Hermann von Helmholtz: Erinnerungen

Tischrede gehalten bei der Feier des 70. Geburtstages
Berlin 1891

Ich bin im Laufe des vergangenen Jahres, und zuletzt bei der Feier und Nachfeier meines siebzigsten Geburtstages, mit Ehren, mit Beweisen der Achtung und des Wohlwollens in nie erwartetem Maasse überschüttet worden. Seine Majestät der Kaiser hat mich in die oberste Rangklasse seiner Staatsbeamten erhoben. Die Könige von Schweden und Italien, der Grossherzog von Baden, mein ehemaliger Landesherr, der Präsident der Französischen Republik haben meine Brust mit Grosskreuzen geschmückt. Viele Akademien, nicht bloss der Wissenschaften, sondern auch der Künste, Facultäten und gelehrte Gesellschaften, vertheilt über den Erdball von Tomsk bis Melbourne, haben mir Diplome und schön geschmückte feierliche Adressen geschickt, um mir ihre Anerkennung meiner wissenschaftlichen Bestrebungen und den Dank dafür zum Theil in Ausdrücken auszusprechen, die ich nicht ohne Beschämung lesen kann. Meine Vaterstadt Potsdam hat mich zu ihrem Ehrenbürger gemacht. Dazu kommen ungezählte Einzelne, wissenschaftliche und persönliche Freunde, Schüler und Unbekannte, die mir Glückwünsche in Telegrammen und Briefen gesendet.

Aber noch mehr. Sie wollen meinen Namen gleichsam zur Fahne einer grossartigen Stiftung machen, welche, von Freunden der Wissenschaft aller Nationen gegründet, wissenschaftliche Forschung in allen Ländern des Erdballs ermuthigen und fördern soll. Die Wissenschaft und die Kunst sind zur Zeit ja das einzig übrig gebliebene Friedensband der civilisirten Nationen. Ihr immer höher wachsender Ausbau ist ein gemeinsames Ziel Aller, das in gemeinsamer Arbeit Aller, zum gemeinsamen Vortheil Aller angestrebt wird. Ein grosses und heiliges Werk! Ja, die Stifter wollen ihre Gabe vorzugsweise zur Förderung derjenigen Zweige des Forschens bestimmen, die ich in meinem eigenen Leben verfolgt habe, und mich dabei, in meiner zeitlichen Beschränkung, künftigen Geschlechtern fast wie ein Vorbild der Forschung hinstellen. Es ist dies die stolzeste Ehre, die Sie mir erweisen können, insofern Sie mir dadurch Ihr unbedingt günstiges Urtheil zu erkennen geben; aber es würde an Vermessenheit streifen, wenn ich sie annähme ohne die stille Erwartung, dass die Preisrichter künftiger Jahrhunderte sich frei von den Rücksichten auf meine zeitliche Persönlichkeit machen werden.

Sogar die zeitliche Gestalt, in der ich durch dies Leben gegangen bin, haben Sie durch einen Meister ersten Ranges in Marmor bilden lassen, so dass ich den nachkommenden Geschlechtern künftig in idealerer Gestalt erscheinen werde, als den jetzt Lebenden; ein Meister der Radirnadel hat dafür gesorgt, dass getreue Bilder von mir unter den Lebenden verbreitet werden können.

Ich kann nicht verkennen, dass Alles, was Sie mir gethan haben, Aeusserungen Ihres aufrichtigsten und höchsten Wohlwollens sind, und ich bin Ihnen dafür zum höchsten Danke verpflichtet.

Aber ich bitte Sie um Verzeihung, wenn diese Fülle von Ehren mich zunächst mehr in Erstaunen setzt und verwirrt, als dass ich sie begreifen könnte. Ich finde in meinem eigenen Bewusstsein für den Werth dessen, was ich zu leisten gestrebt habe, keinen entsprechenden Maassstab, welcher mir ein ähnliches Facit gäbe, wie Sie es gezogen haben. Ich weiss, in wie einfacher Weise Alles, was ich zu Stande gebracht habe, entstanden ist, wie die von meinen Vorgängern ausgebildeten Methoden der Wissenschaft mich folgerichtig dazu geführt haben, wie mir zuweilen ein günstiger Zufall oder ein glücklicher Umstand geholfen hat. Aber der Hauptunterschied wird wohl der sein: was ich langsam aus kleinen Anfängen durch Monate und Jahre mühsamer und oft genug tastender Arbeit aus unscheinbaren Keimen habe wachsen sehen, das ist Ihnen plötzlich, wie eine gewappnete Pallas aus dem Haupte des Jupiter, vor Augen gesprungen. Ihr Urtheil war durch Ueberraschung beeinfiusst, das meinige nicht; es mag auch vielleicht durch die Ermüdung der Arbeit und durch Aerger über allerlei irrationelle Schritte, die ich unterwegs gemacht hatte, oft etwas herabgestimmt worden sein.

Die Fachgenossen und das Publicum urtheilen über ein Werk der Wissenschaft oder der Kunst nach dem Nutzen, der Belehrung oder Freude, die es ihnen gebracht hat. Der Autor ist meist geneigt seine Werthschätzuug nach der darauf verwendeten Mühe anzusetzen; und diese beiden Arten der Schätzung treffen selten zusammen. Im Gegentheil ist aus den gelegentlichen Aeusserungen einiger der berühmtesten Männer, namentlich unter den Künstlern, zu erkennen, dass sie auf die Leistungen, die uns in ihren Werken als unnachahmlich und unerreichbar entgegentreten, verhältnissmässig geringes Gewicht legten, im Vergleich zu anderen, die ihnen schwer wurden, die aber den Lesern und Beschauern viel weniger gelungen erscheinen. Ich erinnere nur an Goethe, der nach Eckermann's Bericht einmal geäussert hat, seine dichterischen Werke schätze er nicht so hoch, wie das, was er in der Farbenlehre geleistet.

Soll ich nun Ihren Versicherungen und den Urhebern der an mich gelangten Adressen Glauben schenken, so mag es mir — wenn auch in bescheidenerem Maasse — ähnlich gegangen sein. Erlauben Sie mir also Ihnen kurz zu berichten, wie ich in meine Arbeitsrichtung hinein gekommen bin.

In meinen ersten sieben Lebensjahren war ich ein kränklicher Knabe, lange an das Zimmer, oft genug an das Bett gefesselt, aber mit lebhaftem Triebe nach Unterhaltung und nach Thätigkeit. Die Eltern haben sich viel mit mir beschäftigt; Bilderbücher und Spiel, hauptsächlich mit Bauhölzchen, halfen mir sonst die Zeit ausfüllen. Dazu kam ziemlich früh auch das Lesen, was natürlich den Kreis meiner Unterhaltungsmittel sehr erweiterte. Aber wohl ebenso früh zeigte sich auch ein Mangel meiner geistigen Anlage darin, dass ich ein schwaches Gedächtniss für unzusammenhängende Dinge hatte. Als erstes Zeichen davon betrachte ich die Schwierigkeit, deren ich mich noch deutlich entsinne, rechts und links zu unterscheiden; später als ich in der Schule an die Sprachen kam, wurde es mir schwerer als Anderen, die Vocabeln, die unregelmässigen Formen der Grammatik, die eigenthümlichen Redewendungen mir einzuprägen. Der Geschichte vollends, wie sie uns damals gelehrt wurde, wusste ich kaum Herr zu werden. Stücke in Prosa auswendig zu lernen, war mir eine Marter. Dieser Mangel ist natürlich nur gewachsen und eine Plage meines Alters geworden.

Wenn ich aber kleine mnemotechnische Hülfsmittel hatte, auch nur solche, wie sie das Metrum und der Reim in Gedichten geben, ging das Auswendiglernen und das Behalten des Gelernten schon viel besser. Gedichte von grossen Meistern behielt ich sehr leicht, etwas gekünstelte Verse von Meistern zweiten Ranges lange nicht so gut. Ich denke, das wird wohl von dem natürlichen Fluss der Gedanken in den guten Gedichten abhängig gewesen sein und bin geneigt, in diesem Verhältniss eine wesentliche Wurzel ästhetischer Schönheit zu suchen. In den oberen Gymnasialklassen konnte ich einige Gesänge der Odyssee, ziemlich viele Oden des Horaz und grosse Schätze deutscher Poesie recitiren. In dieser Richtung befand ich mich also ganz in der Lage unserer ältesten Vorfahren, welche noch nicht schreiben konnten und deshalb ihre Gesetze und ihre Geschichte in Versen fixirten, um sie auswendig zu lernen.

Was dem Menschen leicht wird, pflegt er gern zu thun; so war ich denn zunächst auch ein grosser Bewunderer der Poesie. Die Neigung wurde durch meinen Vater gefördert, der ein zwar pflichtstrenger aber enthusiastischer Mann war, begeistert für Dichtkunst, besonders für die grosse Zeit der deutschen Literatur. Er gab uns in den oberen Gymnasialklassen den deutschen Unterricht und las mit uns den Homer. Wir mussten unter seiner Leitung auch abwechselnd deutsche Aufsätze in Prosa und metrische Uebungen machen — Gedichte, wie wir sie nannten. Aber wenn auch die meisten von uns schwache Dichter blieben, so lernten wir doch dabei besser, als durch irgend eine andere mir bekannte Uebung das, was wir zu sagen hatten, in die mannigfaltigsten Ausdrucksweisen umzuwenden.

Das vollkommenste mnemotechnische Hülfsmittel, was es giebt, ist aber die Kenntniss des Gesetzes der Erscheinungen. Dies lernte ich zuerst in der Geometrie kennen. Von meinen Kinderspielen mit Bauhölzern her, waren mir die Beziehungen der räumlichen Verhältnisse zu einander durch Anschauung wohl bekannt. Wie sich Körper von regelmässiger Form an einander legen und zusammenpassen würden, wenn ich sie so oder so wendete, das wusste ich sehr gut ohne vieles Nachdenken. Als ich zur wissenschaftlichen Lehre der Geometrie kam, waren mir eigentlich alle Thatsachen, die ich lernen sollte, zur Ueberraschung meiner Lehrer ganz wohlbekannt und geläufig. Soweit meine Rückerinnerung reicht, kam das schon in der Volksschule des Potsdamer Schullehrerseminars, die ich bis zu meinem achten Lebensjahre besuchte, gelegentlich zum Vorschein. Neu war mir dagegen die strenge Methode der Wissenschaft, und unter ihrer Hülfe fühlte ich die Schwierigkeiten schwinden, die mich in anderen Gebieten gehemmt hatten.

Der Geometrie fehlte nur Eines; sie behandelte ausschliesslich abstracte Raumformen, und ich hatte doch grosse Freude an der vollen Wirklichkeit. Grösser und kräftiger geworden, bewegte ich mich viel mit meinem Vater oder mit Schulgenossen in den schönen Umgebungen meiner Vaterstadt Potsdam umher, und gewann grosse Liebe zur Natur. So kam es wohl, dass mich die ersten Bruchstücke der Physik, die ich im Gymnasium kennen lernte, bald viel intensiver fesselten, als die rein geometrischen und algebraischen Studien. Hier war ein reicher und mannigfaltiger Inhalt, mit der vollen Machtfülle der Natur, der unter die Herrschaft des begrifflich gefassten Gesetzes zurückgeführt werden konnte. Auch war in der That das Erste, was mich fesselte, vorzugsweise die geistige Bewältigung der uns anfangs fremd gegenüberstehenden Natur durch die logische Form des Gesetzes. Aber natürlich schloss sich bald die Erkenntniss an, dass die Kenntniss der Gesetze der Naturvorgänge auch der Zauberschlüssel sei, der seinem Inhaber Macht über die Natur in die Hände gebe. In diesen Gedankenkreisen fühlte ich mich heimisch.

Ich stürzte mich mit Freude und grossem Eifer auf das Studium aller physikalischen Lehrbücher, die ich in der Bibliothek meines Vaters fand. Es waren sehr altmodische, in denen noch das Phlogiston sein Wesen trieb und der Galvanismus noch nicht über die Voltaische Säule hinausgewachsen war. Auch suchte ich mit einem Jugendfreunde allerlei Versuche, von denen wir gelesen, mit unseren kleinen Hülfsmitteln nachzumachen. Die Wirkung von Säuren auf die Leinwandvorräthe unserer Mütter haben wir gründlich kennen gelernt; sonst gelang wenig; am besten noch der Bau von optischen Instrumenten mit Brillengläsern, die auch in Potsdam zu haben waren, und mit einer kleinen botanischen Loupe meines Vaters. Die Beschränkung der äusseren Mittel hatte in jenem frühen Stadium für mich den Nutzen, dass ich die Pläne für die anzustellenden Versuche immer wieder umzuwenden lernte, bis ich eine für mich ausführbare Form derselben gefunden hatte. Ich muss gestehen, dass ich manches Mal, wenn die Klasse Cicero oder Virgil las, welche beide mich höchlichst langweilten, unter dem Tische den Gang der Strahlenbündel durch Teleskope berechnete und dabei schon einige optische Sätze fand, von denen in den Lehrbüchern nichts zu stehen pflegte, die mir aber nachher bei der Construction des Augenspiegels nützlich wurden.

So kam es, dass ich in die besondere Richtung des Studiums eintrat, die ich nachher festgehalten habe, und die sich unter den angegebenen Umständen zu einem Triebe von leidenschaftlichem Eifer entwickelte. Dieser Trieb, die Wirklichkeit durch den Begriff zu beherrschen, oder was, wie ich meine, nur ein anderer Ausdruck derselben Sache ist, den ursächlichen Zusammenhang der Erscheinungen zu entdecken, hat mich durch mein Leben geführt, und seine Intensität war auch wohl daran Schuld, dass ich keine Ruhe bei scheinbaren Auflösungen eines Problems fand, so lange ich noch dunkle Punkte darin fühlte.

Nun sollte ich zur Universität übergehen. Die Physik galt damals noch für eine brodlose Kunst. Meine Eltern waren zu grosser Sparsamkeit gezwungen; also erklärte mir der Vater, er wisse mir nicht anders zum Studium der Physik zu helfen, als wenn ich das der Medicin mit in den Kauf nähme. Ich war dem Studium der lebenden Natur durchaus nicht abgeneigt und ging ohne viel Schwierigkeit darauf ein. Der einzige einflussreiche Mann unserer Familie war ein Arzt gewesen, der ehemalige Generalchirurgus Mursinna; und diese Verwandtschaft empfahl mich unter den anderen Bewerbern für die Aufnahme in unsere militärärztliche Lehranstalt, das Friedrich-Wilhelms-Institut, welches die Durchführung des medicinischen Studiums unbemittelten Studirenden sehr wesentlich erleichterte.

Bei diesem Studium trat ich gleich unter den Einfluss eines tiefsinnigen Lehrers, des Physiologen Johannes Müller, desselben, der in gleicher Zeit auch du Bois-Reymond, Brücke, Ludwig und Virchow, der Physiologie und Anatomie zugeführt hat. Johannes Müller kämpfte noch in den Räthselfragen über die Natur des Lebens zwischen der alten, wesentlich metaphysischen, und der neu sich entwickelnden naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise; aber die Ueberzeugung, dass die Kenntniss der Thatsachen durch nichts Anderes zu ersetzen sei, trat bei ihm mit steigender Festigkeit auf; und dass er selbst noch rang, machte seinen Einfluss auf seine Schüler vielleicht um so grösser.

Junge Leute greifen am liebsten gleich von vorn herein die tiefsten Probleme an, so ich die Frage nach dem räthselhaften Wesen der Lebenskraft. Die Mehrzahl der Physiologen hatte damals den Ausweg G. E. Stahl's ergriffen, dass es zwar die physikalischen und chemischen Kräfte der Organe und Stoffe des lebenden Körpers seien, die in ihm wirkten, dass aber eine in ihm wohnende Lebenseele oder Lebenskraft die Wirksamkeit dieser Kräfte zu binden und zu lösen im Stande sei, dass das freie Walten dieser Kräfte nach dem Tode die Fäulniss hervorrufe, dass dagegen während des Lebens ihre Action fortdauernd durch die Lebenseele regulirt werde. In dieser Erklärung ahnte ich etwas Widernatürliches; aber es hat mir viel Mühe gemacht, meine Ahnung in eine präcise Frage umzugestalten. Endlich, in meinem letzten Studienjahr, fand ich, dass Stahl's-Theorie jedem lebenden Körper die Natur eines Perpetuum mobile beilegte. Mit den Streitigkeiten über das letztere war ich ziemlich bekannt. Ich hatte sie in meiner Schulzeit von meinem Vater und unserem Mathematiker oft besprechen hören. Dann hatte ich als Eleve des Friedrich-Wilhelms-Instituts in der Bibliothek desselben Assistenz geleistet, und in unbeschäftigten Minuten die Werke von Daniel Bernouilli, d'Alembert und anderen Mathematikern des vorigen Jahrhunderts mir herausgesucht und durchmustert. So stiess ich auf die Frage: ,,Welche Beziehungen müssen zwischen den verschiedenartigen Naturkräften bestehen, wenn allgemein kein Perpetuum mobile möglich sein soll?'' und die weitere: ,,Bestehen nun thatsächlich alle diese Beziehungen?'' Meiner Absicht nach wollte ich in meinem Büchlein über die Erhaltung der Kraft nur eine kritische Untersuchung und Ordnung der Thatsachen im Interesse der Physiologen geben.

Ich wäre vollkommen darauf gefasst gewesen, wenn mir die Sachverständigen schliesslich gesagt hätten: ,,Das ist uns ja Alles wohlbekannt. Was denkt sich der junge Mediciner, dass er meint, uns dies so ausführlich auseinandersetzen zu müssen?'' Zu meinem Erstaunen nahmen aber die physikalischen Autoritäten, mit denen ich in Berührung kam, die Sache ganz anders auf. Sie waren geneigt die Richtigkeit des Gesetzes zu leugnen und in dem eifrigen Kampfe, gegen Hegel's Naturphilosophie, den sie führten, auch meine Arbeit für eine phantastische Speculation zu erklären. Nur der Mathematiker Jacobi erkannte den Zusammenhang meines Gedankenganges mit dem der Mathematiker des vorigen Jahrhunderts, interessirte sich für meinen Versuch und schützte mich vor Missdeutung. Dagegen fand ich enthusiastischen Beifall und praktische Hülfe bei meinen jüngeren Freunden, namentlich bei Emil du Bois-Reymond. Bald zogen diese auch die Mitglieder der jüngsten physikalischen Gesellschaft von Berlin auf meine Seite herüber. Von Joule's Arbeiten über dasselbe Thema wusste ich damals nur wenig, von Robert Mayer noch nichts.

Es schlossen: sich daran einige kleinere physiologische Experimentalarbeiten. über Fäulniss und Gährung, worin ich den Nachweis liefern konnte, dass beide keineswegs freiwillig eintretende oder durch die Mitwirkung des atmosphärischen Sauerstoffs hervorgerufene, rein chemische Zersetzungen seien, wie Liebig wollte; dass namentlich weinige Gährung durchaus an die Anwesenheit der Hefepilze gebunden ist, die nur durch Fortzeugung entstehen. Ferner die Arbeit über Stoffwechsel bei der Muskelaction, an die sich später die Arbeit über Wärmeentwickelung bei der Muskelaction schloss, welche Processe nach dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft zu erwarten waren.

Diese Arbeiten genügten, um die Aufmerksamkeit Johannes Müller's und der Preussischen Unterrichtsverwaltung auf mich zu lenken und mir den Ruf als Nachfolger Brücke's nach Berlin und gleich darauf den an die Universität Königsberg zu verschaffen. Die militärärztlichen .Behörden willigten in dankenswerther Liberalität in die Aufhebung meiner Verpflichtung zu weiterem Militärdienst, um mir den Uebergang in eine wissenschaftliche Stellung möglich zu machen.

In Königsberg hatte ich Allgemeine Pathologie und Physiologie vorzutragen. Ein Universitätslehrer ist einer ungemein nützlichen Disciplin unterworfen, indem er alljährlich den ganzen Umfang seiner Wissenschaft so vortragen muss, dass er auch die hellen Köpfe unter seinen Zuhörern, die grossen Männer der nächsten Generation, überzeugt und befriedigt; diese Nöthigung trug mir zunächst zwei werthvolle Früchte ein.

Bei der Vorbereitung zur Vorlesung stiess ich nämlich zunächst auf die Möglichkeit des Augenspiegels und dann auf den Plan, die Fortpflanzungszeit der Reizung in den Nerven zu messen.

Der Augenspiegel ist wohl die populärste meiner wissenschaftlichen Leistungen geworden, aber ich habe schon den Augenärzten berichtet, wie dabei das Glück eigentlich eine unverhältnissmässig grössere Rolle gespielt hat, als mein Verdienst. Ich hatte die Theorie des Augenleuchtens, die von Brücke herrührte, meinen Schülern auseinanderzusetzen. Brücke war hierbei eigentlich nur noch um eines Haares Breite von der Erfindung des Augenspiegels entfernt gewesen. Er hatte nur versäumt, sich die Frage zu stellen, welchem optischen Bilde die aus dem leuchtenden Auge zurückkommenden Strahlen angehörten. Für seinen damaligen Zweck war es nicht nöthig, diese Frage zu stellen. Hätte er sie gestellt, so war er durchaus der Mann dazu, sie ebenso schnell zu beantworten wie ich, und der Plan zum Augenspiegel wäre gegeben gewesen. Ich wendete das Problem etwas hin und her, um, zu sehen, wie ich es am einfachsten meinen Zuhörern würde vortragen können und stiess dabei auf die bezeichnete Frage. Die Noth der Augenärzte bei den Zuständen, die man damals unter dem Namen des schwarzen Staares zusammenfasste, kannte ich sehr wohl aus meinen medicinischen Studien. Ich machte mich sogleich daran, das Instrument aus Brillengläsern und Deckgläschen für mikroskopische Objecte zusammenzukitten. Zunächst war es noch mühsam zu gebrauchen. Ohne die gesicherte theoretische Ueberzeugung, dass es gehen müsste, hätte ich vielleicht nicht ausgeharrt. Aber nach etwa acht Tagen hatte ich die grosse Freude, der Erste zu sein, der eine lebende menschliche Netzhaut klar vor sich liegen sah.

Für meine äussere Stellung vor der Welt war die Construction des Augenspiegels sehr entscheidend. Ich fand nun bei Behörden und Fachgenossen bereitwilligste Anerkennung und Geneigtheit für meine Wünsche, so dass ich fortan viel freier den inneren Antrieben meiner Wissbegier folgen durfte. Uebrigens erklärte ich mir selbst meine guten Erfolge wesentlich aus dem Umstände, dass ich durch ein günstiges Geschick als ein mit einigem geometrischen Verstände und mit physikalischen Kenntnissen ausgestatteter Mann unter die Mediciner geworfen war, wo ich in der Physiologie auf jungfräulichen Boden von grosser Fruchtbarkeit stiess, und dass ich andererseits durch die Kenntniss der Lebenserscheinungen auf Fragen und Gesichtspunkte geführt worden war, die gewöhnlich den reinen Mathematikern und Physikern fern liegen. Meine mathematischen Anlagen hatte ich bis dahin doch nur mit denen meiner Mitschüler und denen meiner medicinischen Commilitonen vergleichen können; dass ich diesen hierin meist überlegen war, wollte nicht gerade viel sagen. Ausserdem war in der Schule die Mathematik immer nur als Fach zweiten Ranges betrachtet worden. Im lateinischen Aufsatze dagegen, der damals noch wesentlich die Siegespalme bestimmte, war mir immer eine Hälfte meiner Mitschüler voraus gewesen.

Meine Arbeiten waren nach meinem eigenen Bewusstsein einfach folgerichtige Anwendungen der in der Wissenschaft entwickelten experimentellen und mathematischen Methoden gewesen, die durch leicht gefundene Modificationen dem jedesmaligen besonderen Zwecke angepasst werden konnten. Meine Commilitonen und Freunde, die sich, wie ich selbst, der physikalischen Seite der Physiologie gewidmet hatten, leisteten nicht minder überraschende Dinge.

Aber allerdings konnte es im weiteren Verlaufe dabei nicht bleiben. Ich musste die nach bekannten Methoden zu lösenden Aufgaben allmählich meinen Schülern im Laboratorium überlassen und mich selbst schwereren Arbeiten von unsicherem Erfolge zuwenden, wo die allgemeinen Methoden den Forscher im Stich liessen, oder wo die Methode selbst noch erst weiter zu bilden war.

Auch in diesen Gebieten, die den Grenzen unseres Wissens näher kommen, ist mir ja noch mancherlei gelungen, Experimentelles und Mathematisches. Ich weiss nicht, ob ich das Philosophische hinzurechnen darf. In ersterer Beziehung war ich allmählich wie Jeder, der viel experimentelle Aufgaben angegriffen hat, ein erfahrener Mann geworden, kannte viele Wege und Hülfsmittel und hatte meine Jugendanlage der geometrischen Anschauung zu einer Art mechanischer Anschauung entwickelt; ich fühlte gleichsam, wie sich die Drucke und Züge in einer mechanischen Vorrichtung vertheilen, was man übrigens bei erfahrenen Mechanikern und Maschinenbauern auch findet. Vor solchen hatte ich dann immer noch einigen Vorsprung dadurch, dass ich mir verwickeitere und besonders wichtige Verhältnisse durch theoretische Analyse durchsichtig machen konnte.

Auch bin ich im Stande gewesen, einige mathematisch-physikalische Probleme zu lösen, und darunter sogar solche, an welchen die grossen Mathematiker seit Euler sich vergebens bemüht hatten, z. B. die Fragen über die Wirbelbewegungen und die Discontinuität der Bewegung in Flüssigkeiten, die Frage über die Schallbewegung an den offenen Enden der Orgelpfeifen u. s. w. Aber der Stolz, den ich über das Endresultat in diesen Fällen hätte empfinden können, wurde beträchtlich herabgesetzt dadurch, dass ich wohl wusste, wie mir die Lösungen solcher Probleme fast immer nur durch allmählich wachsende Generalisationen von günstigen Beispielen, durch eine Reihe glücklicher Einfälle nach mancherlei Irrfahrten gelungen waren. Ich musste mich vergleichen einem Bergsteiger, der, ohne den Weg zu kennen, langsam und mühselig hinaufklimmt, oft umkehren muss, weil er nicht weiter kann, der bald durch Uebelegung, bald durch Zufall neue Wegspuren entdeckt, die ihn wieder ein Stück vorwärts leiten, und endlich, wenn er sein Ziel erreicht, zu seiner Beschämung einen königlichen Weg findet, auf dem er hätte herauffahren können, wenn er gescheidt genug gewesen wäre, den richtigen Anfang zu finden. In meinen Abhandlungen habe ich natürlich den Leser dann nicht von meinen Irrfahrten unterhalten, sondern ihm nur den gebahnten Weg beschrieben, auf dem er jetzt ohne Mühe die Höhe erreichen mag.

Es giebt ja viele Leute von engem Gesichtskreise, die sich selbst höchlichst bewundern, wenn sie einmal einen glücklichen Einfall gehabt haben oder ihn gehabt zu haben glauben. Ein Forscher oder Künstler, der eine grosse Menge glücklicher Einfälle hat, ist ja unzweifelhaft eine bevorzugte Natur und wird als ein Wohlthäter der Menschheit anerkannt. Wer aber will solche Geistesblitze zählen und wägen, wer den geheimen Wegen der Vorstellungsverknüpfungen nachgehen, dessen

Was vom Menschen, nicht gewusst
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.
Ich muss sagen, als Arbeitsfeld sind mir die Gebiete, wo man sich nicht auf günstige Zufalle und Einfälle zu verlassen braucht, immer angenehmer gewesen.

Da ich aber ziemlich oft in die unbehagliche Lage kam, auf günstige Einfälle harren zu müssen, habe ich darüber, wann und wo sie mir kamen, einige Erfahrungen gewonnen, die vielleicht Anderen noch nützlich werden können. Sie schleichen oft genug still in den Gedankenkreis ein, ohne dass man gleich von Anfang ihre Bedeutung erkennt; später hilft dann zuweilen nur noch ein zufälliger Umstand, um zu erkennen, wann und unter welchen Umständen sie gekommen sind; sonst sind sie da, ohne dass man weiss woher. In anderen Fällen aber treten sie plötzlich ein, ohne Anstrengung, wie eine Inspiration. So weit meine Erfahrung geht, kamen sie nie dem ermüdenden Gehirne und nicht am Schreibtisch. Ich musste immer erst mein Problem nach allen Seiten so viel hin- und hergewendet haben, dass ich alle seine Wendungen und Verwickelungen im Kopfe überschaute und sie frei, ohne zu schreiben, durchlaufen konnte. Es dahin zu bringen, ist ohne längere vorausgehende Arbeit meistens nicht möglich. Dann musste, nachdem die davon herrührende Ermüdung vorübergegangen war, eine Stunde vollkommener körperlicher Frische und ruhigen Wohlgefühls eintreten, ehe die guten Einfälle kamen. Oft waren sie wirklich, den citirten Versen Goethe's entsprechend, des Morgens beim Aufwachen da, wie auch Gauss einst angemerkt hat [Gauss' Werke Bd. V, S. 609: Das Inductionsgesetz (gefunden 1835, am 23. Januar, Morgens 7 Uhr v. d. Aufstehen)]. Besonders gern aber kamen. sie, wie ich schon in Heidelberg berichtet, bei gemächlichem Steigen über waldige Berge in sonnigem Wetter. Die kleinsten Mengen alkoholischen Getränks aber schienen sie zu verscheuchen.

Solche Momente fruchtbarer Gedankenfülle waren freilich sehr erfreulich, weniger schön war die Kehrseite, wenn die erlösenden Einfälle nicht kamen. Dann konnte ich mich Wochen lang, Monate lang in eine solche Frage verbeissen, bis mir zu Muthe war wie

            dem Thier auf dürrer Haide
Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt
Und rings umher ist schöne grüne Weide.
Schliesslich war es oft nur ein grimmer Anfall von Kopfschmerzen, der mich aus meinem Bann erlöste, und mich wieder frei für andere Interessen machte.

Ein anderes Gebiet habe ich noch betreten, auf welches mich die Untersuchungen über Sinnesempfmclungen und Sinneswahrnehmuugen führten, nämlich das der Erkenntnisstheorie. Wie ein Physiker Fernrohr und Galvanometer untersuchen muss, mit denen er arbeiten will, sich klar machen, was er damit erreichen, wo sie ihn täuschen können, so schien es mir geboten, auch die Leistungsfähigkeit unseres Denkvermögens zu untersuchen. Es handelte sich dabei auch nur um eine Reihe thatsächlicher Fragen, über die bestimmte Antworten gegeben werden konnten und mussten. Wir haben bestimmte Sinneseindrücke; wir wissen in Folge dessen zu handeln. Der Erfolg der Handlung stimmt der Regel nach mit dem überein, was wir als beobachtbare Folge erwarten, zuweilen, bei sogenannten Sinnestäuschungen, auch nicht. Das sind alles objective Thatsachen. deren gesetzliches Verhalten wird gefunden werden können. Mein wesentlichstes Ergebniss war, dass die Sinnesempfindungen nur Zeichen für die Beschaffenheit der Aussenwelt sind, deren Deutung durch Erfahrung gelernt werden muss. Das Interesse für die erkenntnisstheoretischen Fragen ward mir schon in der Jugend eingeprägt, dadurch dass ich meinen Vater, der einen tiefen Eindruck von Fichte's Idealismus behalten hatte, mit Collegen, die Hegel oder Kant verehrten, oft habe streiten hören. Auf diese Untersuchungen stolz zu werden, habe ich bisher wenig Veranlassung gehabt. Denn auf je einen Freund habe ich dabei etwa zehn Gegner gefunden; namentlich habe ich immer alle Metaphysiker, auch die materialistischen, und alle Leute von verborgenen metaphysischen Neigungen dadurch aufgebracht. Aber die Adressen der letzten Tage haben mich eine ganze Reihe von Freunden entdecken lassen, die ich bisher nicht kannte, so dass ich dem heutigen Feste auch in dieser Beziehung Freude und neue Hoffnung verdanke. Freilich ist die Philosophie seit nahe dreitausend Jahren der Tummelplatz der heftigsten Meinungsverschiedenheiten gewesen, und man darf nicht erwarten, dass diese im Laufe eines Menschenlebens zum Schweigen gebracht werden können.

Ich wollte Ihnen auseinandersetzen, wie, von meinem Standpunkte aus gesehen, die Geschichte meiner wissenschaftlichen Bestrebungen und Erfolge, so weit solche da sind, aussieht; vielleicht verstehen Sie nun, dass ich überrascht bin durch die ungewöhnliche Fülle des Lobes, das Sie über mich ausgiessen. Meine Erfolge sind mir zunächst für mein Urtheil über mich selbst von Werth gewesen, weil sie mir den Maasstab abgaben für das, was ich weiter versuchen durfte; sie haben mich aber, hoffe ich, nicht zur Selbstbewunderung verleitet. Wie verderblich übrigens der Grössenwahn für einen Gelehrten werden kann, habe ich oft genug gesehen, und habe mich deshalb stets davor zu hüten gesucht, dass ich diesem Feinde nicht verfiele. Ich wusste, dass strenge Selbstkritik an eigenen Arbeiten und Fähigkeiten das schützende Palladium gegen dieses Verhängniss ist. Aber man braucht nur die Augen offen halten für das, was andere können, und was man selbst nicht kann, dann, finde ich, ist die Gefahr nicht gross. Was meine eigenen Arbeiten betrifft, so glaube ich, dass ich niemals die letzte Correctur einer Abhandlung beendet hatte, ohne 24 Stunden später wieder einige Punkte gefunden zu haben, die ich besser oder vollständiger hätte machen können.

Was schliesslich den Dank betrifft, den Sie mir zu schulden behaupten, so würde ich unaufrichtig sein, wenn ich sagen wollte, das Wohl der Menschheit habe mir von Anfang an als bewusster Zweck meiner Arbeit vor Augen gestanden. Es war in Wahrheit die besondere Form meines Wissensdranges, die mich vorwärts trieb und mich bestimmte alle brauchbare Zeit, die mir meine amtlichen Geschäfte und die Sorge für meine Familie übrig liessen, für wissenschaftliche Arbeit zu verwenden. Diese beiden Vorbehalte verlangten übrigens auch keine wesentliche Abweichung von den Zielen, nach denen ich strebte. Mein Amt gab mir die Pflicht, mich für die Universitätsvorträge fähig zu halten; die Familie, meinen Ruf als Forscher zu befestigen. Der Staat, der mir Unterhalt, wissenschaftliche Hülfsmittel und ein gut Theil freier Zeit gewährte, hatte meines Erachtens dadurch ein Recht zu verlangen, dass ich in geeigneter Form Alles, was ich mit seiner Unterstützung gefunden hatte, frei und vollständig meinen Mitbürgern mittheile.

Die schriftliche Ausarbeitung wissenschaftlicher Untersuchungen ist meist ein mühsames Werk; wenigstens war sie es mir in hohem Grade. Ich habe viele Theile meiner Abhandlungen vier bis sechs Mal umgeschrieben, die Anordnung des Ganzen hin- und hergeworfen, ehe ich einigermaassen zufrieden war. Aber in einer solchen sorgfältigen Abfassung der Arbeit liegt auch ein grosser Gewinn für den Autor. Sie zwingt ihn zur schärfsten Prüfung jedes einzelnen Satzes und Schlusses, viel eingehender noch als die vorher erwähnten Vorträge an der Universität. Ich habe nie eine Untersuchung für fertig gehalten, ehe sie nicht vollständig und ohne logische Lücken schriftlich formulirt vor mir stand.

Als mein Gewissen gleichsam standen dabei vor meiner Vorstellung die sachverständigsten meiner Freunde. Ob sie meine Arbeit billigen würden? fragte ich mich. Sie schwebten vor mir als die Verkörperung des wissenschaftlichen Geistes einer idealen Menschheit und gaben mir den Maasstab.

Ich will nicht sagen, dass in der ersten Hälfte meines Lebens, als ich noch für in eine äussere Stellung zu arbeiten hatte, nicht höhere ethische Beweggründe mitgewirkt hätten neben der Wissbegier und meinem Pflichtgefühl als Beamter des Staates; aber es war schwerer, ihres wirklichen Bestehens sicher zu werden, so lange noch egoistische Motive zur Arbeit trieben. Es wird ja wohl den meisten Forschern ebenso gehen. Aber später, bei gesicherter Stellung, wenn diejenigen, welche keinen inneren Drang zur Wissenschaft haben, ganz aufhören zu arbeiten, tritt für Andere, welche weiter arbeiten, eine höhere Auffassung ihres Verhältnisses zur Menschheit in den Vordergrund. Sie gewinnen allmählich aus eigener Erfahrung eine Anschauung davon, wie die Gedanken, die von ihnen ausgegangen sind, sei es durch die Literatur, sei es durch mündliche Belehrung ihrer Schüler, in den Zeitgenossen fortwirken und gleichsam, ein unabhängiges Leben weiter führen; wie diese Gedanken, durch ihre Schüler weiter durchgearbeitet, reicheren Inhalt und festere Form erhalten und ihrem Erzeuger selbst wieder neue Belehrung zuführen. Die eigenen Gedanken des Einzelnen hangen natürlich fester mit seinem ganzen geistigen Gesichtskreise zusammen, als fremde, und er empfindet mehr Förderung und Befriedigung, wenn er die eigenen sich reicher entwickeln sieht, als die fremden. Schliesslich stellt sich für ein solches Gedankenkind bei seinem Erzeuger eine Art von Vaterliebe ein, die ihn treibt, für die Förderung dieser Sprösslinge ebenso zu sorgen und zu streiten, wie für die leiblichen.

Gleichzeitig aber tritt ihm auch die ganze Gedankenwelt der civilisirten Menschheit als ein fortlebendes und sich weiter entwickelndes Ganzes entgegen, dessen Lebensdauer, der kurzen des einzelnen Individuums gegenüber, als ewig erscheint. Er sieht sich mit seinen kleinen Beiträgen zum Aufbau der Wissenschaft in den Dienst einer ewigen heiligen Sache gestellt, mit der er durch enge Bande der Liehe verknüpft ist. Dadurch wird ihm seine Arbeit selbst geheiligt. Theoretisch begreifen kann das vielleicht ein Jeder, aber diesen Begriff bis zu einem drängenden Gefühl zu entwickeln, dazu mag eigene Erfahrung nöthig sein.

Die Welt, welche an ideale Motive nicht gerne glaubt, nennt dieses Gefühl Ruhmsucht. Es giebt aber ein entscheidendes Kennzeichen, um beide Arten der Gesinnung zu unterscheiden. Stelle die Frage: Ist es Dir einerlei, ob von Dir gewonnene Forschungsresultate als Dir gehörig anerkannt werden oder nicht? wenn sich mit der Beantwortung dieser Frage Rücksichten auf äusseren Vortheil nicht mehr verbinden. Bei den Leitern der Laboratorien liegt die Antwort am offensten da. Der Lehrer muss meist die Grundgedanken der Arbeit dazu geben, ebenso gut, wie eine Menge von Vorschlägen für die Ueberwindung neuer experimenteller Schwierigkeiten, bei denen mehr oder weniger Erfindung in Betracht kommt. Das Alles geht in die Arbeit des Schülers über, und geht schliesslich, wenn die Arbeit gelingt, unter dessen Namen in die Öffentlichkeit. Wer will nachher unterscheiden, was der Eine, was der Andere gegeben? Und wie viele Lehrer giebt es doch, die in dieser Beziehung von jeder Eifersucht frei sind!

Also, meine Herren, ich bin in der glücklichen Lage gewesen, dass meine angeborene Neigung, wenn ich ihr frei folgte, mich zu Arbeiten hintrieb, um deren willen Sie mich loben, indem Sie behaupten, dadurch Nutzen und Belehrung gewonnen zu haben. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich schliesslich noch Beifall und Dank von Zeitgenossen in so reichem Maasse erhalte für eine Thätigkeit, welche für mich die interessanteste war, die ich einzuschlagen wusste. Aber auch mir haben meine Zeitgenossen Vieles und Wesentliches geleistet. Abgesehen von der äusseren Sorge um meine und der Meinigen Existenz, die sie mir abgenommen, und abgesehen von den äusseren Hülfsmitteln, die sie mir gewährt haben, habe ich bei ihnen den Maasstab der geistigen Fähigkeiten des Menschen gefunden, und durch ihre Theilnahme an meinen Arbeiten haben sie mir die lebendige Anschauung von dem Leben der gemeinsamen Geisteswelt der idealen Menschheit erweckt, welche mir selbst den Werth meiner Bemühungen in ein höheres Licht rücken musste. Unter diesen Bedingungen kann ich den Dank, den Sie mir entgegenbringen wollen, nur als eine freie Gabe der Liebe betrachten, gegeben ohne Gegengabe und ohne Verpflichtung.


S. 3-21 aus:

Helmholtz, Hermann von: Vorträge und Reden. - Braunschweig : Vieweg
Band 1. - 4. Aufl., 1896
Signatur UB Heidelberg: O 400-1::1


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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