Anna Helmholtz:
Die Erkrankung ihres Sohnes Robert

Briefe 1864

Gründonnerstag 1864.

Seit einigen Tagen habe ich eine ernstliche Sorge wegen Roberts rechtem Knie. Er schleppt das Beinchen auffallend und sinkt immer ein auf die rechte Seite, ich kann an keinem Gelenk etwas finden — zuweilen sagt er: Weh, weh Knie und will dann nicht mehr gehen, aber nur stundenweise; zu anderen Zeiten merkt man garnichts. Ich lasse ihm Knöchel und Knie mit Rum einreiben, denn er ist gar zu wackelnd auf seinem Fußgestell.


Ostersonntag, 28.März 1864.

Mein lieber Mann!

Alles ersteht heute frisch und fröhlich am Osterfest. Wir haben einen animierten Kinderostertag gefeiert mit unendlichen Hasen und Eiern und Buben. Robertchen war selig im Gewimmel. Ich habe ihm seinen Wagen wieder herunterholen lassen, da saß der arme kleine Kerl und spielte so geduldig mit seinen Soldaten — es war mir gar zu jämmerlich — ich hätte nur immer weinen mögen — obwohl ich ja Gott danken sollte, daß es nichts Schlimmeres ist. Er ist gar so lieb und geduldig bei Allem, was mit ihm vorgenommen wird, fast wie ein Erwachsener. Ich mag gar keine anderen Kinder mehr ansehen, es packt mich ein wahrer Neid, wenn ich sie rüstig umherlaufen sehe und das ist doch nicht recht. Ganz das Régime, das er bis jetzt hatte, soll fortgesetzt werden, sagt Friedreich, und in vierzehn Tagen bist Du ja auch wieder da und siehst Dir ihn an. Geistig ist er ganz munter und frisch. Ich nähere mich sacht dem Atavismus infolge der unsäglichen Geduldsdepense, die uns allen auferlegt ist dadurch, daß der arme Robert nicht seine eigenen Beine brauchen soll. Immer und immer zu liegen oder zu sitzen, läßt er sich nicht gefallen; man muß seine Fantasie gewaltig anstrengen, um ihn zu unterhalten. Ich zähle die Stunden, bis Du wiederkommst.


Heidelberg, 29. Mai 1864.

Liebster Onkel!

Heute Nachmittag ist unser armer kleiner Robert in einen Gipsverband eingelegt worden auf zwei Monate, wegen einer Hüftgelenkentzündung, von der er befallen ist. Was ich während meines Mannes Abwesenheit vor Angst ausstand, läßt sich nicht sagen; denn die Doktoren wollten insgesamt nichts an ihm entdecken können. Seit drei Wochen konnte er weder stehen noch gehen. Hermann schrieb die Sache an Professor Busch nach Bonn, dem dortigen Chirurgen, der sich ausschließlich mit dieser Krankheit beschäftigt hat, und dieser erbot sich sofort, selbst nachzusehen. Heute erschien er und streckte das Beinchen gewaltsam, und nun liegt der arme kleine Mensch unbeweglich und halb von Stein in seinem Bettchen, wo er zwei Monate bleiben soll. Busch sagte, es werde noch alles wieder gut werden, aber es werde viel Geduld kosten von Seiten des armen Buben und seiner Umgebung. Mit Gottes Hilfe werden wir auch über das folgende wegkommen. Diese Angst nahm mich so völlig ein, weil mir von jeher diese Krankheit als Schrecknis vorschwebte, so daß ich mich zu keinerlei Tätigkeit ermannen konnte. Hermann grüßt aufs Herzlichste, sowie Deine dankbare

Anna.

Heidelberg, 1. Dezember 1864.

Liebster Onkel!

Schon so lange wollte ich Dir wieder Bericht erstatten, hoffte aber stets durch längeres Warten vielleicht Günstigeres melden zu können. Es scheint aber im besten Falle noch sehr lange zu dauern, ehe ein erträglicher Zustand für den armen Robert zu hoffen ist. Ich habe längst die Hoffnung aufgegeben, ihn je anders als hinkend aus dieser Krankheit hervorgehen zu sehen — aber wenn dem nun so sein soll, so hoffe und flehe ich wenigstens, daß er bald wieder zum Gebrauch seiner Glieder komme, soweit er dieselben überhaupt brauchen wird — damit er doch einmal aus der Krankenatmosphäre heraus in ein frischeres normaleres Kinderdasein kommen möge. Welche Kette von Entsagungen ihm im Leben bevorsteht, ahnt er glücklicherweise nicht, obwohl sie mir gar düster vor Augen stehen. Es wird Sache der Erziehung sein müssen, seinen Charakter vor jeder Bitterkeit zu bewahren und seinen Verstand auf große Interessen zu lenken. Er ist ein gar kluges, geduldiges und liebenswürdiges Kind, das mich stets rührt durch seine ganz unbewußte Ergebung und seine große Munterkeit bei dem einförmigen Dasein, das ja nur durch Wechsel der Beschäftigungen etwas aufgefrischt wird. Verzeih, wenn ich Dir so lange von dem armen kleinen Manne erzähle, natürlich dreht sich unsere ganze Existenz um ihn.

Professor Billroth aus Zürich hat den Buben angesehen und fand die Sache nicht hoffnungslos. Alle Doktoren der Welt können ihm halt nicht auf die Beine helfen, ehe die Natur sich allein hilft.

Um doch nicht Allem abzusterben, habe ich mir vorgenommen, bald wieder hinter eine Übersetzung zu steigen, da gelegentliche hundert Taler denn doch in gegenwärtiger Sachlage sehr gut anzubringen sind. Mein Mann ist sehr fleißig und findet es sehr bequem, alle seine Räumlichkeiten so schön zur Hand zu haben hier im Friedrichsbau. Sonst leben wir schlecht und recht, mehr musikalisch als Dir angenehm wäre, und ich habe uns alle vierzehn Tage einen Musikabend eingerichtet von befreundeten Künstlern und Dilettanten; das Ganze darf nicht über fünf Taler kosten und stimmt viele Seelen dankbar, ist also eine profitable Auslage des irdischen Mammons.

Verzeih den langweiligen Brief, lieber Onkel,

Deiner dankbaren Anna.

S. 112-113 und 123-125 aus
Anna von Helmholtz : ein Lebensbild in Briefen / hrsg. von Ellen von Siemens-Helmholtz. - Berlin
Band 1. 1929


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