Anna von Helmholtz: Briefe zum Tod ihres Mannes 1894

12.07.1894   Hermann von Helmholtz erleidet einen Schlaganfall.
16.07. an ihre Schwester Ida
18.07.
20.07.
24.07. an ihren Sohn Fritz
30.07. an Frau Braun-Artaria
05.08. an ihre Tochter Ellen
03.09. an ihre Schwester Ida
08.09.1894   Hermann von Helmholtz stirbt.
17.09. an ihre Schwägerin Wanda von Mohl
22.09. an ihre Schwester Ida
01.10. an ihren Sohn Fritz
05.10.
13.10. an ihren Sohn Fritz
17.10. an Heinrich von Treischke
22.10.
31.10. an ihre Schwester Ida
04.11.
11.11. an Frau Braun-Artaria
14.12.1894   Gedächtnisfeier in der Berliner Singakademie
16.12. an ihre Schwester Ida

Quelle: Helmholtz, Anna von: Anna von Helmholtz : ein Lebensbild in Briefen / hrsg. von Ellen von Siemens-Helmholtz. - Berlin
Band 2 (1929), Seite 87-98
Signatur UB Heidelberg: F 6834-3-44::2


Marchstraße, 16. Juli 1894.

Liebe Ida!

Ich kann keinen Brief schreiben, kann Dir nur einen Gruß schicken und sagen, daß die Ärzte heute Abend zufrieden sind, daß sie Hoffnung hegen auf langsame Genesung — ob theilweise ? ob ganz ? wer kann das sagen. Der arme Hermann ist so geduldig und leider so klar über seinen Zustand. Sein Bewußtsein ist garnicht geschwunden, seine Sprache ist etwas verändert, aber jedenfalls sind die Erscheinungen nicht fortgeschritten, haben keinen Theil der zum Leben nöthig ist, ergriffen. Qualvoll ist die Hülflosigkeit und Unbeweglichkeit. Schmerzen sind nicht, Gottlob. Hermann war nur so erschöpft, daß ich die Kinder benachrichtigte. Ellens Wiederkehr, die er doch vor drei Tagen an die Bahn gebracht hatte bei ihrer Abreise nach Holland — erstaunte ihn nicht, er fand Alles ganz selbstverständlich. Else Jasmund und Wachsmuth helfen von früh bis spät, sehen die Menschen, schreiben und beantworten alle Anfragen.

Heute sind drei Tage vorüber und es geht hoffentlich still und gut weiter. Ich will noch nicht über die Gegenwart wegdenken, das Morgen wird für sich sorgen. Ich will auch nicht fragen, was schlimmer ist, Hermann herzugeben oder ihn zu einem Scheinleben verurtheilt zu sehen. Jedem Tag seine Sorge, das Pensum ist ja reichlich bemessen für ihn und für uns Alle.

Ich wußte es ja, daß das kommen würde, ich habe die Vorzeichen ja gesehen und bin nur dankbar, daß man daheim war.

Ich bin am liebsten hier oben. Es ist wohl nicht unrecht, alles selbst haben zu wollen — jeden Blick — und jeden Dank.

Ich habe heute Nacht geschlafen, Ellen hatte die erste Nachtwache, ich die zweite. Das Haus ist so gut und stille derzeit.


18. Juli 1894.

Hermanns Gedanken schweifen rastlos umher; Wirklichkeit und Traumleben, Wünsche und Geschehenes, Ort oder Zeit sind in nebelhafter schwankender Bewegung vor seiner Seele. Meist weiß er nicht, wo er ist, glaubt auf Reisen, in Amerika, auf dem Schiffe zu sein. Bei Tage ist Alles so still und friedlich, fast feierlich hier oben, die Phantasien freundlich; bei Nacht ist er unruhiger, will allerlei Unmögliches.

Wenn er spricht, ist er immer streng logisch, denn anders kann er nicht denken. Es ist immer als wäre seine Seele weit, weit weg in einer schönen edlen Sphäre, wo nur Wissenschaft und ewige Gesetze herrschen — dann stimmt das mit Nichts, was ihn umgiebt und er wird unruhig.

Die beiden Victoria-Schwestern sind unermüdlich und haben schon viel gelernt in den sechs Tagen. Ellen, Else und Dr. Wachsmuth sind immer da und ich habe Alles, was Liebe und Theilnahme geben können und kämpfe nur mit mir, um die anderen auch zu einer wirklichen Leistung heranzulassen.


20. Juli 1894.

Heute sind es acht Tage und eine traurigere Woche habe ich kaum verlebt, aber es geht Gottlob viel besser, Leyden hat versichert, daß eine Lebensgefahr nicht mehr bestehe, so weit menschliche Voraussicht gehe, aber es werde lange, lange dauern und vieler Geduld bedürfen, bis das übermüdete Gehirn wieder in Ordnung kommen könne. Ob das jemals ganz geschehen werde, könne natürlich Niemand wissen.

Ich bin ja dankbar und fühle mich reich, ihn überhaupt noch zu haben und es liegt ja Gott sei Dank nicht an uns zu wählen, ob wir ihm ein gehemmtes Leben ohne Betätigung wünschen können oder nicht. Wir haben nur dafür zu sorgen, seine Tage erträglich und licht zu gestalten, alles Andere liegt nicht bei uns.

Fritz wird morgen nach Stuttgart und Hohenheim, Richard über Arnshaugk nach München reisen. Sie haben ihren Vater gesehen, mehr kann ihnen jetzt nicht zu Theil werden, da jeder Wechsel im Zimmer oder Sprechen ihn aufregen.


Marchstraße, 24. Juli 1894.

Lieber Fritz!

Dein Telegramm von heute früh sagt uns, daß Alles nun vorbei ist bei der guten armen Tante Julie, ihr ist wohl!

Papa durfte ich nichts sagen von ihrem Tode — wozu auch, es kann ihm nur Betrübnis bringen und daran hat er ganz genug am eigenen Zustande.

Unsere Tage kennst Du und die Nächte auch. Ein Arzt muß im Hause schlafen, das verlangen die großen Doktoren. Dr. Ernst Kirchhoff kann nicht mehr bleiben. Nun schickt Leyden seinen ausgezeichneten Assistenten, Dr. Georg Bein.

Deine betrübte Mama.


An Frau Rosalie Braun-Artaria, München.

Charlottenburg, Marchstraße, 30. Juli 1894.

Liebe Rosalie!

Ich danke für alle Liebe und Theilnahme, die Sie mir aussprechen. Es geht ja besser bei uns, das heißt unmittelbar ist keine Lebensgefahr mehr vorhanden. Was dieses „besser“ ist, wozu es führt — ob zu einer Art von Genesung, ob nur .zur gehemmten, tragisch verkürzten Existenz, die geistig und körperlich nur des „Unzulänglichen“ allzu sehr bewußt, sich mit Geduld und Entsagung wappnen muß, wer weiß es, wer kann es sagen? Ich verehre und liebe meinen Mann zu sehr, um der Frist froh zu werden, die uns noch vergönnt ist, um ihm zu zeigen, was er uns ist.

Noch liegt er hülflos auf seinem Lager. Sein Geist kämpft halbwach mit Träumen, die ihm die Wirklichkeit umschleiern und ihn quälen, bis er sie stundenweise abschüttelt und dann klar und superior ganz der Alte ist. Ach, es ist so tragisch, des Lebens Schwere so auf ihm lasten zu sehen. Fast war es noch leichter, als ich allein es kommen sah und fühlte. Ich merkte, wie er den übermüdeten Kopf zwang, die Schleier zu durchbrechen, die ihn umfingen, sobald er irgend eine Anstrengung gehabt. Nur wissenschaftlich war er nach wie vor derselbe: klar, theilnehmend, entscheidend und entschieden. Alles was zum Persönlichen, zum allgemeinen Menschlichen über die nächsten Angehörigen hinaus, gehörte, war ihm unsäglich mühsam. Musik freute ihn, auch Bilder, aber er war rasch müde und wir thaten Alles nur halbe Stunden lang.

Die zwei Tage München, die Stunden bei Lenbach waren die besten seit vorigem Herbst, seit jenem Sturz! Mein alter Großonkel, der Kanzler Authenried, sagte — er starb am Gehirnschlage — beim ersten Anfall: es läutet zum ersten Male in der Kirche, dreimal läutet es, dann komme ich! Ich habe das Wort in meiner Kindheit zitieren hören und es verläßt mich nicht.

Der Mensch, der hohe gute Mensch, müßte scheiden dürfen ohne solche trostlosen Zeiten — man sinnt und sinnt über das Warum. Die Lösung ist uns versagt, mir aber wächst die Zuversicht, daß sie einst sich finden müsse, daß Alles, was wir Leben nennen, gar nicht das Wahre ist und daß das ewige Fühlen, die Liebe in uns, doch die Vorstimme des Wirklichen ist. Man kann es nicht aussprechen und Ihrer klaren Seele, liebe Rosalie, ist solch unbestimmte Mystik ein Gräuel, ich weiß es, und doch tröstet sie mich. Sie und die Arbeit — die Pflege, die Sorge, die Liebe die ich theile mit Allen, die ihm nahe kommen.

Wie oft ist es mir ein Rätsel, daß er — der dem, was er empfindet, aus Naturanlage und aus heiliger Scheu, fast niemals Ausdrück giebt — so viel Liebe, so viele persönliche Hingabe erweckt hat! Da wirkt doch auch das Ewige, Unausgesprochene.

Ich bin umgeben von hülfbereiten Menschen, die ja Alle ihm nichts, mir nur wenig helfen können. Ellen allein ist ihm eine sichtliche Freude, wenn sein Auge auf ihre Erscheinung fällt, ist er erfreut.

Ihre Anna H.


Marchstraße, 5. August 1894.

Liebe Ellen!

An diesem heute noch wehmütigerem Tage war Alles ruhig und friedlich, Papa aber sehr weich und traurig heute. Er sprach vom Ende des Jahres und vom Ende des Lebens, die zusammenfielen, und weinte und sagte dann: er wolle es doch noch nicht aufgeben.

Er weiß, daß Du fort bist um die Kinder zu holen.

Da unten in all den vielen Stuben zu sitzen ohne ihn, ist so schrecklich. Er oben — und nie mehr mit uns. Oh liebe Ellen, wie danke ich Gott, diese Frist zu haben, in der wir ihm zeigen können, was er uns ist und auch es ganz und voll zu fühlen, wie das Leben sein würde ohne ihn. Ich kann immer nur danach ringen, in Geduld und Zufriedenheit durch den Tag zu kommen and „leave results to God“.

In Liebe

Deine Mama.


Marchstraße, 3. September 1894.

Liebe Ida!

Ich hatte mir gestern eine Sonntagsfreude bereiten wollen und Dir einen langen Brief zu schreiben beabsichtigt. Es ging nicht, ich war mürbe und gab es auf. Die Seele ist doch nur ein Körperzustand, eine schlaflose Nacht stört das moralische Gleichgewicht des ganzen berühmten Menschen.

Hermann hatte mir so viele Grüße und Dank an Euch aufgetragen, als ich ihm Eure Blumen brachte. Sie dufteten köstlich und standen den ganzen Tag neben seinem Bett. Ich hatte mich so gefürchtet vor dem Tage und er war so schön und harmonisch und still geworden. Arnold und Ellen waren schon da, als ich um acht Uhr herunter kam und an der Wand im kleinen Salon hingen drei wunderbare Pastellbilder und Alles war voll Lorbeer und Lilien. Ellen in der Mitte mit dem kleinen Günther auf dem Arm, hoch, schlank, blond und poetisch im weißen Gewand, scheinbar schreitend, künstlerisch wundervoll, sowohl zeichnerisch als koloristisch.

Hermann hatte einen so guten, milden, freien Tag, — sah etliche seiner Herren aus der Reichsanstalt und küßte alle fünf Enkel. Dann kam ein müder Sonnabend.

Zum Glück war Unterstaatssekretair von Rottenburg am Geburtstage bei mir gewesen und hatte Hermann sagen lassen, der Kaiser werde nie in seine Pensionierung willigen, diesen Gedanken solle er nur fahren lassen! Und so kann ich das nun ruhig unzählige Male im Tage wiederholen, um ihn zu beruhigen.

Er spricht viel davon, daß er bald nicht mehr sein werde und ach! er thut Einem zu schrecklich leid.

Wir haben vollkommen Herbst; auf zwei strahlend schöne Tage, die aber zu windig waren, um Hermann in den Garten zu bringen, ist nun einer jener stillen duftigen, grauen Tage gefolgt — mit dem kräftigen Herbstgeruch darin — die uns an den Wandel alles Irdischen gar sehr gemahnen.

Deine Anna.



In der Nacht zum 4. September 1894 begannen die Schatten des Todes herab zu sinken.

Sein letzter Morgengruß lautete:

„Es ist schwer — es ist schwer“

„Ich möchte, daß Du noch Schönes findest.“

Am Morgen des 8. September hauchte Hermann von Helmholtz sein irdisches Leben aus.



Charlottenburg, 17. September 1894.

Liebe Wanda!

Ich habe Alles verloren und kann es noch nicht fassen, daß ich mein Leben dunkel und einsam noch weiterführen soll. Und doch kann ich nur danken, Gott danken dafür, daß er ihn hinweg genommen, ehe seine Krankheit ihm noch schwerer zu tragen geworden, daß er nicht ein halbumnachtetes, gebrochenes Dasein zu führen verurtheilt wurde. Ich will das schreckliche Warum? nicht fragen, auf das es keine Antwort giebt als „Dein Wille geschehe.“

Daß ein so großes schönes Leben, daß ein so hoher reiner Sinn zu Grunde gehen mußte wegen eines winzigen körperlichen Defektes, daß seine ganze vollkommene Gesundheit und Kraft, daß Vieles, was er — und nur er noch schaffen konnte, nun gebrochen und unvollendet liegen muß, scheint so unbegreiflich! Das Persönliche schweigt noch ganz. Ich sehe hinunter auf das Reich, das er geschaffen, das er mir zum Genießen und Verwalten gegeben: und ich stehe ja noch ganz ohne Bewußtsein, ohne Fassung vor dem Unbegreiflichen! Ich durchlebe jeden Tag und jede Stunde und ich kann es nicht fühlen und nicht denken, daß er von uns genommen ist.

Gott gebe uns den Frieden, nachdem ich ringe und die Ruhe, die des lieben Mannes allein würdig ist, um mein Leid in Stille zu tragen und um in seinem Sinne und in seinem Wesen den Rest meines Daseins zu verbringen.

Die Kinder, die Geschwister, die Freunde, alle Menschen sind so gut. Sie haben ihn ja mit geringen Ausnahmen nur geahnt, nicht gekannt. Aber Alle haben sein Wesen verspürt und Keiner ging jemals aus seiner Nähe, ohne einen Hauch seines Wesens mitzunehmen. „Und er war Unser“, liebe Wanda, so dürfen auch wir sagen und danken müssen wir immer.

Ich sehe im Morgensonnenschein hinüber nach den alten Bäumen, wo er nun ruht, und noch verstehe ich es nicht, daß sie noch Anderes als unseren geliebten Robert beschatten, daß nun fast mein ganzes Leben dort zu Grabe getragen ist. Alle sagen, er ist unersetzlich, aber nur Wenige wissen das, außer mir.

Nun ist es wieder Tag geworden und ich muß ihn wieder durchleben. Ich wollte es wäre Abend.

Behalte mich lieb.

Deine Anna.


22. September 1894.

Seit Ihr fort seid, liebe Ida, steigt das Gefühl der Verlassenheit von Tag zu Tag. Immer mehr erkenne ich, was ich verloren an meinem edlen herrlichen Mann, immer mehr sehe ich, daß ich es ihm nie genug gezeigt, daß ich Alles so selbstverständlich gefunden hatte, wie stets das Gute, das mir ward. Immer dankbarer bin ich für ihn und immer trauriger für mich. Aber sein Geist der Höhe und Ruhe muß uns helfen über Äußeres und Zufälliges hinwegzukommen. Meine Aufgabe ist es jetzt, mein Leben — wenn auch nicht freundlich, wie er es wünschte, — aber doch ruhig und seines teuren Andenkens würdig zu gestalten. Ich lasse Ellen die traurigen Pflichten treulich teilen, wie sie die schönen Pflichten und Rechte teilte. Wir gehören ja unlösbar zu einander.

Fritz hat den ganz entschiedenen Wunsch ausgesprochen, diesen Winter noch einmal nach Hohenheim zu gehen. Er möchte seine vier Semester dort haben, um fertig zu studieren, das möchte ich ihm nicht kürzen und beschneiden: „Vergeßt nur den Fritz nicht“, hat Hermann immer wieder gesagt.

Die Wiener Naturforscher haben mich um ein Bild von Hermann gebeten für ihre Eröffnungsfeier. Ich habe Dr. Wachsmuth mit dem Lenbach Bilde, das in Dresden ausgestellt ist — mit Lenbachs Erlaubnis — nach Wien geschickt als meinen Delegierten. Er bringt es selbst dorthin und dann hierher zurück. Ich glaube, ich habe ihn damit in seiner persönlichen Stellung zu Hermann dokumentiert, als einen kleinen Dank für seine viele Liebe.

Lebt wohl, freut Euch, daß ihr beisammen seid und denkt meiner in Liebe.

Deine Anna.


Wannsee, 1. Oktober 1894.

Mein lieber Fritz!

Ich bin wieder hier bei Ellen, bei den Kindern, habe die stillsten, idealsten Herbsttage hier gehabt, weltentrückt, fern von den vielen jetzt heimkehrenden, theilnehmenden Freunden. Das Reden bringt mich um die mühsam bewahrte Ruhe, hier habe ich die Wohlthat, schweigen zu können — immer schweigen, das ist das Beste, um nicht die Fassung ganz zu verlieren. Die wieder eingetretene Regelmäßigkeit des Lebens, das Vermissen und Entbehren sind so überwältigend jetzt, daß ich schier untergehe. Aber ich muß auch diese Stadien durchmachen auf dem Leidenswege — bis dann dieses Leben in der Erinnerung, in meinen eigensten Erinnerungen neu anfangen und mir weiterhelfen wird.

Heute fahre ich, um meinen Bürgermeister in Potsdam zu besuchen. Dort haben alle Glocken eine Stunde lang während der Beisetzung geläutet und in allen Klassen des Gymnasiums war eine Gedenkfeier.


5. Oktober 1894.

Ich bin über Sonntag wieder zu Haus, bleibe in meiner stillen Stube oder wandere im Garten, in dem stillen leisen Herbstwetter umher — denn unser guter Freund Professor Pringsheim ist nun auch gestorben. Renvers hat auch dort mit Gerhardt die Totenwache gehabt und die Sterbenacht geteilt, allein mit den beiden Töchtern.

Hier, wo ich noch umgeben bin von den Lenbachschen Werken, die so ganz Papas schöne Erscheinung geben, bin ich noch nicht zur Loslösung von seiner Gegenwart kommen.


13. Oktober 1894.

Meine besten liebsten Wünsche sind bei Dir am 15., mein lieber Fritz. Möchtest Du an diesem Wendepunkt Deines Lebens, wo Dir die beste Stütze genommen ist, im Andenken Deines teueren Vaters mit Gottes Hülfe Kraft finden, Dir Deinen Weg zu suchen und ihn im Sinne Deines Vaters treu und gewissenhaft zu gehen. Wir können alle nicht mehr tun, als die Gaben, die wir erhalten haben, nützen nach bestem Wissen und Gewissen.


22. Oktober 1894.

Ende November oder Anfang Dezember soll die große Gedächtnisfeier für Papa stattfinden, von den verschiedenen gelehrten Gesellschaften hier veranstaltet: die medizinische, die physikalische, physiologische, chemische, elektrotechnische und die Gewerbefleiß Gesellschaft haben die Sache in Anregung gebracht. Joachim wird die Musik leiten, Herr von Bezold wird sprechen.

Heute Nachmittag versuchte ich es, einige erste Besuche zu machen, aber es geht noch nicht und ich gebe es noch eine Weile auf. Briefe ordnen geht auch nicht, es ist eben alles schwer.

Estelle du Bois ist bei mir und übersetzt mit großem Eifer und Dr. Wachsmuth corrigiert es mit ihr, so bin ich nicht allein und Estelle ist beschäftigt — zwei Dinge, die für mich nöthig sind. Eine unbeschäftigte Gesellschaft, die mich umgeben möchte, kann ich nicht ertragen. Ich wollte sie bliebe immer bei mir. Grüße mir Zellers.

Deine treue Mama.


Anna von Helmholtz an Heinrich von Treitschke.

Charlottenburg, Marchstraße 25 B, 17. X. 94.

Lieber verehrter Freund!

Wie haben Sie mich gerührt und erfreut durch die Zusendung Ihres 5ten Bandes. Daß Sie mir die Nachfolgerschaft im Anrecht auf Ihr Werk gegönnt haben, ist mir mehr wert, als ich Ihnen aussprechen kann. — Wie wird es meine traurige Einsamkeit erfüllen, und im Gedanken der wunderbaren Gemeinschaft, in der ich die früheren Teile genießen durfte, mir fast den alten Zustand hervorzaubern!

Ich habe gleich die Seiten aufgeschlagen, die Sie den Naturwissenschaften widmen, und tief ergriff mich, was Sie über meinen Mann gesagt! Wie stolz wäre er gewesen über den Ehrenplatz in diesem Werke!

Ja die Bibel hat Recht: Welchem viel gegeben ist, von dem wird man viel fordern. Sie tun danach; mein Mann that so — und ich lerne die passive Seite des Hergebens kennen. — Es ist unsäglich schwer an den Neuaufbau eines alten einsamen Lebens heranzugehen! und, ach, so unnütz.

„Schwer, schwer“ lauteten fast die letzten Worte meines Mannes — er hat sie auch für mich gesagt. Aber ich will ja nicht klagen, sondern danken. In treuer Freundschaft

Ihre

Anna Helmholtz.


Marchstraße, 31. Oktober 1894.

Liebe Ida!

Ich kann noch wenig thun, bin zu sehr darnieder an Körper und an Geist und Alles was sein müßte, ist mir so einerlei, daß es eben auch nicht geschieht. Aber zur inneren Einsamkeit kommt nun auch die äußere. Im Anfang konnte ich Keinen sehen, nun kommt Keiner mehr, statt fünfzig Briefen pro Tag kommt in Tagen nun auch keiner mehr. Die Todesstille in mir und um mich wird täglich tiefer. Traurig beginnen die Tage, trauriger schließen sie und schrecklich sind die Nächte ohne Schlaf und ohne Trost.

Der arme Professor Leyden hat auch seinen Zaren nicht retten können, es war zu spät und die Krankheit zu lange schon bestehend, als daß andere Pflege ihm noch hätte helfen können. Es war drückend schwül in Livadia, geistig und klimatisch, Alles nur mit dem einen Gedanken, mit Wunderpriestern und sonstigem Unsinn erfüllt. Nun ist auch Leyden erlöst aus dieser aussichtslosen Position.

Bei uns wechseln Kanzler und Minister wie Wandeldecorationen; keiner weiß recht warum. Hohenlohe ist aber ein passender Herr für hier und ebenso der Langenburger Hohenlohe für Straßburg, mit seiner sympathischen, badischen Prinzessin als Frau.

Hermanns buchhändlerische Angelegenheiten habe ich jetzt zu. ordnen, wie er sie mit mir besprach. Der Verleger der Physiologischen Optik kommt herüber aus Hamburg und ebenso der Verleger aus Leipzig. Ich habe Professor Planck gebeten, an Hermanns Stelle einzutreten und die Oberaufsicht über die Publikationen zu haben.

Abends am Allerheiligentag. Ich habe so viele alte Briefe von Hermann gelesen. Sie sind so schön, zum Theil an seinen Vater gerichtet und vor vierzig und fünf und vierzig Jahren geschrieben — so milde gehalten, so reif und superior wie später. Immer der hohe Standpunkt, ohne die Möglichkeit, an sich je zu denken. Ich bin aber ganz krank darüber geworden und habe es jetzt aufgegeben und ordne nur mechanisch dem Alphabet und dem Jahrgange nach.


4. November 1894.

Es ist eine eigene Art von Wiederaufleben mit diesen Briefen eingezogen in meine Seele; alles Schöne, alles Liebe ist wieder in das Bewußtsein getreten, das durch unser letztes Schreckens jähr ganz weit fortgerückt und nur in Angst verwandelt war. Angst immer Angst hatte ich seit mehr als einem Jahr und da ich sie nicht zeigen durfte, wurde ich unruhig.

Unsere Flaggen wehen wieder Halbmast wie vor zwei Monaten, diesmal für den Kaiser von Rußland.

Deine Anna.


An Frau Rosalie Braun-Artaria, München.

Charlottenburg, Marchstraße, 11. November 1894.

Geliebte Freundin!

Daß Sie trotz meines trüben Schweigens nicht müde geworden sind in der Theilnahme für mich, ist gar lieb und wohlthuend; ich erspare Allen den traurigen Verkehr und habe mich in Schweigen versenkt, der einzigen Wohlthat, die mich über Wasser erhält derzeit. Meine gerühmte Kraft ist gleich Null — die hatte ich nur, solange ich im sicheren Besitz des großen Hintergrundes war, der meinem Leben Wert gab und auf dem es sich abspielte. Aber jetzt ohne Mittelpunkt, ohne die Sonne, die Leben, Licht und Segen spendete, ist meine Existenz so wertlos und so gleichgültig, daß ich wie eine entwurzelte Pflanze nutzlos am Wege liege.

Seit anderthalb Jahren habe ich immer Angst gehabt, es könne ihm etwas zustoßen, wie und was, das wußte ich nicht. Äußerlich habe ich ihm Alles aus dem Wege geräumt, habe aber das Gefühl gehabt, daß innerlich sich eine Wandlung vollzieht. Er ist gewiß deshalb nach Amerika gefahren und ich mit. Bis auf das Schiff habe ich ihn gut zurückgebracht, dann kam er zu Schaden. Von jener Gehirnerschütterung und dem Blutverlust hat er sieh nicht mehr erholt. Ein Schlaganfall war es damals nicht, wie die Sektion ergab.

Die Zeit der Krankheit war unendlich schön, trotz der Wehmut, die uns ja nie verließ. Seine Art, das Leiden zu tragen, das ihn so unsagbar quälte — es war Alles so milde, groß und schön! Ich möchte diese lange Zeit des Abschieds nicht missen aus der Kette meiner Erinnerungen, nicht seinen, nicht meinen Dank für alles Gewesene.

Wer ein so selten schönes lichtes Leben gehabt hat wie ich, trotz alles Schweren, was mit dabei war — der hat auch viel, viel mehr aufzugeben, als Andere ahnen können.

Eigentlich muß ich heraus aus diesem Haus, das so ganz für uns gebaut ist. Es giebt ja aber keinen jüngeren Nachfolger derzeit, da die drei ersten Physiker in einem Jahre gestorben sind. Ich gehe sehr allmählich an die Umgestaltung meines Lebens; ich möchte fort, es ist aber nur eine Flucht vor mir selbst und würde nichts nützen und Andere nur quälen.

Ich sortiere alte Briefe, aber ich wage nicht viel wegzuthun, man weiß nie was richtig ist, was nicht — und so geht die Zeit dahin.

Ihre Anna H.


Marchstraße, 16. Dezember 1894.

Liebe Ida!

Der schöne traurige Tag ist nun auch vorbei. Es war schön, feierlich, weihevoll und ganz harmonisch und würdig — ohne einen Mißklang, ohne Unruhe, ohne zu große Weichheit und Wehmut — ernst und groß. Und Joachims Abschiedsgruß — das Schumann'sche Abendlied und wie er das spielte! Wie Plancks leise Orgeltöne es begleiteten — war einfach überirdisch! Kunst sagt doch Alles, was Worte nur ahnen lassen und nur die Kunst versöhnt. Bei jenen Worten bleibt es immer: Mir gab ein Gott zu sagen was ich leide. Aber Musik — Töne — Übermenschliches — Himmlisches kann nur der gottbegnadete Freund uns in die Seele geben! Wie ich es ihm dankte, Gott allein weiß es — denn ich stehe ja einsam und innerlich schweigend, wie „die Tanne im Norden auf kahler Höhe“ — die Höhe lasse ich mir nicht rauben, die bleibt — daß sie kahl ist, ist ja auch von Gott bestimmt.

Lady Rayleigh schrieb mir: You could not bear it — if strength was not given us to bear almost anything — and then — it is only for so short a time. Das ist der Trost.

Wenn ich so wach liege und mich immer wieder frage wozu?, wenn ich an Mamas zwanzig Jahre des Alleinseins denke, die sie ohne alle Seelenqualen verbracht hat, welche das Gefühl des Unnöthigseins bringt, rührend und tätig verbracht hat, dann schäme ich mich. Ich lese bis die Augen mir weh tun und weiß eine Stunde danach nicht mehr, was ich gelesen. Die Worte fehlen mir mitten im Satz, wenn ich spreche — kurz ich bin seelisch und geistig zu krank, um mich herausarbeiten zu können. In all dieser Seelenpein ist es doch die alte Bibel noch am ersten, die da zu mir spricht mit ihrer Jahrtausende alten Wahrheit und am Schlusse und am Anfang aller Tage sage ich mir: „Laß leuchten Dein Licht über mir und gieb mir Deinen Frieden“ — mehr will ich ja nicht.

Der Kaiser war sehr ergriffen von der Feier, sagte dem Redner Professor von Bezold: „Ich möchte Sie fast beneiden, daß Sie von einem solchen Manne so sprechen konnten“, und dann zu Minister Delbrück gewendet, sagte er: „Nun bitte ich aber an die Errichtung eines Denkmales, eines Standbildes von Helmholtz heran zu gehen.“ Dann fügte er hinzu: „Ich gebe den Platz und zehn Tausend Mark.“

Kaiserin Friedrich sagte mir, der vierzehnte Dezember sei der Todestag ihres Vaters und der ihrer Schwester Alice von Hessen gewesen; sie sei noch nie an diesem Tage ausgegangen: „Es war Alles sehr gut und schön — nur Eines fehlte mir, ein paar Worte über Robert hätte Bezold sagen müssen!“ — Ich hatte das auch empfunden, aber Bezold hatte Alles, was zur Rührung führen konnte, sorgsam herausgethan aus seiner Rede und hatte drei Wochen gebraucht, um sie zu kürzen und abzurunden.

Eure Anna.


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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