht beständig in ihrer Nähe zu leben, scheint mir doch ziemlich einfach. Aber Sonja betrachtete dies nicht so, sie hatte immer, von ihrer Kindheit bis zu ihren letzten Lebensjahren, eine eigentümliche Vorliebe für ungewöhnliche und zugespitzte Verhältnisse. Sie wollte besitzen, ohne sich besitzen zu lassen. Ich glaube, hierin steckt ein großer Teil der Tragödie ihres ganzen Lebens.
Ich werde mir erlauben, noch einige Aufzeichnungen ihrer Freundin und Studienkameradin aus jener Zeit zu zitieren, welche beweisen, wie schon während des frühesten Juggendjahre die Eigentümlichkeiten ihres Charakters entwickelt waren, welche den tiefsten Grund all ihrer Seelenkämpfe und Leiden bildeten, die später an ihrem ganzen Leben nagten.
„Sie war außerordentlich energisch. Wenn sie sich einmal ein Ziel gesteckt hatte, konnte sie nichts abhalten, demselben in jeder möglichen Weise zuzustreben, und sie erreichte dadurch jederzeit, was sie wollte, ausgenommen, wenn es sich um Gefühle handelte, wobei sie, eigentümlich genug, ihr scharfes Urteil gänzlich verlor. Sie forderte stets zu viel von denen, die sie liebten und die sie selbst liebte, und sie hatte eine Art, gleichsam mit Gewalt das erzwingen zu wollen, was man ihr so gerne freiwillig gegeben, wenn sie es nicht so leidenschaftlich gefordert hätte. Sie hatte immer ein grenzenloses Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Vertraulichkeit, sie bedurfte jemand, der beständig an ihrer Seite war, der alles mit ihr teilte; aber sie machte doch allzeit dem das Leben schwer, der solcherweise mit ihr lebte. Auch war sie selbst viel zu unruhig und unharmonisch in ihrem Wesen, um sich lange mit diesem innigen Zusammenleben begnügen zu können, das sie doch jederzeit begehrte. Und sie war viel zu subjektiv, um auf die Individualität des anderen genügend Rücksicht zu nehmen. Kovalevsky seinerseits war auch eine äußerst unruhige Natur, immer voll neuer Pläne und Ideen; Gott weiß, ob diese zwei Menschen, beide in so seltenem Grade begabt, jemals unter irgend welchen Verhältnissen für längere Zeit wirklich glücklich hätten zusammen leben können!“
Sonja blieb zwei Semester, bis Herbst 1870, in Heidelberg und begab sich dann nach Berlin, um unter Leitung Professor Weierstraß' ihre Studien fortzusetzen. Ihr Mann hatte sich inzwischen in Jena den Doktorgrad erworben, auf Grund einer Abhandlung, die große Aufmerksamkeit erweckte und ihm bereits einen Namen als selbständigen und bedeutenden Forscher verschaffte.
Letzte Änderung: Mai 2014 Gabriele Dörflinger Kontakt
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