Bericht von J. Lermontova über die Heidelberger Zeit mit S. Kovalevskaja

S. 80-88 aus
Walther, Nicola:
S.V. Kovalevskaja und V.O. Kovalevskij in Heidelberg (1869-1870). — Heidelberg, 1993. —128, xlvii S.


Erinnerungen Ju.V. Lermontovas an S.V. Kovalevskaja und die gemeinsame Studienzeit in Heidelberg (41)

Im Frühling des Jahres 1869 verließen Kovalevskaja und ihr Mann Vladimir Qnufrievič Kovalevskij Petersburg, um in Heidelberg zu studieren. Im Herbst des gleichen Jahres: machte auch ich mich auf den Weg dorthin. Nach großem; Hin und Her wurden Kovalevskaja und ich zwar nicht offiziell zum Studium an der Universität zugelassen, aber wir erhielten die Erlaubnis, alle Vorlesungen zu besuchen, die wir wollten, gleichberechtigt mit den Studenten der Universität.

Ich hörte Vorlesungen bei den Professoren Bunsen, Kirchhoff und Kopp. Im ersten Semester beschäftigte ich mich mit qualitativer Analyse in einem Privatlabor, und erst im zweiten Semester wurde ich in Bunsens Labor zugelassen, wo ich ein ganzes Jahr mit praktischen Übungen verbrachte: mit qualitativen Reaktionen nach der Methode von Bunsen, der quantitativen Analyse von verschiedenen Erzen und der Trennung von seltenen Metallen und Platinbegleitmetallen nach einer speziellen Methode^ von Bunsen.

Ich wohnte in Heidelberg mit Sof'ja Kovalevskaja zusammen. Bei unserer ersten Begegnung in Petersburg sahen wir uns nur sehr kurz, aber in Heidelberg entstand während des gemeinsamen Lebens eine feste Freundschaft. Durch ihre hervorragenden Fähigkeiten, die Liebe zur Mathematik, die außergewöhnlich sympathische äußere Erscheinung und ihre große Bescheidenheit weckte sie die Zuneigung aller, die sie kennenlernten. Es war geradezu etwas Bezauberndes an ihr. Alle Professoren, bei denen sie studierte, waren begeistert von ihren Fähigkeiten, und zudem war sie auch noch sehr fleißig, konnte stundenlang ohne aufzustehen am Schreibtisch sitzen und sich mit mathematischen Berechnungen beschäftigen. Seelische Tiefe und eine komplexe Psyche ergänzten ihren moralischen Charakter, in einer Weise, wie ich es später bei niemandem mehr vorgefunden habe. Anfangs lebte mit uns auch der Mann Sofja Vasil'evnas — Vladimir Onufrievič Kovalevskij — aber er zog bald nach München, um dort Geologie zu studieren.

Vladimir Onufrievič war gleichfalls eine sehr interessante und hervorragende Persönlichkeit. Unser gemeinsames Leben war ein echtes Vergnügen: Tagsüber hörten wir Vorlesungen und arbeiteten im Labor, abends und an Feiertagen unternahmen wir lange Spaziergänge durch die zauberhafte Umgebung Heidelbergs.

Im Herbst 1870(42) stieß Anna Michajlovna Evreinova zu uns, die aus Petersburg von ihren Eltern weggelaufen war und ohne Paß und zu Fuß die Grenze überquert hatte, unter dem Feuer der Grenzwachen. Sie fand bei uns Zuflucht und lebte einige Zeit mit uns, dann fuhr sie nach Leipzig, um dort Rechtswissenschaft zu studieren. Stark und lebhaft, wie sie war, machte sie unser etwas zurückgezogenes Leben interessanter.(...)

Ich studierte zwei Jahre lang in Heidelberg, aber im Herbst des Jahres 1871(43) verließen Sof'ja und ich diesen entzückenden Ort und zogen nach Berlin.(...)

Von all jenen der Politik verschriebenen und vom Leben mehr oder weniger gezeichneten Frauen und Mädchen hob sich Sof'ja Vasil'evna durch ihr kindliches Äußeres ab, was ihr den Kosenamen "Vorobyška" (Spätzchen) eintrug. Sie war zwar schon 18, sah aber viel jünger aus. Von kleinern Wuchs, mager, das Gesicht aber ziemlich rund und die dunkelbraunen Locken kurz geschnitten, mit einem vielsagenden und lebendigen Gesichtsausdruck und mit Augen, deren Ausstrahlung sich ständig veränderte, einmal strahlend und funkelnd, einmal tief verträumt, stellte sie eine originelle Mischung aus kindlicher Naivität und tiefer gedanklicher Kraft dar.

Mit dem natürlichen Liebreiz, der sie in dieser Phase ihres Lebens auszeichnete, gewann sie die Herzen aller für sich; sowohl Alte als auch Junge, Männer genauso wie Frauen waren begeistert von ihr. In ihrer natürlichen Art, frei von jeder Koketterie, schien sie gar nicht zu bemerken, welche Bewunderung ihr entgegengebracht wurde. Sie achtete nicht im geringsten auf ihr Äußeres, ihre Toilette war außerordentlich schlicht, mit einem Hang zur Unordentlichkeit, den sie sich das ganze Leben nicht abgewöhnte...

Einige Tage nach meiner Ankunft in Heidelberg kam auch Sofa mit ihrem Mann aus England zurück. Sie schien sehr glücklich zu sein und äußerst zufrieden mit ihrer Reise. Sie war noch genauso frisch, rosig und anziehend wie bei unserer ersten Begegnung, nur daß jetzt mehr Feuer und Glanz in ihren Augen war. Mit noch größerer Energie als früher setzte sie ihr gerade erst begonnenes wissenschaftliches Studium fort, doch dieses ernsthafte Streben nach Wissen hinderte sie nicht daran, Spaß an allen möglichen anderen Dingen zu haben, sogar an den, wie es schien, belanglosesten Kleinigkeiten.

Ich erinnere mich noch an unseren Spaziergang zu dritt am Tag nach ihrer Rückkehr. Wir gingen in der Umgebung von Heidelberg spazieren und waren schon recht weit gekommen, als Sofa und ich auf einem geraden Stück Weg anfingen, um die Wette zu laufen — wie zwei kleine Kinder. Mein Gott, wie fröhlich und ausgelassen sind diese Erinnerungen an die erste Zeit unseres Studentenlebens!

Sofa schien mir damals sehr glücklich zu sein und zwar glücklich auf eine ganz neue Art und Weise.

Trotzdem sprach sie später, wenn die Rede auf ihre Jugend kam, davon mit einem bitteren Gefühl der Unzufriedenheit, als ob sie der Meinung wäre, ihre Jugend wäre unbemerkt an ihr vorübergegangen. Ich mußte dann immer an diese ersten Monate in Heidelberg denken, an unsere begeisterten Diskussionen über die verschiedensten Themen und an ihre poetische Beziehung zu ihrem jungen Mann, den zu jener Zeit eine ganz ideelle Liebe mit ihr verband, ohne jede Spur von Sinnlichkeit. Sie liebte ihn, so schien es, mit der gleichen Zärtlichkeit. Ihnen beiden war offensichtlich jene krankhafte und niedrige Leidenschaft, die man gewöhnlich als Liebe bezeichnet, noch fremd.

Wenn ich mich an all das erinnere, kommt es mir so vor, als ob Sofa keinen Grund hätte, sich zu beklagen. Ihre Jugend war voll von überaus edlen Gefühlen und Bestrebungen, und an ihrer Seite war ein Mensch, der sie zärtlich und mit zurückhaltender Leidenschaft liebte. Aber nur in jenem Jahr erscheint mir Sofa in meiner Erinnerung glücklich. Etwas später, ja schon im Jahr darauf, war alles anders.

Die Vorlesungen begannen gleich nach unserer Ankunft. Tagsüber waren wir immer an der Universität, und sogar die Abende widmeten wir unseren Studien. Aber sonntags machten wir dann immer große Spaziergänge in der Umgebung von Heidelberg, und manchmal fuhren wir nach Mannheim, um ins Theater zu gehen. Bekannte hatten wir sehr wenige, und einigen Professorenfamilien statteten wir auch nur in sehr seltenen Fällen Besuche ab.

Sofa zog durch ihre außergewöhnlichen mathematischen Fähigkeiten sofort die Aufmerksamkeit der Dozenten auf sich. Professor Königsberger und der berühmte Chemiker Kirchhoff, bei dem sie einen ganzen Kurs in angewandter Physik belegte, sowie alle übrigen Professoren waren begeistert von ihrer begabten Hörerin und erzählten von ihr wie von etwas ganz Besonderem. Gerüchte über die erstaunliche Studentin kursierten in der ganzen kleinen Stadt, so daß Leute oft auf der Straße stehenblieben, um sie zu betrachten.

Einmal, als sie nach Hause kam, erzählte sie mir lachend, wie eine ärmlich gekleidete Frau mit einem Kind auf dem Arm stehenblieb, als sie sie sah, und laut zu ihrem Kleinen sagte: "Schau nur, das ist das Mädchen, das so fleißig zur Schule geht."

Sofa hielt sich immer fern von ihren Professoren und Kommilitonen, im Umgang mit ihnen trat immer ihre große Schüchternheit, ja sogar Verlegenheit zutage. In die Universität ging sie immer mit gesenktem Blick, ohne zu erlauben, daß irgend etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie sprach mit ihren Kommilitonen nur, wenn es für ihr Studium unbedingt notwendig war. Diese bescheidene Haltung gefiel ihren deutschen Professoren sehr, die Bescheidenheit bei Frauen sowieso sehr schätzten und erst recht bei einer so hervorragenden wie Sofa, die sich auch noch mit einer so abstrakten Wissenschaft wie der Mathematik beschäftigte.

Und diese Bescheidenheit war in jener Phase von Sofas Leben überhaupt nicht gekünstelt. Ich erinnere mich noch, wie sie einmal von der Universität nach Hause kam und mir erzählte, daß ihr während der Vorlesung ein Fehler ins Auge gesprungen war, den ein Professor oder ein Student bei den Berechnungen an der Tafel gemacht hatte. Der Arme quälte sich mit seiner Aufgabe und konnte einfach nicht verstehen, wo der Fehler steckte. Sofa war lange unschlüssig, stand dann aber endlich mit stark klopfendem Herzen auf, ging zur Tafel und klärte das Mißverständnis.

Aber unser Leben zu dritt, so glücklich und reich, wie es dank Kovalevskij war, der sich lebhaft für alle möglichen Fragen interessierte, sogar für völlig unwissenschaftliche, ging bald zu Ende. Schon zu Winteranfang kamen Sofas Schwester und ihre Freundin Inna(44) zu uns, beide waren um einiges älter als wir. Da sich unsere Wohnung als zu eng für weitere Bewohner erwies, zog Kovalevskij in eine andere Wohnung um und überließ den Neuankömmlingen sein Zimmer.

Sofa besuchte ihn oft und verbrachte ganze Tage bei ihm, manchmal unternahmen sie ohne uns zu zweit ausgedehnte Spaziergänge. Die Gesellschaft so vieler Damen war den beiden natürlich nicht immer angenehm, um so weniger, als Anna und ihre Freundin Kovalevskij gegenüber oft unfreundlich waren. Sie hatten ihre Gründe dafür, denn sie fanden, daß es Kovalevskij nicht zustände, seiner Beziehung zu Sofa einen allzu intimen Charakter zu geben, da ihre Ehe nun einmal eine fiktive war. Diese Einmischung von Außenstehenden in das Leben des jungen Paares führte öfters zu kleinen Reibereien und verdarb schnell das gute Klima, das in unserem kleinen Kreis geherrscht hatte.

Nachdem Kovalevskij ein ganzes Semester unter diesen Bedingungen verbracht hatte, beschloß er, Heidelberg, wo das Leben es mit ihm nicht mehr so gut meinte wie früher, zu verlassen. Er ging nach Jena und später nach München und gab sich ganz seiner wissenschaftlichen Tätigkeit hin. Er war ein sehr talentierter, arbeitsamer Mensch, der völlig anspruchslos war in seinen Gewohnheiten und nie das Bedürfnis hatte, sich zu vergnügen. Sofa sagte oft, ihm würde ein Buch in seiner Nähe und eine Tasse Tee genügen, um vollkommen zufrieden zu sein.

In dieser Besonderheit seines Charakters lag aber nichts, wodurch sich Sofa hätte gekränkt fühlen müssen. Sie begann eifersüchtig auf sein Studium zu werden, da ihr schien, daß es für ihn ein gleichwertiger Ersatz für sie sei und sie ihm dadurch weniger wichtig werde. Wir fuhren einige Male auf Besuch zu ihm, und in den Semesterferien gingen die beiden zu zweit auf Reisen, was Sofa viel Freude bereitete.

Aber sie konnte sich einfach nicht damit abfinden, getrennt von ihrem Mann zu leben, und begann, ihn mit unaufhörlichen Forderungen zu belästigen. So behauptete sie, sie könnte nicht alleine ohne ihn verreisen, und bat ihn, sie überall dahin zu begleiten, wohin sie fahren wollte, ohne Rücksicht darauf, daß er sich in einem sehr wichtigen Abschnitt seines Studiums befand. Oder sie zwang ihn, ihr die verschiedensten Dienste zu erweisen und ihr bei allen möglichen Kleinigkeiten zu helfen, was er immer gerne und überaus freundlich tat, wodurch er aber jetzt, da er so intensiv studierte, sehr in Bedrängnis geriet.

Wenn sich Sofa viele Jahre später mit mir über ihre Vergangenheit unterhielt, brachte sie voller Bitterkeit immer folgende Klage zum Ausdruck: "Niemand hat mich jemals wirklich geliebt." Wenn ich ihr daraufhin antwortete: "Aber Dein Mann liebte Dich doch so innig!", antwortete sie stets: "Er liebte mich nur dann, wenn ich bei ihm war, aber er kam auch hervorragend ohne mich aus."

Mißerfolg konnte sie nicht ertragen. Wenn sie sich etwas vorgenommen hatte, versuchte sie mit allen Kräften, ihr Ziel zu erreichen, und setzte dafür alle ihr zu Verfügung stehenden Mittel ein. Deshalb erreichte sie immer alles, was sie wollte, mit Ausnahme der Fälle, bei denen Gefühl ins Spiel kam, denn dann verlor sie merkwürdigerweise völlig den ihr sonst eigenen Scharfblick und das klare Denkvermögen. Sie verlangte immer zuviel von dem, der sie liebte und den auch sie liebte, und wollte immer mit Gewalt das, was ihr der sie liebende Mensch auch gerne von selbst gegeben hätte, wenn sie nicht so besitzergreifend und mit so schrecklicher Beharrlichkeit darauf bestanden hätte.

Sie verspürte immer ein unstillbares Verlangen nach Zärtlichkeit und Herzlichkeit, hatte ständig das Bedürfnis, jemanden neben sich zu haben, der bereit war, alles mit ihr zu teilen. Gleichzeitig aber machte sie demjenigen, der sich auf eine solche Nähe mit ihr einließ, das Leben unmöglich. Sie war selbst von zu unstetem Gemüt und zu disharmonisch in ihrem Wesen, als daß sie langfristig Befriedigung in jenem stillen, von Liebe und Zärtlichkeit erfüllten Leben hätte finden können, das sie sich so leidenschaftlich ersehnte. Außerdem hatte sie einen zu eigenwilligen Charakter, als daß sie die Wünsche und Neigungen der mit ihr lebenden Person ausreichend hätte berücksichtigen können. Auch Kovalevskij war von schrecklich unstetem Charakter, er hatte ständig neue Ideen und Pläne. Gott weiß, ob diese zwei Menschen, beide so reich begabt, unter diesen Voraussetzungen wirklich glücklich hätten zusammen leben können. Unser Leben in Berlin war noch zurückgezogener und eintöniger als in Heidelberg.(...) Wir lebten in einer schlechten Wohnung, bei schlechter Ernährung und schlechter Luft, ständiger äußerst ermüdender Arbeit und ohne jede Abwechslung, so daß unser Leben in Berlin im ganzen so freudlos war, daß wir uns an unsere erste Zeit in Heidelberg wie an das verlorene Paradies erinnerten.(...)

Anmerkungen:

(41)   Teile dieser Erinnerungen erschienen auf deutsch schon in A.Ch. Lefflers Biographie "Sonja Kowalewsky — Was ich mit ihr zusammen erlebt habe und was sie mir von sich erzählt hat" (Halle 1896, S.15-18). Aus Stilgründen zog ich es aber vor, die in Štrajch: 195l, S.375-387 im Original erschienenen 'Vospominanija o Sof'e Kovalevskoj' neu zu übersetzen.

(42)   Ju.V. Lermontova irrt sich bei den Zeitangaben in ihren Erinnerungen. Im Herbst 1870 studierten S.V. und sie schon in Berlin, die Heidelberger Zeit war lange vorbei. Es müßte hier also heißen: "Im Herbst 1869..."

(43)   Auch hier irrt sich Ju.V. Lermontova bei der Zeitangabe. Da S.V. schon im Herbst 1870 nach Berlin zog, verbrachten die beiden insgesamt also nur ein Jahr gemeinsam in Heidelberg.

(44)   Da Teile dieser Erinnerungen Lermontovas noch zu Lebzeiten A.M. Evreinovas in A.Ch. Lefflers Biographie veröffentlicht wurden, gab man Žanna im Buch den Namen 'Inna' , (Štrajch:1951, S.530)


Letzte Änderung: Juni 2018     Gabriele Dörflinger   Kontakt

Zur Inhaltsübersicht     Historia Mathematica     Homo Heidelbergensis