Anna von Helmholtz: Der Tod Robert von Helmholtz

Ich halte ihn ja so warm noch im Arm — ich fühle sein Herz schlagen. „Er lebt“ — „nein, es sind Ihre Pulse — er ist tot.“
Anna von Helmholtz schildert den Tod ihres Sohnes Robert am 5. August 1889.


Marchstraße, 1. August 1889.          

Lieber und verehrter Freund!

Wir sind seit Ende Juni in wachsender Sorge um Robert, der in einem steigend elenden Zustand von Erschöpfung und absoluter Ernährungsunfähigkeit ist. Zuerst mußte er das Arbeiten, dann das Gehen, dann das Liegen auf unserer Terrasse aufgeben. Nun liegt er fest zu Bett in stetem Kampf zwischen Schwächeanfällen. Fieber ist nicht, irgend eine nachweisbare örtliche Störungsursache auch nicht — aber das subjektive Befinden ist namenlos elend, wie noch nie. Die Ärzte experimentieren ohne jeglichen Erfolg und ich weiß nicht mehr, woher ich Mut und Kraft nehmen soll für diesen aussichtslosen Zustand. Wir sitzen ratlos und wissen nicht mehr, wo uns der Kopf steht.

Viele herzliche Grüße an ihre Frau.

Ihre

Anna Helmholtz.          




2. August 1889.          

Jetzt reisen alle Ärzte ab, liebe Ida. Ellen ist gestern aufgestanden und herüber gefahren worden, worauf einige Aufhellung der Stimmung, aber nicht dauernd, nachts sehr unruhig.



4. August.          

Unser armer Robert liegt hülflos und schlaflos. Ellen sitzt bei ihm, löst mich ab. Ich bin ganz mutlos, Hermann so deprimiert, weil Alles so rätselhaft; Robert ist immer eiskalt. Es ist herzzerreißend, seine großen guten Augen so Hilfe suchend auf sich gerichtet zu sehen. Ich kann ja auch nicht helfen — für heute Nacht habe ich mir eine Victoria-Schwester bestellt — ich muß einmal wieder schlafen.

Anna.          




In den Abendstunden des 5. August 1889 war das Leben des geliebten Sohnes erloschen.




Marchstraße, 7. August 1889, morgens 6 Uhr.          

Liebe Mama und liebe Ida!

Ich will versuchen Euch zu schreiben, hier an unseres lieben Kindes Schreibtisch neben seinem Bett, auf dem er so friedlich jetzt schläft. Nun kann er schlafen, immer, immer. Ruhelos wie er war in den letzten Tagen, irre ich umher — ich habe aber eben doch geschlafen, wie auch neulich in seiner Todesstunde. „Nun wollen wir schlafen“, sagte er — „vielleicht gelingt es“ — und nach einer halben Minute sagte er: „nun hast Du eine halbe Stunde geschlafen und ich gar nicht — komme zu mir!“ Ich ging zu ihm, hielt ihm die Hand, da kam wieder ein Anfall von Angst am Herzen — es ging vorüber — als er ruhig war, gehe ich einen Augenblick in mein Schlafzimmer; da kommt die Schwester: „Gnädige Frau, der Herr Doktor ruft.“ Ich stürze zurück, sehe wie er verändert ist und sagt: „Mama ich sehe nichts mehr, ich werde ganz ohnmächtig.“

Ich halte ihn in den Armen, rufe, reibe, lasse Hermann holen, der ihm Luft einbläst — kein Atem kommt, kein Laut, kein Ton — es ist Alles aus. Dr. Renvers steht neben mir. Ich halte ihn ja so warm noch im Arm — ich fühle sein Herz schlagen. „Er lebt“ — „nein, es sind Ihre Pulse — er ist tot.“

Immer lebe ich diese Minuten durch, immer sage ich mir: noch ein Tag, mein Gott, nur noch eine Stunde, daß wir ihm hätten sagen dürfen, was er uns ist, wie wir ihn lieben! aber nun schläft er ja — und das muß für ihn mich trösten. .

Die Morgensonne scheint herein! wie oft haben wir sie begrüßt. Unter Rosen liegt er — alle Rosen aus Wannsee sind an sein Bett gesteckt, seine Freunde Alle haben ihm Rosen gestreut und gebracht — Euer letzter lieber Gruß aus Kärnten liegt auf seinen Füßen. O mein Kind, mein liebes herrliches Kind, mein Held, der nie klagte, nichts verlangte, als daß man bei ihm sei.

Eure Anna.          




13. August 1889.          

Eure lieben Briefe thun uns sehr wohl und wenn es nicht so schwer ginge, würde ich alle Tage schreiben. Du weißt ja wie das ist; es ist in jedem Briefe wieder durchzuleben. Ich finde mechanische Arbeit das Einzige um die verzehrende Unruhe in mir zu dämpfen. Meine Blindheit ist das Einzige, das ich beklage. Auf meine Bitte mir zu sagen, woran Robert eigentlich gestorben ist, sagte mir Fraentzel, er habe eine wirkliche Genesung nicht mehr für möglich gehalten.

Der nie bezwungene fünfundzwanzig Jahre lang nur hingehaltene Feind ward wieder wach, fand den Körper in schlechtem Kräftezustand vor und ward Herr über dieses teure Leben. Es ist mir Bedürfnis den Hergang klar zu wissen. Es gibt mir Frieden zu denken, daß Robert nie mehr so gesund hätte sein können wie zuvor, und daß es seinem Sinne mehr entspricht, ein abgekürztes volles Leben gelebt zu haben innerhalb der Grenzen seines Könnens, als ein Invalidendasein künstlich lang zu fristen. Ich bin so weit, ihm Ruhe und den Schlaf, den ewigen, ach so zu gönnen!

Ich glaube an des Kindes Nähe — an sein Fühlen aller Liebe, die ihm ward und wird und die schier überwältigend ist. Und so lieb der stille Platz mir ist unter den alten Bäumen, die ich vom Fenster an seinem Schreibtisch sehen kann: Er ist dort nicht. Er liegt unter einem hohen Berg von Blumen, ungezählten Kränzen, Palmen, Blüten, Lilienstengeln und einer Rosenfülle wie aus einer anderen Welt. Sie hatten ihren Duft nachts durch das Haus vom Garten her ausgeströmt und weckten mich in der Frühe wie eine Geisterstimme! Alte Bäume, ein langer Weg mit alten eingesunkenen Gräbern, dazwischen unser stilles Grab. Seine Freunde kamen aus weiter Ferne, vom Rhein, von Nord und Ost und Süd, um mit ihm den letzten Gang zu thun! Ich war mit draußen, konnte es gut — es war wie ein Traum. Noch ist mir, als wäre er nur verreist, als müsse er wiederkommen, der Sohn, der Freund und Gefährte von uns Beiden war er geworden. Und nun ist er genommen. Dryander sprach so schön, so einfach und gut, kein falsches Wort, kein Ton der mir nicht wohl gethan hätte. Es thut wohl, wenn ein Pfarrer nicht genau wissen will, warum Gottes Wege just so sind, wie sie sind. Daß Gottes Weisheit doch die beste ist, davon bin ich überzeugt, aber es geht schwer, sich still zu beugen. Der große Schmerz hat uns enger als je vereint und mir ist, als wüßte ich erst jetzt, wie lieb sie mir sind — Hermann und Ellen — und Fritz, der unsere Gesamtaufgabe sein wird.

Für Dich, liebe Mama, lege ich die Gefühle bei, aus hohem Mund und hoher Feder geflossen. Könnte ich mich an etwas freuen, so würde ich es thun, weil unsere Fürstinnen so wundervolle Menschen sind. Die Kaiserin Friedrich ist doch, als wäre sie ein Stück aus unserem Leben und auch die greise Kaiserin Augusta ist so rührend. Soeben kommt noch von der Großherzogin Luise ein lieber schöner Brief.

Ich habe Hermann heute fort gebracht, ihn in seine stillen Berge geschickt. Er braucht Alleinsein, um die Ruhe zu finden und hier ist so Vieles noch zu thun. Ist das geschehen, dann folge ich ihm. Ist es nicht um Gott auf den Knien zu danken, solche Freunde zu haben! Alle alle ahnten und fühlten sie, was Robert war, wie groß sein Sein, wie kindlich gut sein Herz, wie stark sein Geist, wie — harmlos und neidlos seinen schweren Lebensweg zu gehen — für Alle ein Vorbild des Selbstvergessens.

Eure Anna.          




Wannsee, 19. August 1889.          

Mein geliebter Mann!

Ich bin nun hier, Ellen hat mich schließlich geholt. Die unbewußten Kinderseelen sind eine große Labsal in meiner Traurigkeit und ich glaube doch, ich bleibe jetzt am besten hier und zu Hause. Mein Herz zieht mich, nur mit denen zusammen zu sein, die Robert geliebt haben. Mit Dir zusammen zu sein, wäre wohl das Einzige und Beste für mich, aber für Dich bin ich jetzt eine schlechte Gefährtin.

Gott behüte Dich und lasse es Dir gut gehen. Bleibe dort, solange es Dir irgend gut thut.



28. August 1889.          

Möge des theuren Kindes Andenken stets um und über uns sein und uns helfen, uns gegenseitig zu stützen. Wie ich das Leben jemals anders als dunkel sehen soll, weiß ich noch nicht, aber Du wirst mir ja helfen, weiter zu kommen. Bis jetzt ist jeder neue Tag schlimmer als der vorangegangene, aber ich will Dir und mir wünschen, daß wir bald wieder zusammen sein möchten.



31. August 1889.          

Meine Gedanken sind unausgesetzt bei Dir in Wünschen für Dein Wohl, mein geliebter Mann, in Dank für die lange Vergangenheit, die uns verbindet und in Hoffnung, daß Dir kein weiterer Schmerz auferlegt sein möge. Möchte es mir gelingen, abzuschließen mit meinem Theil des Lebens — und in Frieden und Ergebung denen zu leben, die uns geblieben sind. Mir ist ordentlich feierlich dankbar, daß ich Dich habe.

Anna.          



Seite 12 - 15 aus
Helmholtz, Anna von: Anna von Helmholtz : ein Lebensbild in Briefen / hrsg. von Ellen von Siemens-Helmholtz. - Berlin
Band 2 (1929)
Signatur UB Heidelberg: F 6834-3-44::2


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

Zur Inhaltsübersicht     Historia Mathematica     Homo Heidelbergensis