Brief von S.V. Kovalevskaja an Ju.V. Lermontova
Heidelberg 1869

S. 37-40 aus
Walther, Nicola:
S.V. Kovalevskaja und V.O. Kovalevskij in Heidelberg (1869-1870). — Heidelberg, 1993. —128, xlvii S.


S.V. Kovalevskaja an Ju.V. Lermontova

Heidelberg, 28. April 1869  

Liebe Julija,

ich komme gerade aus der ersten Vorlesung in Heidelberg zurück, Sie sind sicher schon ungeduldig geworden, weil Sie so lange keinen Brief von mir bekommen haben, aber ich konnte Ihnen nicht früher schreiben. Mein Schicksal hat sich erst gestern entschieden.

Von Petersburg aus sind wir erst noch nach Wien gefahren, wo ich mich sofort an den Physikprofessor Lange wandte und ihn bat, mir den Besuch seiner Vorlesungen zu erlauben. Er hat mir recht gerne seine Zustimmung erteilt, und andere Professoren würden wahrscheinlich das Gleiche tun, aber ungeachtet dessen konnte ich mich doch nicht dazu entscheiden, in Wien zu bleiben, weil das in vieler Hinsicht ungünstig für mich wäre: erstens ist die Mathematik dort sehr schlecht, zweitens ist das Leben sehr teuer. Deshalb wollte ich, bevor ich mich für Wien entscheide, mein Glück in Heidelberg versuchen, das mir schon immer das gelobte Land all meiner Träume zu sein schien.

Meine Schwester und ich sind alleine nach Heidelberg gefahren, Vladimir ist in Wien geblieben, wohin ich ja, falls ich in Heidelberg keinen Erfolg gehabt hätte, auch hätte zurückkehren müssen. Am ersten Tag bin ich fast verzweifelt, so schlecht stand es mit meinen Angelegenheiten. Professor Friedreich, mit dem ich flüchtig bekannt war, befand sich gerade nicht in Heidelberg. Ich bin dann zu dem Physiker Kirchhoff gegangen. Das ist ein kleiner alter Herr, der an Krücken geht. Er war über den so ungewöhnlichen Wunsch einer Frau erstaunt und erklärte, daß es keineswegs von ihm abhänge, mich zuzulassen, und daß ich den Prorektor Kopp um Erlaubnis fragen müsse.

Inzwischen war Professor Friedreich von seiner Reise zurückgekehrt, worüber ich sehr froh war. Er hatte Verständnis für meine Bitte und gab mir eine Empfehlung an den Prorektor mit. Der wiederum erklärte seinerseits, daß er es nicht auf sich nehme, eine so unerhörte Erlaubnis zu geben, daß er es aber der Entscheidung der einzelnen Professoren überlasse.

Darauf ging ich nochmals zu Kirchhoff, der mir sagte, daß er seinerseits mich gerne unter seinen Hörern habe, daß man aber noch einmal mit dem Prorektor sprechen müsse. Sie können sich vorstellen, wie quälend solche Verzögerungen und halbe Antworten sind. Am darauffolgenden Tag erklärte mir Kopp den neuen Beschluß, daß er meine Angelegenheit einer speziellen Kommission vorlege. Ich mußte also wieder die Hände in den Schoß legen und warten.

Unterdessen erfuhr ich, daß eine Dame, mit der ich selbst nie gesprochen hatte, dem Professor erzählt hatte, daß ich verwitwet sei. Er war natürlich über diesen Widerspruch zu meinen eigenen Erklärungen erstaunt. Es war notwendig, Vladimir Onufrievič, der gerade in Heidelberg angekommen war, zu ihm zu schicken, um die Herren davon zu überzeugen, daß ich wirklich einen Mann habe, worauf sie großen Wert zu legen schienen. Die Kommission beschloß dann endlich, mich zum Hören einiger Vorlesungen der Mathematik und Physik zuzulassen. Das war alles, was ich brauchte, und so habe ich heute mit dem Unterricht begonnen.

Ich habe jetzt 18 Vorlesungen in der Woche, und dies reicht auch vollkommen, da ich meistens dennoch zu Hause arbeite. Es ist nur ärgerlich, daß mir die Erlaubnis bloß als Ausnahme gegeben wurde, so daß man im Herbst, wenn Sie hierher kommen, dieselbe Geschichte nochmals beginnen muß; aber natürlich wird es beim zweiten Mal schon einfacher sein als beim ersten Mal.

Ich kann mir vorstellen, mit welcher Ungeduld Sie den Herbst erwarten, liebe Julija. Hoffen wir nur, daß es sich Ihre Eltern nicht wieder anders überlegen werden. Aber ich glaube wirklich, daß sie jetzt nur noch schwerlich ihr Wort werden brechen können. Schreiben Sie mir bald und beschreiben Sie ganz genau, womit Sie sich gerade beschäftigen. Aufgrund meiner bitteren Erfahrungen rate ich Ihnen, der deutschen Sprache etwas mehr Zeit zu widmen. Ich leide jetzt darunter, daß ich nicht gut genug deutsch spreche: Zwar fallt es mir sehr leicht, Vorlesungen zu hören, die deutsche Wissenschaftssprache kenne ich ja gut, aber wenn ich in die Verlegenheit komme, mich mit den Professoren unterhalten zu müssen, fühle ich mich doch immer sehr beklommen.

2. Mai  

Ich habe diesen Brief schon vor einigen Tagen zu schreiben begonnen, habe es aber nicht geschafft, ihn noch am gleichen Tag abzuschicken, und dann fand ich nicht die Zeit, ihn zu beenden. Ich gehe zu den Vorlesungen und bin sehr beschäftigt, die Studenten verhalten sich einwandfrei und machen überhaupt nicht den Eindruck, als ob sie die Anwesenheit einer Frau verwundern würde. Heidelberg selbst ist ein so entzückender Ort, daß ich am liebsten für immer hier bleiben würde.

Auch ich warte ungeduldig auf den Herbst. Wie schön wir es hier haben werden! Sie werden hier sehr gut arbeiten können, Physiologie werden Sie bei Helmholtz hören und Chemie bei Bunsen. Bei letzterem wird es Ihnen besonders gut gefallen, ich habe gehört, daß er den ganzen Tag mit den Studenten verbringt, die im Labor arbeiten, und erst abends Zeit für seine eigenen Arbeiten findet. Überhaupt scheint Bunsen, nach allem, was ich über ihn gehört habe, ein ganz außergewöhnlicher Mensch zu sein.

Leben Sie wohl. Ich umarme Sie ganz fest und erwarte Sie ungeduldig. Versichern Sie Ihrer Familie meine Hochachtung. Ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß meine Schwester gerade bei mir in Heidelberg ist, aber morgen fährt sie nach Paris, wo sie wahrscheinlich bis Anfang Juli bleiben wird.

Ihre Sof'ja Kovalevskaja.


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