Antrittsrede von L. Fuchs in der Preußischen Akademie der Wissenschaften

Darauf hielt Hr. FUCHS folgende Antrittsrede:

Der heutige Tag, an welchem ich zum ersten Male als ordentliches Mitglied an einer öffentlichen Sitzung der Königlichen Akademie der Wissenschaften Theil nehme, giebt mit die willkommene Gelegenheit, der Akademie für die hohe Auszeichnung zu danken, welche mir durch die Aufnahme in diesen Kreis der hervorragendsten Vertreter aller Zweige wissenschaftlicher Forschung zu Theil geworden. Ich schätze mich glücklich, in Vereinigung mit Männern, welche ich schon seit meinen ersten Schritten in den mathematischen Wissenschaften als Vorbilder und zum Theil als unmittelbare Lehrer verehrte, mich den Aufgaben dieser Akademie widmen zu können. Möge es mir vergönnt sein, durch die That das Vertrauen, welches die Akademie in mich gesetzt, zu rechtfertigen, insbesondere dadurch, dass ich auf den Wegen, welche ich eingeschlagen, Einiges für die Wissenschaft Erspriessliches erziele.

Meine ersten selbständigen mathematischen Versuche bewegten sich auf den Gebieten der Zahlentheorie und desjenigen Theiles der Geometrie, welcher mit der Theorie der partiellen Differentialgleichungen zusammenhängt. Der grossen Mannigfaltigkeit ihrer Methoden verdankt die Zahlentheorie die Eigenthümlichkeit, jedem der sich ihr widmet, ein schätzenswerthes Geschenk mit auf den Weg geben zu können, auch wenn dieser Weg scheinbar weitab von den eigentlichen Zielen dieser Wissenschaft führt. So fand auch ich mich durch die Beschäftigung mit derselben gefördert, als ich durch die genannten geometrischen Studien zur Analysis übergeführt worden war, wo ich bald insbesondere der Theorie der Differentialgleichungen und der sich daraus ergebenden Functionen mein Interesse zuwandte.

In älteren auf Differentialgleichungen bezüglichen Forschungen betrachtete man zumeist die Integration solcher Gleichungen als vollendet, wenn es gelungen war, sie so umzugestalten, dass man auf dieselben sogenannte Quadraturen ausüben konnte. Wenn nun auch nicht geläugnet werden soll, dass die dahin zielenden Untersuchungen zu vielen bedeutsamen Resultaten geführt haben, so darf man jedoch nicht übersehen, dass einerseits die Zurückführung auf Quadraturen nur in den seltensten Fällen möglich ist, und dass diese andererseits in den Fällen, wo sie gelingt, über die Natur der Integrale der Differentialgleichungen nicht genügenden Aufschluss giebt. Die letztere Behauptung wird schon durch das einfache Beispiel der Differentialgleichungen, welchen die elliptischen Functionen genügen, bekräftigt, da hier die Quadratur unmittelbar gegeben, und doch erst die grosse von ABEL und JACOBI ausgebildete Theorie der elliptischen Functionen erforderlich ist, um die Eigenschaften der Functionen zu ergründen, welche jene Differentialgleichungen befriedigen. — Wir fassen vielmehr die Aufgabe der Integration der Differentialgleichungen dahin auf, die Natur der Functionen zu kennzeichnen, welche denselben als Integrale genügen.

Tritt man nun an diese Aufgabe heran, so erkennt man sofort, dass hier, wie oft in der Wissenschaft, ein Erfolg nur durch Beschränkung zu erzielen ist. Denn der weiteren Verfolgung der Eigenschaften, welche den Integralen aller Differentialgleichungen zukommen, wird bald dadurch eine Grenze gesetzt, dass es solcher Eigenschaften nur wenige giebt. In Wahrheit sind es eben die Singularitäten, die einer einzelnen Gleichung zukommen, welche die wesentliche Natur neuer Functionsclassen begründen. Es ist vielmehr die zunächst zu verfolgende Aufgabe, die Differentialgleichungen nach gemeinschaftlichen Merkmalen ihrer Integrale in Classen zu gruppiren und jede einzelne Classe einem gesonderten Studium zu unterziehen. — Bei der Aufsuchung gemeinsamer Merkmale, wonach eine solche Classe zu bilden ist, muss man natürlich bekannte Functionenkreise zu Hülfe rufen. So ist es eine Eigenthümlichkeit einer algebraischen Function, dass alle Wege der unabhängigen Variabeln für dieselbe nur eine beschränkte Anzahl von Werthen hervorbringen. Eine Classe von Differentialgleichungen wird den algebraischen Gleichungen zwischen zwei Variabeln am nächsten stehen, wenn die durch alle Wege der unabhängigen Variabeln erzielten Integralwerthe durch eine beschränkte Anzahl von Elementen am einfachsten ausdrückbar sind. Diese Classe ist die der linearen Differentialgleichungen mit algebraischen Coefficienten, deren Integration im oben bezeichneten Sinne von mir unternommen wurde. Nachdem ich die Grundlagen der Theorie dieser Differentialgleichungen entwickelt, zeigte sich alsbald, dass dieselbe nicht nur auf bereits erforschte Gebiete der Analysis neues Licht werfen, sondern dass dieselbe auch zu neuen Problemen und Zielen hinzuführen geeignet sei. In der That hatte ich die Genugthuung, dass sich seit dem Erscheinen meiner ersten auf lineare Differentialgleichungen bezüglichen Abhandlungen eine grosse Anzahl von Mathematikern mit mir in dem Streben vereinigte, theils die Theorie der linearen Differentialgleichungen selbst fortzubilden, theils die mannigfachen durch diese Theorie hervorgerufenen functionentheoretischen Fragen zu erforschen.

Ein tieferes Eingehen auf die Natur der Functionen, welche den eben bezeichneten Differentialgleichungen genügen, veranlasste mich auch eine Classe von Functionen mehrerer Variabeln einzuführen, wovon die ABEL'schen Functionen einen besonderen Fall bilden. Hier handelt es sich zunächst um die Frage, welcher Art diejenigen Functionen sind, welche in dem JACOBI'schen Umkehrungssatze die Stelle der algebraischen Functionen einnehmen dürfen, wenn die Umkehrbarkeit erhalten werden solle. Nachdem mir die Lösung dieser Frage und die Auffindung einer Eigenschaft der ersteren Functionen gelungen, welche für die neue Functionengattung eine ähnliche Grundlage bildet, wie das ABEL'sche Theorem für die algebraischen Functionen, bleibt nun vor Allem noch das Problem zu lösen, die eingeführten Functionen mehrerer Variabeln analytisch darzustellen, für diese Functionen also dasselbe anzustreben, was für die ABEL'schen Functionen von Hrn. WEIERSTRASS und von RIEMANN geleistet worden ist. — Zu einem weiteren Forschen werde ich auch auf diesem Gebiete durch den glücklichen Umstand ermuthigt, dass meine Untersuchungen zu fruchtbaren Arbeiten anderer Mathematiker Anlass gegeben. So ist, angeregt durch das Studium meiner ersten Arbeiten auf diesem Gebiete, und ausgehend von der durch Umkehrung des Quotienten zweier Integrale einer linearen Differentialgleichung zweiter Ordnung entstehenden Function, welche ich in diesen Arbeiten im allgemeinen Sinne einführte, nachdem ich besondere Fällt derselben in meinen Untersuchungen über lineare Differentialgleichungen schon früher behandelt hatte, Hr. POINCARÉ dahin gelangt, die Integrale der linearen Differentialgleichungen auf ähnliche Weise darzustellen, wie man die Integrale algebraischer Functionen mit Hilfe der ABEL'schen Functionen ausdrückt.


Hrn. FUCHS antworte Hr. AUWERS:

Als wir zu Anfang dieses Jahres Kenntniss davon erhielten, dass Sie Hr. FUCHS, bereit seien, einen lieb gewordenen und fruchtbaren Wirkungskreis mit dem grössern Arbeitsfelde zu vertauschen, für dessen verstärkte Arbeitskräfte erfordernde Pflege unsere Universität Ihre bewährte Mitwirkung zu gewinnen wünschte, haben wir uns beeilt die Verbindung noch enger zu ziehen, in welcher Sie bereits vor einigen Jahren zu der Akademie getreten sind, in der Überzeugung, dass die Continuität in einer würdigen und erfolgreichen Vertretung der Mathematik, deren die Akademie seit langer Zeit sich rühmen darf, nicht besser gesichert werden könnte als durch den Gewinn eines Forschers, der schon in verhältnissmässig früher Zeit dem mathematischen Königsreich eine neue Provinz hinzugefügt und in der erfolgreichen Durchforstung und fruchtbringenden Aufschliessung derselben eine Lebensaufgabe gefunden hat, die schon reichen Gewinn der Wissenschaft zugeführt hat und noch reichern derselben verheisst.

So hat es uns dann zu aufrichtiger Freude gereicht, Sie mit der Übernahme des hiesigen wichtigen Lehramts sogleich auch als Mitglied in unseren Kreis eintreten zu sehen, in dessen Namen ich Sie heute feierlich begrüsse und herzlich willkommen heisse.

Zwei Jahrzehnte sind jetzt beinahe verflossen, seitdem Sie die allgemeine Aufmerksamkeit der Mathematiker auf Sich lenkten durch Ihre grundlegende Arbeit ,,Zur Theorie der linearen Differentialgleichungen, deren Coefficienten rationale Functionen einer Veränderlichen sind''. Bei der Ausführung dieser Arbeit brachten Sie zum ersten Male die Gesichtspunkte zur Geltung und dasjenige Princip zur Durchführung, welchen Sie in den soeben vorgetragenen Darlegungen als die erste Bedingung eines wirklichen erheblichen Fortschrittes auf dem Gebiete der Theorie der Differentialgleichungen hinstellen. Wie sehr Ihre Anschauung in der Natur der Aufgabe begründet war, und wie richtig Sie den praktischen Weg zu deren Befolgung gefunden und weiter gewiesen haben, zeigen nicht allein die weiteren Erfolge, welche Sie seitdem auf diesem Wege erlangt haben, sondern zeigt sich vor Allem auch der Eifer, mit dem in der Erkenntniss, dass ein neues fruchtbares Gebiet der Analysis erschlossen sei, eine nicht geringe Zahl anderer Mathematiker Ihnen auf demselben gefolgt ist, und mit Ihnen gewetteifert hat, die neue Theorie in schneller Folge mit vielen wichtigen und schönen Ergebnissen zu bereichern.

Den methodischen Weg, auf welchem die specielle Durcharbeitung des grossen durch Ihre Theorie im Ganzen zugänglich gewordenen Stoffes mit Aussicht auf Erfolg vorgenommen werden kann, haben Sie in den eben gehörten Darlegungen gleichfalls kurz bezeichnet. Sie Selbst haben Ihre Forschung seit der Vollendung der grundlegenden Arbeit auf diejenigen Specialaufgaben concentrirt, auf welche dieser Weg hinführt, eine andauernde Einschränkung in Bezug auf die Objekte Ihrer mathematischen Arbiet, deren wir uns nur freuen dürfen, weil es Ihnen jedesmal gelungen ist, indem Sie die Frage scharf und richtig zu stellen verstanden, auch ein gesichertes neues Resultat für die Wissenschaft zu gewinnen, und weil der Zuwachs an neuer und wichtiger Erkenntniss, welchen dieselbe aus diesem Gebiet noch zu ziehen hoffen darf, noch unübersehbar ausgedehnt erscheint. Die Verallgemeinerung des JACOBI'schen Umkehrungsproblems, welche Ihnen unlängst geglückt ist, hat Sie aber sogar wiederum an die Grenze eines neuen und selbst verheissungsvollen Gebiets der Analysis geführt. Möge es Ihnen vergönnt sein, und mögen wir Zeugen dessen sein, dass Sie selbst diese Grenze überschreiten, und indem Sie die unbekanntes Functionen wirklich darstellen, deren Existenz Sie durch jene Verallgemeinerung nachgewiesen haben, den Besitzstand der Wissenschaft nochmals ansehnlich erweitern — jedenfalls bleibt Ihnen anlässlich jener schönen Entdeckung das seltenere und vielleicht noch höhere Verdienst, der Forschung Ihrer Zeitgenossen und Nachfolger neue Ziele gezeigt zu haben.


aus
Öffentliche Sitzung vom 3. Juli
In: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. - 1884, 2. Halbband, S. 744-748
Signatur UB Heidelberg: H 64::1884,Juni-Dez

Arthur von Auwers 1838-1915, ab 1866 Astronom der preußischen Akademie der Wissenschaften.

(Immanuel) Lazarus Fuchs 1833-1902, ab 1884 ordentlicher Professor der Mathematik in Berlin.


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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