Zürich d. 16.8.51
Mi herzdausges Maidli
Hier sitze ich endlich einmal wieder, und kann Dir in Ruhe schreiben. Von Heidelberg ab war es unterwegs nicht möglich, weil die Zeit fehlte, oder wenn die Zeit da war, der Koffer mit dem Schreibzeug fehlte. Von Dir habe ich noch keinen Brief wieder erhalten. Falls Du etwa nach Heidelberg einen geschickt haben solltest, so hat er mich verfehlt. Du könntest dann an das dortige Großherzogl[iche] Postamt schreiben, daß sie mir ihn nachschickten. Hier bei Ludwig war auch noch keiner eingetroffen, ich hoffe aber mit jeder Stunde, daß gute Nachrichten von der Döt angesprungen kommen.
Dieses Mal ist mein Stoff sehr groß. Ich weiß noch nicht, wie viel in den Brief hineinpassen wird. In Heidelberg habe ich nur Professor Henle gesehen, einen Schüler Müllers, etwas jüdisch, gegen den mich Dübois, wie mir schien und wie mir Ludwig aus genauerer Kenntniß bestätigt, mit Unrecht mißtrauisch gemacht hatte. Der eröffente mir eine für unsere Zukunft vielleicht erfolgreiche Angelegenheit, mit der ich deshalb gleich anfange. Er und die jüngeren Professoren der medicin[ischen] Facultät streben nämlich danach, mich nach Heidelberg berufen zu lassen. Henle war ursprünglich als Physiolog berufen, während der alte Tiedemann, früher Anatom und Physiolog, nur die Anatomie behielt. Später kam es zwischen beiden zu heftigen Reibungen, in denen der alte Tiedemann dem Henle solche Injurien sagte, daß die Facultät beschloß, Tiedemann habe dem Henle Abbitte zu leisten. Dies und die politischen Verhältnisse bewegen jenen seine Stelle niederzulegen, und Henle mußte sämmtliche anatomische Collegia, dazu Physiologie und allgem[eine] Pathologie provisorisch übernehmen, und verlangte nun, daß neben ihm ein Physiolog angestellt werde. Er hatte nämlich nur im Anfang seiner Laufbahn selbst physiologische Versuche angestellt, und war dann auf die mikroskopische Anatomie übergegangen, in der er lange Zeit den ersten Rang behauptet hat. Tiedemanns Freunde versuchten zunächst den Prosector Nuhn als Anatomen einzuschieben; aber dieser, ein dürrer Pedant konnte neben Henles glänzendem und witzsprühendem Vortrage nicht aufkommen. Nun suchte man Tiedemanns Schwiegersohn, Bischof aus Gießen als Physiologen hinzubringen, und die Hauptunterstützung dafür war Liebig, so lange es sich um dessen Berufung nach Heidelberg handelte. Liebig beherrscht nämlich den Bischof vollständigst in allen physiologisch chemischen Fragen; Bischof schwört auf Liebigs Aussprüche. Liebig wollte nach Heidelberg gehen, falls man die naturwissenschaftlichen Studien da selbst durch Berufung von einigen anderen Männern in Flor bringen wollte, und forderte unter andern Bischofs Berufung. Wenn also Liebig nach Heidelberg ginge, schiene diese sehr wahrscheinlich; es scheint aber jetzt ziemlich sicher zu sein, daß Liebig nicht von Gießen weggeht. Gegen Bischofs Berufung sprechen übrigens die stärksten sachlichen Gründe; Bischof kann nämlich genau in denselben Richtungen etwas leisten, wo es Henle kann, und in denselben nichts, wo Henle nichts rechtes mehr kann. Wenn also nicht das persönliche Interesse der älteren Mitglieder der Facultät an Tiedemanns Familie überwiegt, so scheint Bischofs Berufung nicht glaublich, und der Regierung liegt es offenbar sehr am Herzen, die durch die politischen Verhältnisse ungeheuer gesunkene Universität wieder zu ihrem früheren Glanze zu heben, deshalb haben sie Liebig mit großen Opfern herbei ziehen wollen, und gerade für diesen Zweck würde Bischofs Berufung nichts beitragen. Henle hatte nun schon vor meiner Ankunft mich als Kandidaten empfohlen, und da wir uns bei meiner Anwesenheit vortrefflich vertragen haben, ich auch in der Lage war, ihm vielerlei Schmeicheleien beizubringen, für welche er nicht unempfänglich ist, so wird er diese Empfehlungen nicht zurück nehmen. Sehen wir also, was geschieht; der Wirkungskreis in Heidelberg wäre nicht übel, die Deutschen haben sich etwas fortgewöhnt, weil es gegenwärtig auch an Lehrern mangelt, aber es kommen noch die Schüler aus Nordamerika, Brasilien, England, Frankreich, Griechenland, Rußland. Das Leben ist lächerlich billig, man macht mit einem Gulden (17 sgr.) mindestens so viel, wie bei uns mit einem Thaler, nur die Wohnungen scheinen theuer, und mit den Süddeutschen wird bei ihren Kneipsitten ein Familienumgang kaum zu arrangiren sein.
Henle zeigte mir am Montag Vormittag seine Anstalten, die für Anatomie ausgezeichnet, für Physiologie äußerst dürftig sind, führte mich Nachmittag spazieren, und lud mich Abends zum Thee. Heidelbergs Lage und Umgebungen sind wundervoll, und sehr bequem zu genießen; man muß es sehen, eine Beschreibung würde Dir doch wenig nützen. Henles Frau, Tochter eines preußischen Officiers, ist jung (der älteste von den 3 Kindern ist 5 Jahr) und von angenehmer Erscheinung und Wesen. Er mag 40 Jahr sein, es scheint ein sehr hübsches Verhältniß zwischen ihnen zu bestehen.
Bei der Weiterfahrt (Dienstag) stieg ich auf Henles Rath einige Stunden in Baden Baden ab, welches reizend gelegen ist in dem nördlichen steilen Theile der Schwarzwaldes. Ich dinirte hoch oben in der Ruine des alten Schlosses Baden bei wundervoller Aussicht, aß dann Eis im Garten der Conversationshauses, um die Badegesellschaft zu sehen, und fuhr weiter. Aber solche nur reizende Landschaften kann man einsam nicht recht genießen; wenn ich mit Dötchen von Heidelberg hinfahren könnte, würde es dagegen uns beiden ganz wundervoll gefallen. Dann nach Kehl.
Am andern Morgen, wanderte ich über die Rheinbrücke, welche der furchtbar geschwollene Rhein fast wegzureißen drohte, in die République française ein. Da hat man viel um sich zu amüsiren. Überall prangt die Liberté, Fraternité, Egalité, an jedem öffentlichen Gebäude Propriété de la nation, an vielen Privathäusern andere fürchterlich demokratische Wahlsprüche. Das Landvolk und die niederen Klassen der Stadt erscheinen ganz wie in Baden, nur scheinen sie stumpfsinniger zu sein, in den besseren Stadttheilen sieht es aber ganz französisch aus. Ich bestieg zuerst den Thurm des Münster. Leider ist der Dom sehr geflickt; was vom Erwin von Steinbach herrührt gehört zum schönsten, was man sehen kann, aber der ältere hintere Theil der Kirche, und die neueren Zuthaten, (oberste Stück der Vorderfront, und eine zugesetzte Etage des Thurms) sind störend. Auch im Innern ist Erwin durch die älteren Theile, denen er sich anschließen mußte, genirt worden; doch macht es theilweise sich äußerst imposant und edel. Der größte Anziehungspunct für das einheimische und fremde Publicum ist aber die Uhr im Querschiff um 12 Uhr. Da drängt sich jeden Mittag diese ganze Abtheilung der Kirche dicht voll Menschen, um den Hahn krähen zu hören, die 12 Apostel von Christus vorüberziehen zu sehen u.s.w. Das Landvolk scheint es als eine Art von täglich erneutem Wunder zu betrachten, zu dessen Anblick sie waltfahrten. Ich sah mir der Scherz natürlich auch an. Außerdem mußte ich auch mein Französisch in Bewegung setzen. Zunächst wollte ich mir eine Scheere mitnehmen, weil ich keine mit hatte, und diese Arbeiten aus dem Elsaß berühmt sind. Im Laden empfängt mich die sehr feine Comptoir Dame, welche kein Wort Deutsch kann. Ich fing gleich damit an, mich gründlich zu blamiren, und sprach ganz im Stile von Julie Kühl. Die Dame half mir sehr höflich nach, und wir verständigten uns. Nachher in einer Restauration war ich schon geübter. Auch hier versah eine Dame das Geschäft. Ich hörte sie ein Deutsch radebrechen, welches ich viel schlechter verstand als das französische, verhandelte deshalb alles mit ihr französisch, und sie war zum Schluß, als ich Münzen zurückverlangte, welche in Deutschland gälten, so schmeichelhaft, sich darüber zu wundern, daß ich kein Franzose sei. Kurz ich würde nicht mehr verzweifeln, mich durch Frankreich durchzubeißen, worauf ich bisher eigentlich keine Hoffnung gehabt hätte. — Nachmittag fuhr ich nach Freiburg. Die Fahrten gehen noch langsam, weil die Gebirgsbäche kürzlich fürchterliche Verwüstungen in Baden angerichtet haben; auch die Eisenbahn ist an vielen Stellen zerstört worden und wird noch jetzt stellenweise durch Omnibus ersetzt. Man staunt, wenn man sieht, wie starke steinerne Bogenbrücken zerrissen, und zertrümmert sind.
Donnerstag früh besah ich mir in dem schön am Fuße des Schwarzwalds gelegenen Freiburg, die Aussicht vom Schloßberg und den Dom mit dem wunderschönen Thurme. Aber auch hier ist das Innere wieder ungleichmäßig ausgeführt, zum Theil aber sehr feierlich und edel, während die gothischen Formen des Chors ganz entartet und schnörkelhaft sind. Nachmittag fuhr ich zum Theil durch höchst romantische Thäler des Schwarzwalds nach Schaffhausen. Ich saß im Cabriolet des Beiwagens mit 2 Dorpater Studenten, einem sehr gebildeten Theologen Engelhardt, dem man nichts von seinem Stande anmerkte, und einem v. Öttingen. Sie kannten Emil und Döring dem Namen nach. Im Innern saßen 3 lustige Schwaben, Ackerbürger, welche in ihrer Weise sehr gemüthlich waren mit Biertrinken und Singen. Oben auf dem Hauptwagen saß ein Engländer mit 3 ziemlich jungen Damen, wahrscheinlich Schwestern eng zusammengequetscht, an denen ich die Beharrlichkeit bewunderte, mit welcher sie in ihren dünnen Kleidern einem gräulichen Platzregen trozten. Wir kamen spät um 11 Uhr nach Schaffhausen; ich blieb vor der Stadt in einem Hotel, welches dicht am Rheinfall oben am Berge liegt, es war Mondschein, man hörte das fürchterliche Brausen, ich trat auf die Terrasse des Hotels um den Fall zu sehen, kam mir aber sehr getäuscht in meinen Erwartungen von diesem Weltwunder vor. Ich sah nichts als eine weiße Stelle unten im Flusse, wo er über einige Steine floß. Ich stieg den Berg herab an das Ufer; da sah er zwar größer aus, mehr wie ein Wasserfall, indessen legte ich mich doch etwas ärgerlich in das Bett. Am anderen Tage freilich sah ich ihn anders. Man kann nämlich bei Abend die Größenverhältnisse nicht erkennen, weil rings herum 200 bis 300 Fuß hohe steile Felsenberge stehen, gegen welche der 60füßige Wassersturz nur klein aussieht, und man sieht die Hauptschönheit des Falles, die dunkelgrüne wunderbare Farbe des Wassers nicht, die in ihrer Mischung mit dem weißen Schaum die herrlichsten Effecte macht.
Freitag.
Erschütternd ist aber der Eindruck, wenn man auf ein Gerüst geht (1 frc. = 8 sgr. Entree) welches am Rande des herabstürzenden Wassers erbaut ist, wo man in nächster Nähe die furchtbare in Schaum und Nebel aufgelöste Wassermasse an sich vorbeistürzen sieht. Anfangs kann man den Anblick kaum aushalten, es vergeht einem die Luft, und man glaubt mit fortgerissen zu werden. Nachher habe ich aber troz der häufig überspritzenden Schaumwellen im Anblick dieser Kraft und Bewegung geschwelgt, und konnte mich lange nicht losreißen. Für die durchnäßten Kleider war übrigens der warme Sonnenschein gut. Im Hotel war übrigens die erste Bekanntschaft mit der Schweizer Gastwirthschaft zu machen. An solchen Hauptpuncten muß man sich nun schon den großen Hotels anvertrauen, und ich sah wie richtig die Regel ist, daß man am besten thut, alles ordentlich zu genießen, was einmal Sitte ist. Ich hatte Frühstück und ein luxuriöses Mittagsmahl eingenommen, und dafür nicht so viel bezahlt als in Berliner Gasthäusern; bei freier Wahl würde ich allerdings nicht so gut gelebt haben. Andere die mit mir d <…> waren <…> daß genau so viel herauskam, wie bei mir. Das rechnen die Schweizer nur als erlaubte Pfiffigkeit.
Am Freitag Abend kam ich nach Zürich, suchte mir Ludwig auf, der mich äußerst herzlich empfing, und mich gleich bei sich einquartirte. Ludwig ist eine wirklich edle und liebenswürdige Natur, und hat sich gegenwärtig noch sehr da- durch verbessert, daß er das burschikose Wesen von ehemals abgelegt hat. Daran ist wahrscheinlich seine Frau Schuld, welche ich bisher nur in Bezug auf ihr stilles verständiges Wesen kennen gelernt habe. Sie sieht etwas hoch gewachsen und nicht recht sicher in der Brust aus; ist gegenwärtig durch das halbjährige Kind noch angegriffen. Sie hat es von Anfang an gepäppelt, es ist jetzt dick und gesund aussehend, aber, wie mir scheint, viel weniger hübsch als unser kleiner Hausdrache.
Heut Vormittag war ich ich[=in] chemischem Laboratorium, Nachmittag mit Ludwig, dem Prosector Meier und einigen jungen Leuten auf dem Ütliberge, wo ich zuerst die Gletscher mit den Schneefeldern in großartiger Majestät hin und wieder durch einzelne Wolkenfenster erscheinen sah. Vor diesen Bergen sind alle anderen Maulwurfshügel <…>
Weitere Briefe schicke noch zunächst nach Interlaken poste rest[ante] wo ich in etwa 12 T<agen sein> werde, d. 17. 8. 51.
S. 61-66 (ohne Fußnoten) aus:
Letters of Hermann von Helmholtz to his wife : 1847-1859 /
eb. by Richard L. Kremer. - Stuttgart : Steiner, 1990. -
(Boethius ; 23)
ISBN 3-515-05583-5
Signatur UB Heidelberg: 90 H 786
Text in eckigen Klammern wurde vom Herausgeber ergänzt;
<…> markieren unleserliche Stellen.
Letzte Änderung: Mai 2014 Gabriele Dörflinger Kontakt
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