„Lebensabriss“ Alfred Pringsheim (1915)

Quelle:
Mendelssohn, Peter de: Der Zauberer : das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. - Überarb. u. erw. Neuausgabe. - Frankfurt am Main : S. Fischer
Erster Teil 1875-1918. - 1996, S. 828-830


Ich, Alfred Pringsheim, bin am 2. September 1850 zu Ohlau in Schlesien geboren, besuchte das Breslauer Magdalenaeum, wo ich 1868 absolvierte, habe meine Studienzeit nach einem Berliner Anfangs-Semester in Heidelberg hauptsächlich bei Koenigsberger und Kirchhoff zugebracht, promovierte daselbst 1872 und habilitierte mich 1877 an der Universität München, wo ich seit dieser Zeit — und zwar seit 1886 als außerordentlicher, seit 1901 als ordentlicher Professor — eine über die verschiedenen Zweige der Analysis, Functionen-Theorie, Algebra und Zahlentheorie sich erstreckende Lehrtätigkeit ausgeübt habe.

Obschon ich niemals Schüler von Weierstrass gewesen bin, gelte ich als einer der markantesten und (sit venia verbo) erfolgreichsten Vertreter der specifisch Weierstrassischen »elementaren« Functionen-Theorie. Die Mehrzahl meiner (vorwiegend in den Mathematischen Annalen und den Sitzungsberichten der Münchner Akademie erschienenen) Arbeiten bezieht sich theils auf die arithmetischen Grundlagen der Functionenlehre, insbesondere die allgemeine Theorie der Convergenz unendlicher Reihen, Producte und Kettenbrüche, theils auf die Ausgestaltung der elementaren functionentheoretischen Methoden und die Erweiterung ihrer Anwendungsgebiete. Ein zweibändiges, meine Forschungen und Lehrmethoden zu einem systematischen Lehrgebäude der Functionen-Theorie und ihrer arithmetischen Grundlagen vereinigendes Werk befindet sich zur Zeit im Druck (bei Teubner in Leipzig).

Von meinen übrigen Arbeiten verdienen wohl diejenigen über die Taylor'-sche Entwickelung reeller Functionen einige Erwähnung, da sie die bis dahin ungelöste Frage nach deren nothwendigen und hinreichenden Gültigkeitsbedingungen zu einem befriedigenden Abschluß gebracht haben. Meine in den zuerst ausgegebenen Heften der ›Encyklopaedie‹ enthaltenen grundlegenden Artikel ›Irrationalzahlen und Convergenz unendlicher Processe‹ und ›Grundlagen der allgemeinen Functionenlehre‹ haben durch eine geschickte Mischung von historischer und systematischer Darstellungsweise vielfach vorbildlich gewirkt und, wie mir Eingeweihte (z. B. Dyck) versichern, nicht unwesentlich zum Erfolge des jungen Unternehmens beigetragen. Der Versuch, auch weitere Kreise gelegentlich einmal für mathematische Dinge zu interessieren, ist mir, wie ich zahlreichen Zuschriften und mündlichen Versicherungen glauben darf, mit meiner akademischen Festrede: ›Über Werth und angeblichen Unwerth der Mathematik‹ ziemlich geglückt. Eine ebenfalls mehr populären Zwecken dienende Gelegenheitsarbeit ist auch die Herausgabe der von mir aus dem Lateinischen übersetzten und mit mathematischen Erläuterungen versehenen Daniel Bernoulli'schen Abhandlung: Specimen Theoriae novae de Mensura Sortis.

Außer mit Mathematik habe ich mich seit meiner Jugend sehr ernstlich mit Musik und späterhin auch mit kunstwissenschaftlichen Dingen beschäftigt. In musikalischen Kreisen kennt man mich als langjährigen und eifrigen Vorkämpfer Richard Wagners, auch habe ich eine Anzahl von Bearbeitungen Wagner'scher Musikwerke veröffentlicht. In kunstwissenschaftlichen Kreisen gelte ich als Kenner und erfolgreicher Sammler von Kunstgegenständen der Renaissance. In's besondere ist meine Sammlung italienischer Majoliken die bedeutendste Privatsammlung dieser Art, und die unter meiner Mitwirkung von Otto v. Falke besorgte Herausgabe eines monumentalen Katalogs, dessen erster Band im Vorjahre erschienen ist, wird von den Fachleuten geradezu als ein für das Studium der Geschichte der Majolikakunst wichtiges Ereignis betrachtet.


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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