Am 24. August 1914 verschied Geh. Oberregierungsrat Prof. Dr Wilhelm Lexis, ordentlicher Professor der Volkswirtschaftslehre an der Universität Göttingen. Lexis ist von Hause aus Mathematiker gewesen und wenn ihn seine fernere Entwicklung auch von der Mathematik weit abführte, so hat sie seine innere Beziehung zu ihr doch nicht ausgelöscht: Das mathematische Denken ist ein wesentlicher Bestandteil seiner wissenschaftlichen Produktivität geblieben, und der Organisation unserer Studien hat er späterhin, als Mitarbeiter von Althoff, eine bedeutungsvolle Tätigkeit gewidmet. So ist es billig, daß seiner an dieser Stelle etwas eingehender gedacht wird.
Lexis ist als Sohn eines Arztes am 17. Juli 1837 zu Eschweiler (im Aachener Industriebezirk) geboren, und man wird wohl nicht fehl gehen, wenn man annimmt, daß seine späteren vielseitigen Interessen frühzeitig durch den Charakter der ihn dort umgebenden Verhältnisse ausgelöst : worden sind. Der Achtzehnjährige hat sich dann an der Universität Bonn nach einem kurzen einsemestrigen Studium der Jurisprudenz mathematischen und naturwissenschaftlichen Studien zugewandt. 1859 promovierte er mit einer Dissertation: de generalibus motus legibus, die er dem damaligen Bonner Vertreter der mathematischen Physik, August Beer, widmete, und legte kurz darauf die Oberlehrerprüfung in Mathematik und sämtlichen Naturwissenschaften ab. Nicht unwichtig für seine spätere Wirksamkeit ist, daß er dann, freilich nur für kurze Zeit, als Lehrer am Bonner Gymnasium tätig war. Auch die Arbeit im chemischen Laboratorium von Bunsen in Heidelberg konnte ihn nicht lange fesseln. Es folgt eine Wanderzeit von zehn Jahren, die ihn nach Paris und anderen Plätzen führte, wobei er sich vorwiegend volkswirtschaftlichen Studien widmete und insbesondere auch mit der Presse Fühlung gewann. Solcherweise hat er die staunenswerte Kenntnis der Dinge und der Persönlichkeiten gewonnen, vermöge deren er in unseren Kreisen einzig dastand, wie auch die beneidenswerte Fähigkeit, schwierige Materien in kürzester Zeit durchsichtig zu ordnen und darzustellen. Im Kriege 1870-71 finden wir Lexis als Redakteur der „Amtlichen Nachrichten für Elsaß-Lothringen“ zunächst in Hagenau, dem ursprünglichen Sitz des Generalgouvernements, dann in Straßburg. Und hier fixieren sich die Linien seines späteren Berufslebens, indem er mit den Kreisen der neuentstehenden Universität und insbesondere mit Althoff (der als Justitiar am Zivilgouvernement im Frühjahr 1871 nach Straßburg gekommen war) Beziehungen gewann. Lexis wurde 1872 zum a. o. Professor der Volkswirtschaftslehre an der Straßburger Universität ernannt und kam in kurzer Aufeinanderfolge 1874 als ordentlicher Professor für Geographie, Ethnographie und Statistik nach Dorpat, 1876 als ordentlicher Professor der Volkswirtschaftslehre nach Freiburg i. B., 1884 nach Breslan und 1887 nach Göttingen. Die Georgia Augusta ist stolz darauf, ihn länger als ein Vierteljahrhundert zu den Ihrigen gezählt zu haben. 1893 wurde Lexis, unbeschadet seiner Tätigkeit an der Göttinger Universität, von Althoff als Mitarbeiter in das preußische Kultusministerium berufen und war als solcher bis in die letzten Jahre hinein tätig.
Es liegt außerhalb des Zweckes dieser Zeilen, genauer auf die umfassende Tätigkeit einzugehen, die Lexis auf seinem Hauptgebiete, der Volkswirtschaftslehre, entfaltet hat. Was ihn dabei vor seinen deutschen Fachgenossen auszeichnete, ist eben der mathematische Einschlag seines Denkens gewesen. So ist er für uns der Neubegründer der mathematischen Statistik geworden. Wegen der Einzelheiten, insbesondere der Bedeutung seiner berühmten Dispersionstheorie, sei hier auf den Artikel der mathematischen Enzyklopädie verwiesen(*), in welchem sein Schüler, L. v. Bortkiewicz, die Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Statistik dargestellt hat.
Ebenso kann von seiner Betätigung als Mitarbeiter von Althoff hier nur berührt werden, was unmittelbar für die Mathematik (oder die Mathematiker) Bedeutung hat. Das gegenseitige Verhältnis der beiden Männer hat man sich wohl so vorzustellen, daß Althoff die Problemstellungen anregte und die spätere Beschlußfassung sich vorbehielt, Lexis aber aus der Fülle seiner ausgedehnten Kenntnisse die Materialien heranbrachte und ordnete.
In erster Linie zu nennen sind hier die drei großen Sammelwerke, die Lexis im Auftrage des Kultusministeriums herausgegeben hat:
Es möge ferner der Verdienste gedacht werden, die sich Lexis um die Gründung und fernere Leitung des Versicherungsseminars der Universität Göttingen (1895ff.) erworben hat. Das Seminar zerfällt gemäß den von Lexis verfaßten Statuten in zwei Klassen, die administrative und die mathematische; Wahrscheinlichkeitsrechnung, Versicherungsmathematik und mathematische Statistik sind die mathematischen Disziplinen, welche neben den Elementen der analytischen Geometrie und der Differential- und Integralrechnung für Mitglieder der letzteren in Betracht kommen. Es sei übrigens daran erinnert, daß der Anstoß zu einer planmäßigen Hochschulausbildung der Versicherungsverständigen, an der es bis dahin in Deutschland ganz gefehlt hatte, von mathematischer Seite erfolgte. Auf der Wiener Naturforscherversammlung 1894 hat L. Kiepert innerhalb der mathematischen Sektion einen dahingehenden Vortrag gehalten (siehe Bd. 4 dieser Jahresberichte, S. 116 ff.), worauf dann Althoff die Sache aufgriff und im September 1895 mit Kiepert zusammen nach Göttingen kam.
Wir gedenken endlich der Mitwirkung von Lexis bei der Ausgestaltung des Prüfungswesens für unsere Lehramtskandidaten. Der Entwurf zur Prüfungsordnung von 1898 rührt von Lexis her, insbesondere aber, was auch in Fachkreisen wenig bekannt sein dürfte, die dort vollzogene Einfügung einer besonderen Lehrbefähigung für angewandte Mathematik. Der mathematische Unterricht an den Universitäten und die an ihn anschließende Prüfungspraxis waren zufolge ihrer abstrakten Richtung mit den Anforderungen, die von Schulleitern und Männern des praktischen Lebens erhoben wurden, in immer schärferen Gegensatz geraten. Eine bloße Abänderung des Wortlauts der offiziellen Prüfungsbestimmungen hätte kaum Abhilfe gebracht, weil die Handhabung des Examens erfahrungsgemäß sehr viel weniger von diesem Wortlaut als von dem traditionellen Geist, der Universitätsvorlesungen abhängig ist. Da war es Lexis, der den Gedanken faßte, die angewandte Mathematik als besonderes Fach in die Prüfungsordnung einzusetzen; das Ministerium werde dann nicht umhin können, an allen Universitäten geeignete Lehraufträge zu erteilen und so für die erforderliche Entwickelung freie Bahn zu schaffen.
Wie sich diese Entwickelung seitdem gestaltet hat und daß das Problem immer noch nicht restlos gelöst ist, kann hier nicht in Kürze auseinandergesetzt werden, es sei vielmehr auf die zusammenhängende Darstellung verwiesen, welche diese Frage demnächst in den Abhandlungen des Deutschen Unterausschusses der Internationalen Mathematischen Unterrichtskommission finden soll.(**) Als eine besonders fördernde Potenz ist die 1898 gegründete Göttinger Vereinigung für angewandte Physik und Mathematik bekannt genug. Lexis ist ihr langjähriges Mitglied gewesen, und wir bewahren ihm für vielfache Mitwirkung und Unterstützung ein dankbares Gedächtnis.
Noch einmal, 1911, hat Lexis eine für die Entwickelung der
angewandten Mathematik wichtige Maßregel in die Wege geleitet. Er hat
erreicht, daß unter die Wahlfächer, die für das Examen in angewandter
Mathematik bei der Göttinger Prüfungskommission, in Betracht kommen,
Versicherungsmathematik mit aufgenommen wurde und daß andererseits
den Lehramtskanditaten, welche das so präzisierte Examen ablegen, die
Erwerbung des Diploms als Versicherungsverständige durch Verringerung
der außermathematischen Anforderungen erleichtert wurde. Es steht zu
hoffen, daß hiernach die Zahl derjenigen Lehrer der Mathematik wachsen
wird, welche ihren Unterricht in den Dienst der staatsbürgerlichen
Erziehung unserer Jugend zu stellen vermögen.
Anmerkungen:
*) Bd. I, p. 822 ff.
**) Bd. III, Heft 9: W. Lorey, das mathematische Studium an den
deutschen Universitäten (Teubner 1915). Vgl. auch Bd. I, Heft 3: W.
Lorey, Staatsprüfung und praktische Ausbildung der
Mathematiker an den
höheren Schulen in Preußen und einigen norddeutschen
Staaten (Teubner 1911).
Klein, Felix (1849-1925):
Wilhelm Lexis
In: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung.
- 23 (1914), S. 314-317
Signatur UB Heidelberg: L 22::23
Letzte Änderung: 24.05.2014 Gabriele Dörflinger Kontakt
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