Gustav Kirchhoff

Warburg, Emil:
Zur Erinnerung an Gustav Kirchhoff
In: Die Naturwissenschaften. - 13 (1925), S. 205-212

UB-Signatur: O 29-15 Folio::13.1925


Während HELMHOLTZ' Persönlichkeit in der umfangreichen Biographie KÖNIGSBERGERs eingehend geschildert wurde, ist über KIRCHHOFFs Persönlichkeit, außer dem allgemeinen in den Nachrufen von R. v. HELMHOLTZ,  A. W. HOFMANN u. a. enthaltenem wenig bekannt; nur das Vorwort zu der erwähnten Schrift BOLTZMANNs enthält einige biographische Notizen nach Briefen von KÖNIGSBERGER, QUINCKE, KRAUSE als „Vorarbeit zu einer Biographie“. Infolge einer Anfrage von mir bei KIRCHHOFFs Kindern ist eine große Zahl von Briefen KIRCHHOFFs an seine Brüder, seine Mutter und einige Fachgenossen, sowie von Briefen seiner ersten Frau CLARA aufgefunden worden. Ich erlaube mir, eine Auswahl davon mitzuteilen. Zwar enthält das Material nichts auf wissenschaftliche Fragen bezügliches, gewährt aber einen tiefen Einblick in das Gemütsleben KIRCHHOFFs, welcher in sehr innigem Verhältnis zu seinen Brüdern stand und sich ihnen gegenüber rückhaltlos äußerte.

GUSTAV ROBERT KIRCHHOFF wurde am 12. Mai 1824 in Königsberg geboren, als jüngster von drei Söhnen des Justizrats CARL FRIEDR. KIRCHHOFF und dessen zweiter Frau geb. v. WILCKE. Es war eine fröhliche Kinderzeit, welche die drei Brüder CARL, OTTO und GUSTAV im elterlichen Hause verlebten. Sie waren große Freunde des Theaters und des Theaterspielens, es sind noch 40 Theaterzettel über die von ihnen aufgeführten Stücke vorhanden. Was insbesondere GUSTAV anlangt, so war er kleiner als seinem Alter entsprach, wie er überhaupt auch später kaum Mittelgröße erreichte, in früher Jugend hatte er außerdem etwas Mädchenhaftes, was ihm von seiten der Mutter den Beinamen Julchen eintrug. Besonders bemerkenswert aber ist, daß er — abweichend von seinem späteren Verhalten — in der ersten Jugendzeit sehr lebhaft und gesprächig war und immer wieder zur Ruhe ermahnt werden mußte.

Die Brüder besuchten das Kneiphofsche Gymnasium, an welchem GUSTAV mit 18 Jahren 1842 das Abiturientenexamen machte, das er in einem Brief seinem Bruder Otto in allen Einzelheiten schildert. Sprachen waren nicht seine Stärke, die Prüfung fiel sonst besonders gut aus. Das Zeugnis besagt, daß er Mathematik zu studieren beabsichtige. „Ich ging sogleich zum Köhler und pumpte mir einen Albertus [Das Bild des heiligen Albertus wird von den Köuigsberger Studenten an der Mütze getragen.], um die Mutter damit zu überraschen … ich gehe nun schon eine Woche mit dem Albertus in der Stadt herum, muß aber wegen meiner Kleinheit öfter dabei hören: ach, ein kleiner Student! Ich ärgere mich jetzt mehr denn je über meine Kleinheit und würde mich auf der Universität besser amüsieren, wenn meine Gestalt mit meinen Jahren im Einklang wäre. Ich bin jetzt in einer Periode, in welcher ich an allen meinen Fähigkeiten zu zweifeln beginne; und mehr als einmal habe ich mir die Frage vorgelegt, ob ich wirklich einen Beruf für die Mathematik habe und nicht besser täte, dieses Studium ganz aufzugeben, das mir bisher doch soviel Freude gemacht hat.“

Mit diesem Zweifel an der eigenen Befähigung, der hier zum erstenmal auftritt, hat KIRCHHOFF während seines ganzen Lebens zu kämpfen gehabt.

Über seine Studien an der Universität Königsberg schreibt er an seinen Bruder Otto folgendermaßen:

„Ich höre jetzt ein Kolleg, das auch du gehört hast, Experimentalchemie bei … Du wirst dich entsinnen, wie sehr ich dich damals darum beneidet habe. Jetzt ist mein Eifer dafür sehr abgekühlt.  …s Vortrag ist so einschläfernd und seine Ungeschicklichkeit, bei der ihm fast kein Experiment das erste Mal gelingt, so groß, daß ich mich meist etwas langweile. Mein Vertrauen zu ihm wurde mir gleich anfangs genommen, als er kurz die Hauptsachen der Physik vortrug; denn hier bemerkte ich sogleich Unrichtigkeiten und Widersprüche. NEUMANN ist jetzt mein Hauptlehrer, dem ich mit größtem Vergnügen und Eifer zuhöre. Durch ihn ist auch großenteils meinem Schwanken, welcher Wissenschaft ich mich zuwenden soll, ein Ende gemacht und ich bin fest entschlossen, mich ganz auf die Physik zu legen, wenn das auch langweilige Beobachtungen und noch langweiligere Rechnungen mit sich bringt. Von ersteren habe ich neulich eine kleine Probe gehabt, da saß ich von 10 Uhr abends bis 2 Uhr im Albertinum hinter einem Fernrohr und beobachtete bei nur 1Grad Wärme von 15 zu 15 Sekunden einen Magneten, dessen Stand ich aufschreiben mußte. Doch bei einer Zigarre und einigen von den kleinen Sandkuchen, mit denen die sorgsame Mutter meine Taschen gefüllt hatte, vergingen die 4 Stunden pfeilschnell, ehe ich es gedacht hatte.“

Neben dem Studium wurde jedoch das Amüsement nicht vernachlässigt: Theater, Trinkgesellschaften, Maskeraden, Turnübungen — seine „neuste Passion“ — besucht. Insbesondere beteiligte er sich eifrig an der großen Säkularfeier der Albertina, worüber er schreibt: {„Ich habe mich schon sehr lange darauf gefreut, schon als ich Tertianer war schätzte ich mich glücklich, gerade um diese Zeit auf die Universität kommen zu können. Alles was ich von diesen Tagen erwarten konnte, haben sie mir nun geboten: glänzende Aufzüge, großartige Abendgesellschaften und fidele Kneipen. Das sonst so ruhige und anständige Leben in Königsberg hatte sich in dieser Zeit völlig umgestaltet. Den ganzen Tag über zogen Horden von Philistern und Studenten singend und jubelnd, ohne daß man Anstoß daran genommen hätte, durch die Straßen, von einer Kneipe in die andere.“

KIRCHHOFFs erste Arbeit stammt aus dem NEUMANNschen Seminar und ist betitelt: über den Durchgang des elektrischen Stroms durch eine Ebene, insbesondere durch eine kreisförmige, Pogg. Ann. 64, 1845; sie enthält zugleich den: Ausspruch und Beweis der „Kirchhoffschen Gesetze“ über die Verteilung: elektrischer Ströme in einem System linearer Leiter (S. 15 d. gesammelt. Abhandl.). Die Arbeit trug ihm an der Königsberger Fakultät den doppelten Preis ein, veranlaßte die physikalische Gesellschaft zu Berlin ihn zum auswärtigen Mitglied zu ernennen mit der Aufforderung, über die ihm nahe liegenden Teile der Elektrizitätslehre im Jahrgang 1846 der Fortschritte der Physik zu berichten und diente ihm endlich als Doktorarbeit, auf welche er am 4. September 1846 promovierte. über die Arbeit schreibt er unterm 16. Januar 1847 an seinen Bruder Otto: „Ich habe … mit meiner Arbeit den Preis gewonnen und zwar … den doppelten Preis. Das war mir eine große Überraschung. Ich hatte kein Vertrauen zu der Güte meiner Arbeit und glaubte, als mir wenige Tage vorher NEUMANN eine Andeutung von einer Preiserteilung machte, er habe mir diese aus Mitleid mit meiner Hypochondrie gemacht, die er gemerkt hatte. Daß mir aber der doppelte Preis zuerkannt ist …, das ist doch wohl ein Zeichen dafür, daß an der Arbeit einiges Gute ist. Und das ist mir ein großer Trost und gibt mir Mut zur weiteren Ausführung derselben. Beim Zusammenschreiben ging mir dieser beinahe ganz aus und ich dachte, NEUMANN würde mich fragen, was ich in diesen 3 Monaten getan habe. Erst einige Stunden nach Beginn des neuen Jahres war ich mit dem Niederschreiben fertig und brachte sie dem Dekan. So angestrengt habe ich noch nie in meinem Leben gearbeitet. Ich glaubte, ich würde, als sie fertig war, zusammensinken. Aber quod non! Ich fühlte mich noch nie so glücklich und so heiter. Dem Vater habe ich noch nichts von der Freude, die mir zuteil geworden ist, gesagt, er soll die Überraschung erst aus der Zeitung erfahren.“

Ferner unterm 9. Juni 1847: „Du weißt, daß ich die Preisarbeit, was erlaubt ist, mit zur Doktorarbeit benutzen wollte. In einigen Wochen glaubte ich sie fertig machen zu können, aber ich war krank und nun sind schon 5 Monate darüber vergangen, während deren ich nur an und für sich ganz uninteressante Zahlenrechnungen zu machen hatte, bis ich endlich bemerken mußte, daß ich nicht auf dem richtigen Wege sei. Diese Unbesonnenheit ist, wie ich glaube, auf meinen temporären Körperzustand zurückzuführen, wenigstens trägt er einen großen Teil der Schuld. Ich hoffe, daß es mir nicht eigentümlich ist, vorher nicht sorgsam zu überlegen, wie ich eine Arbeit durchzuführen habe, bevor ich sie beginne.“

Auch die Ehrung durch die Physikalische Gesellschaft hat ihm viele Freude gemacht. Doch lehnt er den Glückwunsch des Bruders dazu ab mit dem Bemerken, ein jeder könne Mitglied der Gesellschaft werden; „was mich so freute war lediglich der Umstand, daß ich aufgefordert worden bin, Mitglied zu werden.“

Die philosophische Fakultät der Universität Königsberg beantragte beim Minister für KIRCHHOFF ein Stipendium zu einer Reise nach Paris. Infolge hiervon beabsichtigt er „im Oktober 1846 nach Berlin zu gehen, sich dort 1/2 Jahr aufzuhalten und dann in die Welt hinaus zu fliegen.“ Zu der Reise nach Paris kam es indessen nicht, besonders weil MAGNUS und JACOBI ihm rieten, das beantragte Geld lieber für einen weiteren Aufenthalt in Berlin zu erbitten. So geschah es, daß er sich in Berlin habilitierte. Die Reise nach Berlin machte er mit seinem Bruder Carl, an Bruder Otto schreibt er darüber: „Die Strecke von 12 Meilen durchfuhren wir in 2 1/2 Stunden. Diese 2 1/2 Stunden waren die schönsten, die ich seitdem erlebt habe. Der Reiz der Neuheit, den das Fahren mit dem Dampfwagen für mich hatte, das Zusammensein mit Carl, die Erwartung alles dessen, was mich in Berlin erwartete, das alles stimmte mich ungemein glücklich.“ In Berlin bat er um eine Audienz bei dem Minister EICHHORN. „Ich glaube nun nicht, daß ich den Herrn Minister durch meine Unterhaltung und durch mein ganzes Wesen günstiger für das Gesuch stimmen werde, als durch das Schreiben der Fakultät an ihn schon geschehen sein kann, obgleich ich mir dazu ein Paar neue Glacéhandschuh gekauft habe.“ An den Bruder Otto schreibt er unterm 8. Januar 1848: „Mich beschleicht Wehmut, wenn ich bedenke, daß ich solange von meinen Eltern getrennt leben muß. Ob ich freilich den Platz ausfüllen, ein bewährter Dozent werden, und die in mich gesetzten Erwartungen erfüllen werde, das ist eine Besorgnis, die mich mit recht beunruhigt. Ich habe zwar bei vielen Leuten, auf deren Urteil darin ich etwas geben kann, eine gute Meinung von mir gefunden und ich glaube daraus schließen zu können, daß wirklich etwas in mir ist, was mich vor anderen auszeichnet. Aber dafür geht mir auch so vieles ab, was der gewöhnliche Mensch besitzt. Ich glaube, daß diese Mängel in einer gewissen Unruhe begründet liegen, die ich selten bemeistern kann und daß diese Unruhe mit meinem körperlichen Zustande zusammenhängt. Aber wird dieses sich jemals ändern?“

Und unterm 20. September 1848 an denselben: „Ich bin jetzt wohlbestellter Privatdozent und bereite mich auf die Vorlesung vor, die ich im nächsten Semester halten will; auch mit anderen Arbeiten bin ich beschäftigt, so auch mit einem Brief an die Pariser Akademie, der ich auf den Rat JACOBIs eine Bemerkung, die ich gemacht habe, mitteilen will. Du Bois hilft mir dabei mit seinem Französisch aus. Ich wünsche mir Glück mit Du Bois bekannt geworden zu sein, manche angenehme Stunde habe ich mit ihm verlebt und manches von ihm gelernt.“ Auch sonst hatte KIRCHHOFF in Berlin angenehme persönliche Beziehungen, u. a. zu POGGENDORFF, KARSTEN, KNOBLAUCH, DIRICHLET, dazu öfter Besuch alter Bekannter. Gelegentlich eines solchen Besuchs teilte sein alter Lehrer, der Mathematiker RICHELOT aus Königsberg, ihm mit, daß ihn das Ministerium nach Breslau in eine Stelle für Experimentalphysik berufen wolle. „Ich weiß nicht,“ schreibt er den Eltern, „ob ich mir das wünschen soll, wenngleich ich es selbstverständlich nicht ablehnen würde. Ein Ruf für mathematische Physik wäre das für mich passende, mir willkommene. Aber es handelt sich um ein Extraordinariat für experimentelle Physik und da fehlt mir doch jede Übung.“ Doch gab es damals noch keine Stellung für mathematische Physik. „Wenn ich also“, schreibt er dem Vater, „eine Anstellung haben will, so muß ich mich aus dem Gedankenkreise herausreißen, in dem ich mich zu bewegen gewohnt bin. Aber vielleicht wäre es gerade wohltätig für mich, in das experimentelle hinein versetzt zu werden, wie ja auch eine Pflanze, die in anderen Boden verpflanzt wird, kräftiger in ihr emporwächst.“ Der Ruf traf 1850 ein. Die Direktion des Institutes wurde zwischen dem Breslauer Ordinarius und KIRCHHOFF geteilt. Über dieses Condominium schreibt KIRCHHOFF an seinen Bruder Carl unterm 10. Januar 1852: „Du weißt, daß ich die Benutzung des physikalischen Kabinetts zusammen mit … habe, der der ord. Professor für Physik hier ist. Es ist dies eine ausnahmsweise Stellung, die um so schwieriger ist, als unsere beiderseitigen Rechte und Pflichten vom Ministerium durch keinerlei nähere Bestimmungen festgestellt sind. Das Übelste bei der Sache ist aber, wie mir gleich bei meinem ersten Hiersein gesagt wurde und wie ich auch selbst mehrfach erfahren habe, daß … ein Mensch ist, der stets die Grenzen seiner Befugnisse auszudehnen bestrebt ist. Es konnte daher an gelegentlichen Reibungen nicht fehlen; solche Streitigkeiten sind mir aber meiner ganzen Natur nach in den Tod zuwider; oft unterließ ich etwas, was ich hätte tun sollen, nur um Streit zu vermeiden. Du begreifst, daß in diesen Verhältnissen, für die ich keine Möglichkeit einer Änderung absehe, ein Grund für Mißstimmung liegt. Auf der anderen Seite wird mir hier aber so viel Angenehmes geboten, daß ich eigentlich Grund hätte, glücklich zu sein. Es ist dies auch der erste Brief, dem ich jene Klagen anvertraue.“

Über die angenehmen persönlichen Beziehungen, deren er sich in Breslau zu erfreuen hatte, äußert er sich folgendermaßen: „seit meiner Kindheit war es unerläßliche Bedingung meines Wohlbehagens, daß ich einen Menschen hatte, den ich mich anschließen und den ich zum Vertrauten meines Herzens machen konnte. Als wir Kinder waren, wart ihr Brüder es; von denen der eine oder der andere mir eine solche Stütze war; und wo ich in späteren Jahren mich wohl befunden habe, da hat mir eine ähnliche nicht gefehlt. Auch hier habe ich eine solche gefunden an einem Kollegen namens DUFLOS. Er ist Franzose von Geburt, doch kam er schon als Knabe nach Deutschland …“

Ferner schreibt er an die Mutter unterm 21. Mai 1851: „Mein Aufenthalt in Breslau ist mir neuerdings angenehmer geworden durch die Besetzung der Professur der Chemie, die durch den Tod schon vor 3/4 Jahren erledigt worden war. Zu Anfang des Semesters kam der neue Chemiker Prof. BUNSEN, früher in Marburg, hier an; über seine Berufung freue ich mich ungemein, weil ich in ihm einen ausgezeichneten Fachgenossen erhalten habe und weil er ein Mensch von ungewöhnlicher Liebenswürdigkeit ist. Seine Ankunft gab zu Gesellschaften Anlaß, bei denen ich auch war …“

Dem Bruder Carl teilt er mit: „BUNSEN erweist mir die Ehre, meine Vorlesung, die um 5 Uhr beginnt, zu hören; ebenso ein anderer Bekannter von mir, Dr. BAUMERT. Wenn die Vorlesung beendet ist, gehen wir drei dann zu DUFLOS, holen ihn ab und verfügen uns nun gemeinsam in eine Bier- oder auch einmal Weinstube, um unser Abendbrot dort zu verzehren.“

In Breslau angelangt, sah KIRCHHOFF sich sogleich genötigt, auf ärztlichen Rat um Urlaub für das Sommersemester zu bitten. Er ging zu seiner Erholung nach Königsberg an die See, wohin HELMHOLTZ sich aus gleichem Grunde begeben hatte. Dort lernten beide sich genauer kennen. Wie HELMHOLTZ über KIRCHHOFF urteilt geht aus einem Brief des ersteren an den Physiologen LUDWIG, damals in Zürich, vom Jahre 1851 hervor: „ … dagegen würdest Du mit KIRCHHOFF in Verbindung großes zu Stande bringen können. KIRCHHOFF ist von dem bewunderungswürdigsten Scharfblick und Klarheit, in den verwickeltsten Verhältnissen, ich wünschte es Dir und der Physiologie sehr, daß KIRCHHOFF zu euch komme.“ Dem möge gegenübergestellt werden, daß KIRCHHOFF im Jahre 1857 über HELMHOLTZ schreibt: „Es ist das der talentvollste von allen jungen Männern, die mir bekannt sind, und zugleich ein sehr liebenswürdiger Mensch.“

Zu Kirchhoffs großem Leidwesen folgte Bunsen schon im Jahre 1852 einem Ruf nach Heidelberg; doch gelang es BUNSEN, KIRCHHOFF die Anfang 1854 durch JOLLYs Berufung nach München freigewordene Professur der Physik zu verschaffen. BUNSEN schreibt an KIRCHHOFF im Jahre 1854: „Die gestrige Fakultätssitzung ist auf eine in den Annalen der Fakultät noch nicht dagewesene Weise verlaufen. Sie sind nämlich einstimmig und allein von der Fakultät zum Nachfolger JOLLYs vorgeschlagen worden. Morgen geht mein zwei Bogen langer Fakultätsbericht samt den Sie empfehlenden Briefen von WEBER, v. ETTINGSHAUSEN, REGNAULT u. a., denen dieses Resultat besonders zu verdanken ist, nach Karlsruhe ab. Vermeiden Sie in Ihrer Antwort an das Ministerium jede Äußerung einer unzeitigen Bescheidenheit.“

Und schon am 5. September 1854 kann KIRCHHOFF dem Bruder Otto melden: „Du weißt, daß meine amtliche Stellung in Breslau mich nicht befriedigen konnte, daß ich BUNSEN schmerzlich vermisse, an dessen Umgang ich wissenschaftlich und persönlich so viel gehabt habe, du weißt endlich wie sehr alle, die Heidelberg kennen, für diesen Ort schwärmen. Eben erhalte ich einen Brief von dem badischen Minister in Karlsruhe, ob ich einen Ruf als ord. Prof. d. Physik an der Heidelberger Universität annehmen wolle. Du kannst dir denken, daß ich nicht nein sagen werde. Ganz überraschend ist diese Sache nicht gekommen, schon seit einem Jahre hat sie mich in Spannung gehalten. Damals hatte nämlich JOLLY, der Prof. der Physik in Heidelberg, einen Ruf nach München erhalten und BUNSEN schrieb mir damals gleich, daß er allen seinen Einfluß daran setzen werde, mich an jenes Stelle zu bringen.“ An den Bruder Carl schreibt er unterm 18. Oktober 1854: „Täglich erwarte ich jetzt meinen Abschied und rüste mich zur Reise nach Heidelberg. Daß ich mit vielen schönen Hoffnungen dorthin gehe, schrieb ich dir schon. Auch meine pekuniäre Lage wird eine glänzende sein, ich bekomme zusammen über 1100 Thaler. Wenn ich mein bisheriges Leben überdenke, so muß ich das Glück bewundern, welches ich gehabt habe, überall Männer zu finden, welche so wohlwollend und so erfolgreich sich meiner angenommen und in meiner Laufbahn mich vorwärts gebracht haben, ohne daß ich selbst dabei tätig gewesen bin. Das meiste verdanke ich NEUMANN, der mich wissenschaftlich gebildet und auch auf meine Laufbahn gebracht hat, indem er dadurch, daß er mir das Reisestipendium verschaffte, mich veranlaßte, nach Berlin zu gehen, woran ich früher nie gedacht hatte. Den Gedanken, mich zu habilitieren, riefen JACOBI und MAGNUS in mir hervor. Auf Veranlassung derselben Männer meldete ich mich zu der in Breslau frei gewordenen Stelle, und daß ich diese erhielt glaube ich ebenfalls ihrem Einfluß zuschreiben zu sollen. Hier in Breslau lernte ich BUNSEN kennen und hatte mit diesem die 1 1/2 Jahre, die er hier war, genaueren Umgang. Als in Heidelberg die Professur nun neu zu besetzen war, wandte er seinen Einfluß an mit einem Eifer, der mir sein Wohlwollen zeigt. Aber durch alles das wird mein Selbstvertrauen nicht so gestärkt, daß sich nicht bange Besorgnis in die Hoffnungen mischt, mit denen ich in meine neue Stellung trete. Wird es mir gelingen, die Erwartungen zu befriedigen, die man von mir hegt? Mein Vorgänger in Heidelberg hat einen ungemein ansprechenden Vortrag und ich habe auffallend wenig die Rede in meiner Gewalt.“

In Heidelberg wurde KIRCHHOFF in dem dortigen geselligen Kreis, dessen Mittelpunkt der Historiker HAEUSSER war, sehr freundlich aufgenommen. Unterm 17. Dezember 1854 schreibt er: „Jetzt habe ich mich schon so ziemlich eingelebt und fange an, mich behaglich zu fühlen. Nur die vielen Gesellschaften gefallen mir nicht, in die ich als neuer Ankömmling geladen werde und aus denen man erst um 1, ja manchmal erst um 3 Uhr morgens nach Hause geht. So zu schwärmen das ist mir ganz ungewohnt und bekommt mir nicht. Wenn ich mich in den Gesellschaften auch ganz gut amüsiere, so bin ich doch den Tag müde und das Lesen wird mir sauer.“ Der hauptsächlichste Anziehungspunkt für ihn war aber BUNSEN. Die beiden Freunde nebeneinander gehen und sich wissenschaftlich unterhalten zu sehen, wie das täglich der Fall war, war ein auffallender Anblick, der auch von einem geschickten Karikaturenzeichner festgehalten ist. BUNSEN 13 Jahre älter, groß und breitschultrig mit hohem Zylinderhut, daneben KIRCHHOFFs kleine, zierliche Figur.

In den großen Ferien des Jahres 1856 suchte KIRCHHOFF die alte Heimat auf, wo er die Tochter Clara seines Lehrers RICHELOT näher kennenlernte und sich mit ihr verlobte, als er, nach Heidelberg zurückgekehrt, acht Tage später wieder in Königsberg erschienen war. Am 16. August 1857 war die Hochzeit, und es folgten nun glückliche Jahre im Verein mit der um 14 Jahre jüngeren, lebenslustigen Frau, die in Heidelberg sehr gefiel und mit offenen Armen, besonders wieder von HAEUSSER aufgenommen wurde. Der Verkehr mit KIRCHHOFFs „früherer Frau“ — so war BUNSEN von HAEUSSER genannt worden — litt zwar zunächst etwas durch die Heirat, indessen dauerte es nicht lange, bis BUNSEN bei KIRCHHOFFs Hausfreund wurde, der später bei den Kindern eine bedeutende Rolle spielte, besonders wenn der „Onkel Hofrat“ am Weihnachtsabend von ihnen beobachtet wurde, indem er mit Geschenken beladen und den noch mehr bepackten Institutsdiener hinter sich, auf der Straße herannahte.

An dem geselligen Leben Heidelbergs nahm das Kirchhoffsche Ehepaar regen Anteil, auch der alten Neigung KIRCHHOFFs zum Theater wurde durch ein Lesekränzchen Rechnung getragen. Er schreibt: „Viel Vergnügen gewährt mir das Lesekränzchen, dem wir hier beigetreten sind. Es wird mit verteilten Rollen gelesen, und diese Leseabende machen mir noch fast ebenso viel Vergnügen, wie vor zwanzig Jahren in Königsberg. Mein Rollenfach ist dabei ein weites. Gelesen habe ich Don Carlos, Shylock, Egmont, Odoardo Galotti. Unser Intrigant ist HELMHOLTZ, der sehr gut liest.“

Im Jahre 1859 erfolgte die Entdeckung der Spektralanalyse. Die Anteile, die KIRCHHOFF und BUNSEN an dieser Entdeckung haben, gehen klar aus KIRCHHOFFs Notiz über die Fraunhoferschen Linien (Ber. Berl. Akad., Oktober 1859, Ges. Abh. S. 564) hervor, wo er sagt: „Bei Gelegenheit einer von BUNSEN und mir in Gemeinschaft ausgeführten Untersuchung über die Spektren farbiger Flammen, durch welche es uns möglich geworden ist, die qualitative Zusammensetzung komplizierter Gemenge aus dem Anblick des Spektrums ihrer Lötrohrflamme zu erkennen, habe ich einige Beobachtungen gemacht, welche einen unerwarteten Aufschluß über den Ursprung der Fraunhoferschen Linien geben und zu Schlüssen berechtigen von diesen auf die stoffliche Beschaffenheit der Atmosphäre der Sonne und vielleicht auch der helleren Fixsterne.“ Der Schluß auf die Zusammensetzung der Sonnenatmosphäre aus den Fraunhoferschen Linien gehört daher ausschließlich KIRCHHOFF an. An Bruder Otto schreibt er darüber am 11. Mai 1860: „Da Du auch ein halber Chemiker bist wie ich und vielleicht ein besserer als ich, so will ich dir mitteilen, daß ich jetzt mich sehr eifrig mit Chemie beschäftige. Ich will nämlich nichts geringeres, als die Sonne chemisch analysieren und vielleicht später auch die Fixsterne. Ich habe das Glück gehabt, den Schlüssel zur Lösung dieser Aufgabe zu finden. Das klingt sehr wunderlich und ich habe es einem entfernten Bekannten von mir, einem Doktor der Philosophie, nicht verdacht, daß er mir bei einem Spaziergange neulich erzählte, ein verrückter Kerl wolle auf der Sonne Natrium entdeckt haben. Ich suchte diesem begreiflich zu machen, daß die Sache so unsinnig nicht sei, und daß es wirklich möglich sein müsse, von dem Licht, das ein Körper aussende, auf die chemische Beschaffenheit desselben Schlüsse zu ziehen, aus dem Sonnenlicht also auf die der Sonne. Dabei konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, ihm zu sagen, daß ich dieser verrückte Kerl sei.“

Über die Sonne hielt KIRCHHOFF in Heidelberg, und, vor dem Großherzog, in Karlsruhe einen sehr beifällig aufgenommenen Vortrag, von dem das vielfach durchkorrigierte Manuskript noch erhalten ist und zeigt, welche Sorgfalt KIRCHHOFF auch dieser Aufgabe — wie jeder, die er sich stellte — widmete. Nun regneten Auszeichnungen auf KIRCHHOFF herab; Frau Clara schreibt darüber an ihre Schwägerin: „Ich bin hier so glücklich, es gibt so viele Menschen hier, die sich für alles interessieren, das uns angeht. Das haben wir wieder so recht bei den vielen Geschenken und Auszeichnungen gesehen, die Gustav bekommen hat. Da war auch nicht Einer, der Gustav darum beneidete, eine Zeitlang bekam ich unaufhörlich Besuche von Leuten, die mir gratulierten. Die neueste Auszeichnung war die goldene RUMFORD-Medaille mit noch ebenso viel Geld als sie wert ist“ Betreffend die RuMFORD-Medaille erzählte KIRCHHOFF gern folgende, auch von R. v. HELMHOLTZ mitgeteilte Anekdote: Gelegentlich eines Gesprächs über die Metalle in der Sonne hatte sein Bankier ihn gefragt, was es ihm nütze, wenn die ganze Sonne aus Gold bestünde. Als er nun zu dem Bankier ging, um den Betrag der Medaille erheben zu lassen, sagte er zu diesem: „Sehn Sie, da habe ich mir doch etwas von dem Golde auf der Sonne geholt.“ Überhaupt war KIRCHHOFF ein Freund von Anekdoten, die er sehr hübsch zu erzählen wußte; besonders BUNSEN gab ihm vielen Stoff dazu.

Inzwischen näherte sich die glückliche Zeit ihrem Ende. KIRCHHOFF hatte das Mißgeschick sich auf der Treppe den Fuß zu verstauchen, infolge wovon er mehrere Jahre an Krücken gehen mußte und dauernd Schmerzen auszustehen hatte. Die Frau Clara erkrankte an einer Rippenfellentzündung und bald darauf an der Schwindsucht. 1869 stand KIRCHHOFF, auf Krücken gestützt, an dem Sarge der geliebten Gattin. Er schreibt darüber an DU BOIS unterm 2. Juni 1869 indem er diesem für seine Teilnahme dankt: „Ich habe in meinem Leben viel unverdientes Glück gehabt; jetzt ist das Unglück über mich gekommen. Meine Familie ist zerstreut, meine beiden Töchter habe ich meiner Schwiegermutter nach Königsberg mitgegeben; meine beiden Knaben sind bei mir, zu ihrer Beaufsichtigung habe ich einen Studenten in mein Haus genommen. Ich suche mich durch wissenschaftliche Beschäftigung zu zerstreuen, aber das Arbeiten gelingt schlecht, das Messer, mit dem ich schneiden will, ist stumpf. Mit meinem Fuß geht es ein klein wenig besser und ich hoffe, daß er wieder gesund werden wird.“ An den Bruder Otto schreibt er: „Mich hat nun das lange drohende Unglück, meine innig geliebte Frau zu verlieren, getroffen. Noch ist mein Schmerz zu neu, als daß ich ihn in seiner ganzen Schärfe empfinden könnte; ich bin noch wie betäubt, auch ist meine Schwiegermutter, eine bewunderungswürdige Frau, noch bei mir und macht, daß ich die Größe meines Verlustes noch nicht ganz fühle. Sehr bald muß diese aber fort, wahrscheinlich wird sie meine Pauline mit sich nehmen, dann wird es in meinem Hause öde und traurig sein.“ Und an denselben: „Die Teilnahme an meinem Unglück ist hier allgemein. Clara war von allen, die sie kannten, geliebt wie vielleicht keine zweite Frau in Heidelberg. Die Teilnahme tut mir wohl, doch bestätigt sie auch die Größe des Verlustes.“

Die freudlosen Jahre nach dem Tode der Frau Clara nahmen ein Ende, als KIRCHHOFF sich im Jahre 1872 mit Frl. LUISE BRöMMEL, Oberin in der Augenklinik von OTTO BECKER wieder verheiratete. Auch diese Ehe war eine sehr glückliche, und KIRCHHOFFs Haus wurde, wieder eine Stätte froher Geselligkeit.

Im Jahre 1872 wurde er in die durch KUNDTs Weggang erledigte Professur der Physik nach Würzburg berufen. Er lehnte diesen Ruf ab und schrieb am gleichen Tage an den badischen Kultusminister: „Nach dem, was in ähnlichen Fällen zu geschehen pflegt, ist es mir nicht unwahrscheinlich, daß auch über diese Angelegenheit eine Nachricht in die Zeitungen kommt; und daher halte ich es für meine Pflicht, Euer Exzellenz von dem Tatbestand derselben in Kenntnis zu setzen. In keiner Weise verfolge ich dabei die Absicht, auf eine Verbesserung meiner jetzigen Stellung hinzuwirken.“

Ferner wurde KIRCHHOFF dreimal nach Berlin berufen, wobei DU BOIS die Verhandlungen führte. Das erstemal im Jahre 1870 als Nachfolger von MAGNUS. KIRCHHOFF hat offenbar sehr geschwankt ob er annehmen solle. Unterm 23. Mai 1870 schreibt er an Du Bois: „Es überkommt mich ein Gefühl, das dem Schwindel einigermaßen ähnlich ist, bei dem Gedanken an die Stellung, die Du mir schilderst und die mir vielleicht geboten werden soll; sie ist ja die höchste, die ich anstreben könnte … mit Spannung sehe ich den Dingen, die da kommen sollen, entgegen.“ Indessen hatte der badische Dezernent JOLLY vorher die Nachricht erhalten, daß KIRCHHOFF ein Ruf nach Berlin bevorstehe und denselben gebeten, nicht bindend zuzusagen, ohne vorher in Karlsruhe Gelegenheit zu geben, ihn in Heidelberg zu halten, und als er diesem Wunsch entsprach, war der Ministerialrat NOKK nach Heidelberg gekommen und hatte Verbesserungen angeboten für den Fall, daß KIRCHHOFF bleibe. Hierzu entschloß sich dieser, und zwar gab hierbei, wie er unterm 9. Juni 1870 an DU BOIS schreibt, die Befürchtung den Ausschlag, daß vielleicht sein kranker Fuß den Anstrengungen in Berlin nicht gewachsen sein könnte. Als nun HELMHOLTZ an MAGNUS Stelle berufen wurde, schreibt KIRCHHOFF an DU BOIS: „Also HELMHOLTZ hast Du gefangen! So schmerzlich ich den Umgang desselben vermissen werde, so habe ich doch genug Liebe für die Wissenschaft, für Preußen und für die Berliner Universität, um auch eine gewisse Freude darüber zu empfinden. Ich blicke nun mit völliger Befriedigung auf den Entschluß zurück, den ich bei Deiner Anwesenheit gefaßt habe, da ich überzeugt bin, daß der Ausgang, den die Sache genommen hat, für mich wie für Euch der beste ist.“

Im Jahre i874 folgte der zweite Ruf nach Berlin; Diesmal handelte es sich um die Stelle des Direktors der bei Potsdam zu erbauenden astrophysikalischen Warte mit Dienstwohnung auf dem Telegrafenberg und 6000 Rth. Gehalt jährlich. „Eine fürstlichere Stellung in der Wissenschaft“, schrieb DU BOIS an KIRCHHOFF, „ist noch kaum einem deutschen Gelehrten geboten worden, und es muß Dich doch auch locken, der Direktor einer großen Staatsanstalt zu sein, die aus Deiner Gedankenarbeit entsprungen ist.“ Die ablehnende Antwort KIRCHHOFFs ist nicht erhalten, sie schien DU BOIS teilweise auf Mißverständnissen zu beruhen, die er in einem zweiten Briefe aufklärte. Indessen blieb KIRCHHOFF bei seiner Ablehnung, indem er unterm 19. März 1874 an DU BOIS schrieb: „Ich habe gestern einen Brief von KUMMER, heute den Deinigen erhalten, ich muß Dir schreiben, was ich an KUMMER geschrieben habe, daß der Würfel gefallen ist, daß ich meinen Entschluß, hier zu bleiben, nicht ändern kann, da ich ihn auch der hiesigen Regierung ausgesprochen habe. Durch BUNSEN hatte unser Minister von der Sache erfahren und machte mir in zuvorkommender Weise Anerbietungen für den Fall, daß ich hier bleiben werde, und diese Anerbietungen habe ich angenommen. Selbstverständlich ist meine pekuniäre Stellung auch jetzt hier nicht so, wie sie in Potsdam sein würde; aber nicht diese Erwägung machte es mir schwer, die Entscheidung zu treffen, die ich getroffen habe; das wurde mir schwer durch die große Freundlichkeit, mit der mir von Berlin und ganz besonders von Dir entgegengekommen ist… Daß ich trotzdem den Ruf abgelehnt habe, hat, wie ich gern gestehen will, mit seinen Grund darin, daß es mir sehr schwer werden würde, von meinen Heidelberger Freunden mich zu trennen. Dazu kam der Wunsch, ungestört in der Richtung fortarbeiten zu können, in der ich seit einer Reihe von Jahren tätig gewesen bin, an der Herausgabe von Vorlesungen über mathematische Physik nämlich. Als Direktor der astrophysischen Warte hätte ich das nicht tun können; da hätte ich es für meine Pflicht gehalten, die Mittel des Institutes so gut zu benützen, als meine Kräfte es gestatten, und ich mußte fürchten, eine sehr mäßige Ausbeute zu erhalten und so in eine schiefe Stellung zu kommen.“

Der dritte Ruf nach Berlin erfolgte im Herbst 1874, und zwar wollte die Akademie KIRCHHOFF eine freie, nur der Forschung gewidmete Stellung geben ohne die Verpflichtung, Vorlesungen zu halten. Unterm 27. September 1874 schreibt er an DU BOIS: „Ich eile, Deinen freundlichen Brief zu beantworten. Vor einigen Wochen schon hatte KRONECKER in Interlaken zu mir davon gesprochen, daß Ihr es noch nicht aufgegeben hättet, mich nach Berlin zu ziehen, und WEIERSTRASS setzte mir bei seiner neulichen Anwesenheit in Heidelberg näher den für mich so ehrenvollen Plan auseinander, nach dem ich als freier Akademiker dorthin berufen werden sollte. Ich sagte ihm, daß ich sehr bereit sei, darauf einzugehen. Die Verhältnisse sind hier jetzt wesentlich andere als bei meiner Berufung an die astrophysische Warte. Ich folgte dieser nicht, weil ich die Verantwortlichkeit nicht glaubte übernehmen zu können, die der Direktor eines solchen Instituts tragen müßte, und weil mein Verbleiben in Heidelberg in Rücksicht auf meine Arbeiten und meine Lehrtätigkeit mir in hohem Grade wünschenswert erschien. Meine Arbeiten wurden wesentlich gefördert durch meinen wissenschaftlichen Umgang mit KÖNIGSBERGER; und durch mein Zusammenwirken mit diesem hatte sich an unserer Universität eine mathematisch-physikalische Schule gebildet, die unser Stolz und unsere Freude war. Bei der Stellung, die mir jetzt in Berlin geboten werden soll, fehlt, soweit ich sehe, eine Verantwortlichkeit, wie sie damals mich abstieß, und der Grund der damals vorzugsweise an Heidelberg mich fesselte, ist auch fortgefallen, da KÖNIGSBERGER nach Dresden geht infolge davon, daß unser Minister trotz der dringendsten Vorstellungen unserer Fakultät nichts getan hat, um ihn hier zu halten.“ In der Tat hatte KIRCHHOFF dem Ministerium erklärt; wenn man KÖNIGSBERGER nicht halte, dann werde auch er bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit ebenfalls Heidelberg verlassen. Das Anerbieten der Akademie wurde von dem Minister alsdann dahin modifiziert, daß KIRCHHOFF in eine neu zu gründende Professur für mathematische Physik berufen werden und daraus der eine Teil des Gehalts fließen sollte, so daß die Akademie aus ihrem Fond nur den andern Teil des Gehalts zu zahlen haben würde. Das Ministerium wünschte nämlich, daß die Akademie auch für den zu berufenden Direktor der astrophysischen Warte einen Teil des Gehalts zahle. KIRCHHOFF blieb auch unter diesen veränderten Umständen bei seiner Annahme des Rufs und siedelte am 1. April 1875 nach Berlin über.

Zuerst verlebte er dort angenehme Tage. Im Jahre 1881 hatte er die Freude, daß seine älteste Töchter Pauline sich mit dem dortigen Privatdozenten für Geologie und Paläontologie, Herrn v: BRANCA, verheiratete. In demselben Jahre beteiligte er sich als deutscher Delegierter an dem internationalen Kongreß der Elektriker in Paris.

Zu den vielen alten Freunden, die er in Berlin traf, wie DU BOIS, HELMHOLTZ u. a., kamen neue hinzu, unter denen besonders W. v. SIEMENS und GUSTAV v. HANSEMANN zu nennen sind. Mit letzterem zusammen hat KIRCHHOFF bekanntlich in dem Hansemannschen Privatlaboratorium experimentelle Untersuchungen, besonders über Wärmeleitung, angestellt und veröffentlicht. Größten Erfolg hatten seine physikalisch-mathematischen Vorlesungen, deren Schönheit von einem seiner Hörer, R. v. HELMHOLTZ, in dessen Nachruf eingehend geschildert ist. Die letzte Vorlesung hielt er im Winter 1886, nur mit großer Anstrengung konnte er sie zuletzt durchführen und kam dann stets ermattet davon nach Hanse; schon im 1884 lehnte er die Wahl zum Rektor der Universität ab, da er sich den Anstrengungen dieses Amtes nicht gewachsen fühlte. In der Tat fing die Krankheit, der er bald erliegen sollte, an, sich durch Schwindel und Fieberanfälle sowie leichte Nervenlähmungen zu zeigen, die Ursache wurde in einem Tumor im Gehirn gesucht. Dabei blieb er bis zuletzt liebenswürdig und heiter, so daß die zahlreichen Freunde, die ihn besuchten, nicht den Eindruck hatten, bei einem Kranken zu sein. Am 17. Oktober 1887, nach einem Fieberanfall, schlief er ein, um nicht wieder zu erwachen. Eine letzte Ehrung empfing er nach dem Tode von der französischen Akademie, deren Sitzungsbericht besagt: Die Akademie mußte zum ersten Male den Preis erteilen, den JANSSEN im vorigen Jahre gestiftet hatte in Gestalt einer goldenen Medaille für einen wichtigen Fortschritt in der physikalischen Astronomie. Die Kommission beschließt einstimmig; GUSTAV KIRCHHOFF die Medaille zu erteilen, dem „illustre inventeur de l'analyse spectrale. Cette médaille sera deposée sur une tombe, KIRCHHOFF est mort à Berlin le 17. oct. dernier.“

Es wäre wohl nicht im Sinne KIRCHHOFFs, die überaus zahlreichen Ehrungen aufzuzählen, die ihm zuteil geworden sind. Es genüge anzuführen, daß er Ritter des Ordens pour le mérite und korrespondierendes oder auswärtiges Mitglied aller bedeutenden Akademien und gelehrten Gesellschaften der Welt gewesen ist. Als man nach BUNSENs und KIRCHHOFFs Tode jenem vor seinem chemischen Laboratorium ein Denkmal setzen wollte, ergab sich der natürliche Gedanke, daß man die beiden, die als Menschen und Forscher so eng miteinander verbunden gewesen waren, nun auch in einem Denkmal vereint darstellen sollte. Dieser Plan ist leider nicht ausgeführt worden, BUNSEN steht allein auf dem Postament, Auch ist zu bedauern, daß KIRCHHOFF in Berlin, der zweiten Hauptstätte seines Wirkens, ein Denkmal nicht errichtet ist. Dagegen hat das Deutsche Museum in München seine Bronzebüste, gemeißelt von Römer, in dem großen Ehrensaal zusammen mit den größten Forschern Deutschlands aufgestellt, und in der Berliner Universität steht seine von BEGAS herrührende Marmorbüste.

Von den hier mitgeteilten Briefen an Verwandte und Freunde hat man denselben Eindruck absoluter Wahrhaftigkeit, wie von den veröffentlichten Schriften KIRCHHOFFs, daß er nämlich nichts sagt, was er nicht meint und mit Sicherheit vertreten zu können glaubt. Diese absolute Wahrhaftigkeit ist ein charakteristisches Merkmal in KIRCHHOFFs Eigenart. Auch seinen Kindern pflegte er zu sagen: Alles, was du redest, sei wahr, doch rede nicht alles, was wahr ist, wobei die letztgenannte Regel betreffend die Vorsicht in dem zu Äußernden auch von ihm selbst stets befolgt ward. Es kann hiernach befremden, daß er seinem Bruder klagt, er habe die Sprache auffallend wenig in seiner Gewalt, während alle, die seine Vorlesungen gehört haben, sei es, wie der Schreiber dieses, die Vorlesung über Experimentalphysik in Heidelberg, sei es die mathematisch-physikalischen Vorlesungen, sich darüber einig sind, daß KIRCHHOFF vollendet schön gesprochen hat. Dieser scheinbare Widerspruch dürfte sich durch die Annahme lösen, daß er sich außerordentlich sorgfältig auf die Vorlesungen vorbereitet hat. Ferner liegt die Frage nahe, weshalb er immer und immer wieder besorgt ist, ob er auch den von ihm zu übernehmenden Aufgaben gewachsen sein, werde. Der Gedanke, daß diese Äußerungen nicht ernst gemeint seien, ist durchaus von der Hand zu weisen. Nun tragen alle Veröffentlichungen KIRCHHOFFs den Stempel künstlerischer Vollendung, so glaube ich annehmen zu dürfen, daß die erwähnte Besorgnis der Frage galt, ob es ihm gelingen werde, die zu übernehmende Aufgabe in vollendeter Weise zu lösen, und daß er sich scheute, eine Aufgabe zu übernehmen, für welche er nicht glaubte, diese Frage bejahen zu dürfen. Es sei gestattet, hier auf ein charakteristisches Merkmal von KIRCHHOFFs Arbeiten hinzuweisen. Er schreibt an DU BOIS unterm 7. Januar 1858: „Vor einer Woche habe ich an POGGENDORFF eine Abhandlung geschickt, die sich auf die mechanische Wärmetheorie bezieht (Ges. Abh. S. 454), die mir sehr viele Freude gemacht hat. Ich habe POGGENDORFF gebeten, sie bald drucken zu lassen, da ich fürchte, dieser oder jener möchte nach den reifen Früchten, die ich gepflückt habe, auch schon die Hand ausgestreckt haben und mir jetzt noch zuvorkommen.“ In der Tat waren es stets reife Früchte, die er in seinen Arbeiten pflückte, insofern, als er seinen Schlüssen entweder ganz sichere Annahmen oder doch solche zugrunde legte, die einen hohen Grad von Sicherheit besaßen. So kommt es, daß alle von ihm gefundenen Ergebnisse dauernden Wert haben.

KIRCHHOFFs Arbeiten sind alle streng sachlich unter Ausschaltung alles Persönlichen gehalten, wie es überhaupt sein Prinzip gewesen zu sein scheint, Sachliches und Persönliches streng zu trennen. In dieser Beziehung sei angeführt, daß er seine Vorlesungen an dem Todestage der von ihm so innig geliebten Frau Clara nicht aussetzte. Während ferner besonders BOLTZMANN und auch HELMHOLTZ in Vorreden und populären Schriften oder Reden viel Persönliches geäußert haben, fehlt Derartiges bei KIRCHHOFF ganz. Um so willkommener dürfte das in vorstehendem durch Briefe Mitgeteilte für denjenigen sein, der sich ein vollständiges Bild von der Eigenart und dem Wesen KIRCHHOFFs zu machen wünscht. Insbesondere geht aus den Briefen an die Brüder hervor, daß KIRCHHOFF — was bisher nicht bekannt gewesen sein dürfte — ein ungemein gemütvoller und weichherziger Mensch gewesen ist. Im übrigen bestätigt sich, was A. W. HOFMANN in seinem Nachrufe auf ihn sagt: „Sie erwarten nicht, daß ich es auch nur versuchte, ein Bild dieses spiegelreinen Charakters auszuführen. Dies könnte nur dem Jugendfreunde gelingen, dem in der Vertrautheit langjährigen Umgangs unverkürzt Gelegenheit geboten war, sich in das Wesen des Mannes allseitig zu vertiefen. Aber auch dem erst in späterem Lebensalter mit ihm in Verkehr Getretenen ist es immer noch vergönnt gewesen, den vollen Eindruck seiner edlen Persönlichkeit in sich aufzunehmen. Wer je, wie flüchtig immer, mit KIRCHHOFF in Berührung kam, dem ist die opferwillige Herzensgüte, die werktätige Menschenliebe, welche ihm eigen waren, in der Erinnerung geblieben; wer je in sein klares, blaues Auge schaute, mußte die Überzeugung mitnehmen, daß jene anima candidissima keine anderen als reine und große Gedanken kannte. Grundton aber in der Natur des Mannes war vollendete Selbstlosigkeit. Auf meinem langen Lebenspfade bin ich keinem begegnet, bei welchem, wie bei KIRCHHOFF, höchstes Vollbringen gesellt gewesen wäre mit fast demutvoller Bescheidenheit.“


Letzte Änderung: 09.10.2008     Gabriele Dörflinger   Kontakt

Zur Inhaltsübersicht     Historia Mathematica     Homo Heidelbergensis