Gedächtnisrede auf Gustav Robert Kirchhoff

gehalten in der Sitzung der Deutschen Chemischen Gesellschaft am 24. Oktober 1887 von August Wilhelm Hofmann


Seit die chemische Gesellschaft zum letzten Male vereint war, ist ein Forscher aus unserer Mitte geschieden, welcher wie wenige Andere in diesem Jahrhundert die Grenzen der menschlichen Erkenntniss erweitert hat.

Am 17. Oktober [1887] ist Gustav Kirchhoff, dessen gefeierten Namen wir glücklich waren, auf der Rolle unserer Ehrenmitglieder zu besitzen, der Wissenschaft und seinen Freunden durch den Tod entrissen worden.

Die Trauerkunde hat Viele von uns nahezu unvorbereitet getroffen. Wohl wussten wir, dass der berühmte Gelehrte schon seit längerer Zeit leidend war, und dass er sich während der letzten Jahre veranlasst gesehen hatte, seine Lehrthätigkeit — auf einige Zeit, wie wir Alle dachten — zu unterbrechen. Die Freunde, die Schüler, die Fachgenossen hofften gleichwohl mit Zuversicht, dass längere Ruhe, fern von dem Getriebe der grossen Stadt, genügen werde, seine Kräfte neu zu beleben und zu befestigen. Nur Wenigen war bekannt, dass dieses kostbare Leben ernstlich gefährdet sei. Auch hatten Nahestehende, welche den Kranken noch in den letzten Tagen sahen, keine Ahnung, dass sich sein Schicksal so schnell vollenden werde.

Der Tod Gustav Kirchhoff's hat überall, weit über die wissenschaftlichen Kreise hinaus, die schmerzlichste Theilnahme wachgerufen. Wie selten ist es aber auch einem Forscher beschieden, dass ihn seine Studien zur Lösung von Fragen führen, deren Beantwortung der menschliche Geist seit Jahrtausenden vergeblich angestrebt hatte! Wohl müssen Viele es sich versagen, in die Tiefe der Gedankenarbeit einzudringen, welche dem scharfsinnigen Denker die Erkenntniss so lange verborgen gebliebener Wahrheiten erschloss; aber die Antwort, welche der glückliche Frager errang, ist einem Jeden verständlich, und einem Jeden ist die Einfachheit dieser Antwort Bürgschaft für ihre Richtigkeit! Kein Wunder, dass der Name Gustav Kirchhoff für die Gebildeten aller Nationen wie eine Leuchte auf der Bahn des geistigen Fortschrittes erscheint, und dass sein frühes Dahinscheiden aller Orten als ein unersetzbarer Verlust, nicht nur des deutschen Volkes, sondern der ganzen Menschheit, auf das Tiefste empfunden wird!

Und wenn der Verewigte von so Vielen betrauert wird, welche nur die Forschungen des berühmten Gelehrten kennen, welch' unheilbare Wunde hat sein Tod den Herzen Derer geschlagen, die ihr guter Stern in die Nähe des unvergleichlichen Mannes geführt hatte! Unser inniges Beileid gehört zunächst der Familie und zumal der vereinsamten Gattin. Möge ihr die Kundgebung des aufrichtigsten Mitgefühls, welches allseitig laut wird, in ihrem Kummer Trost gewähren! Aber wir gedenken hier auch der zurückgebliebenen Freunde und vor allem des grossen Forschers, dessen Namen wir so oft mit dem seines vorangegangenen Arbeitsgeführten genannt haben. In einer Versammlung chemischer Fachgenossen, welche das Andenken Gustav Kirchhoff's feiert, drängt sich der Name Robert Bunsen auf jede Lippe. Wir Alle fühlen die tiefe Lücke, welche in seinem Leben entstanden ist. Möge die aufrichtige Verehrung Derer, die ihm in weiter Entfernung auf den Wegen der Wissenschaft folgen, möge ehrerbietige Begeisterung, mit welcher die chemische Jugend zu ihm aufblickt, seinem Schmerze einige Linderung bringen!

Es kann mir nicht wohl in den Sinn kommen, an dieser Stelle die glorreiche Lebensarbeit des Dahingeschiedenen im Einzelnen zu verfolgen. Wer dieser Aufgabe gerecht werden wollte, der müsste den ganzen Umfang seiner schöpferischen Tätigkeit überblicken. Ein grosser Theil dieser Tätigkeit gehört überdies Gebieten an, welche an das von unserem Vereine bebaute nicht mehr unmittelbar angrenzen.

Kirchhoff's Arbeiten, namentlich die aus früherer Zeit, beschäftigen sich fast ausschliesslich mit der mathematischen Bearbeitung physikalischer Fragen. Probleme der Mechanik, der Elasticität, der Wärmelehre, der Elektricität, der Optik dienen ihm nacheinander als Gegenstand der Forschung. Insbesondere sind es die elektrischen Erscheinungen, welche schon frühzeitig sein lebhaftes Interesse in Anspruch nehmen; in der Tat ist es eine Abhandlung „über den Durchgang des elektrischen Stromes durch eine kreisförmige Ebene“, an deren Spitze wir dem Namen des damals (1845) kaum mehr als zwanzigjährigen Forschers zum ersten Male in der Literatur begegnen. Und dieser ersten Untersuchung reihen sich nun während mehr als eines Jahrzehends in fast ununterbrochener Folge jene grundlegenden Arbeiten über die Bewegung des elektrischen Stromes in Leitern an, welche zu den schönsten Beispielen der erfolgreichen Lösung physikalischer Aufgaben auf mathematischem Wege zählen. Diese Forschungen führen ihn schliesslich zu der umfassenden, auf jedwedes System der Stromverzweigung anwendbaren Verallgemeinerung des Ohm'schen Gesetzes, welcher die Elektricitätskundigen mit Recht den Namen des Kirchhoff'schen Gesetzes beigelegt haben. Und wenn wir heute das elektrische Licht, mit den Strahlen der Sonne wetteifernd, auf unseren Strassen und in unseren Prachtbauten erglänzen sehen, und wenn der Beleuchtung selbst unserer Wohnstätten ein Umschwung bevorsteht, wie ihn vor einem halben Jahrhunderte das Gaslicht gebracht hat, so wollen wir uns jederzeit dankbar daran erinnern, dass es zumal Gustav Kirchhoff gewesen ist, welcher der neuen Verwerthung des Stromes im Dienste des Lebens die wissenschaftliche Grundlage gegeben hat.

Aber auch noch nach anderer Richtung hin hat sich Kirchhoff in diesem Dienste hülfebereit erwiesen, indem er Middeldorpff, dem Begründer der galvanokaustischen Operationsmethode, welche einen wichtigen Fortschritt in der Chirurgie bezeichnet, den Schatz seiner Erfahrungen auf elektrischem Gebiete selbstlos zur Verfügung stellte.

Zu Ende der fünfziger Jahre sehen wir den noch immer jugendlichen Forscher in neue Bahnen einlenken. Im Jahre 1857 erscheint die Abhandlung über das Sonnenspectrum; 1859 wird die Arbeit über die Fraunhofer'schen Linien und endlich die über den Zusammenhang zwischen Emission und Absorption von Licht und Wärme veröffentlicht. Wie Schuppen fällt es von den Augen der Physiker. Das Räthsel der dunklen Linien, welche geheimnisvoll das Sonnenspectrum durchfurchen, ist gelöst, und mit der Lösung hat sich der chemischen Forschung eine neue Welt erschlossen. Wohl hatten jene Bruchstücke verschollener Himmelskörper, welche von Zeit zu Zeit die Oberfläche unseres Planeten erreichen, Kunde von dem Vorkommen tellurischer Elemente in dem Weltenraume gegeben; das war indes auch alles, was man wusste. Mit der Erkenntniss der Beziehung zwischen den dunklen Linien im Sonnenspectrum und den glänzenden Farbenlinien im Flammenspectrum der tellurischen Elemente war die Zusammensetzung der Gestirne unzweifelhaft geworden. Selten hat eine Entdeckung auf die Menschen berückendere Macht geübt! War es schon als höchste Errungenschaft erschienen, dass der Lichtstrahl, dem menschlichen Geiste unterthan, das ehedem nur flüchtig dem Auge anvertraute Bild dauernd in unserer Hand zurückliess, so klang es fast wie Offenbarung, als wir vernahmen, dass derselbe Lichtstrahl, von Kirchhoff's Genius in den Dienst der Wissenschaft gestellt, sich hatte bequemen müssen, den Sterblichen selbst die Natur der Himmelskörper zu entschleiern.

Aber wenn wir in der Elementaranalyse der Sonne und der Gestirne durch Spectralbeobachtung einen der schönsten Triumphe des menschlichen Geistes erblicken, kaum minder hoch dürfen wir den Gewinn anschlagen, welcher der Erforschung unseres heimischen Planeten aus solcher Beobachtung erwachsen ist. Durch die Spectralanalyse, wie sie Bunsen im Vereine mit Kirchhoff ausgebildet hat, ist die analytische Chemie um eine Methode bereichert worden, welche durch Leichtigkeit der Ausführung und Schärfe alle früher bekannten Verfahrungsweisen in den Schatten stellt. Es war eine Gunst des Schicksals, welche die Lebenspfade dieser beiden Forscher zusammenführte; denn nur durch die Verbrüderung des auf der Höhe des chemischen Wissens und Könnens Stehenden mit dem das Gesammtgebiet der physikalischen Erscheinungen Beherrschenden konnte ein Werk zustande kommen, welches die Ergebnisse früherer Forschung, durch eigene unermüdliche Arbeit gesichtet, ergänzt und erweitert, zu einem neuen Systeme der chemischen Analyse gestaltete; nur durch solche Bundesgenossenschaft konnten wir in den Besitz eines Apparates gelangen, welcher, das stärkste Mikroskop weit überflügelnd, Spuren der Materie zur Anschauung zu bringen vermag, die sich vordem jeglicher Wahrnehmung entzogen hatten.

Den mit dem Spectroskope Beschenkten enthüllen sich nunmehr auch auf terrestrischem Gebiete neue Wunder. Elemente, denen man bisher nur ganz ausnahmsweise begegnet war, geben sich alsbald in weitester Verbreitung zu erkennen. Allein mehr noch: Elemente, bisher verborgen in der Schatzkammer des Unbekannten, werden plötzlich aus dem Dunkel hervorgezogen. Den glücklichen Erfindern des Spektroskops ist es vergönnt, den Reigen dieser ungeahnten Entdeckungen zu eröffnen. Nie zuvor geschaute glänzend blaue und rothe Linien, welche Bunsen und Kirchhoff im Flammenspectrum des Dürkheimer Soolsalzes aufleuchten sehen, zeigen den Weg, welcher die mit eiserner Beharrlichkeit Vordringenden zur Auffindung der beiden neuen Metalle, des Caesiums und des Rubidiums, führt. Aber weit entfernt, ausschliesslich für die Lösung rein wissenschaftlicher Aufgaben einzutreten, erscheint das Spectroskop, kaum erst dem schöpferischen Geiste seiner Urheber entsprungen, auch schon inmitten der praktischen Thätigkeit des geschäftigen Lebens. Dem Arzte liegt es ob, die Gegenwart von Kohlenoxyd im Blute zu erkennen: die spectroskopische Methode ist ihm zuverlässige Führerin. Damit der moderne Gussstahlprocess gelinge, darf der Luftstrom nicht über das Entkohlungsstadium hinaus in dem flüssigen Metalle aufsteigen; ein Blick durch das Spectroskop in den Flammenkegel des Convertors, und der richtige Zeitpunkt ist mit zweifelloser Sicherheit festgestellt. Die Zahl der neuen Farbstoffe, welche die tinctoriale Industrie der Gegenwart zu Tage fördert, ist Legion: ohne das Spectroskop würde man sich in diesem Gewühle kaum mehr zurechtfinden. Aber wozu noch weitere Beispiele anführen in diesem Kreise chemischer Fachgenossen, von denen ein Jeder, Tag um Tag, das Spectroskop in Händen hat!

Das höchste Vollbringen in der Wissenschaft bedingt nicht nothwendig gleichfalls die Lust am Lehren. Bei Kirchhoff gingen beide in seltener Weise Hand in Hand. Es war ihm nicht genug, die Wahrheit erforscht zu haben, er fühlte auch das Bedürfniss, sie zu verkünden. Und nicht geringer als die Freude war bei ihm die Gabe des Lehrens. Schon um den jungen Privatdocenten in Berlin hatten sich eifrige Schüler gesammelt, deren Zahl nach Uebernahme einer Professur in Breslau erheblich gewachsen war. Der Höhepunkt seiner akademischen Laufbahn fällt aber in die glücklichen Jahre, in denen er in fruchtbringendem Vereine mit Bunsen, Helmholtz, Kopp, Königsberger u. a. an der Heidelberger Hochschule wirkte; indessen auch nachdem er der Unserige geworden war, hat er, den grösseren Hörerkreisen entsprechend, noch eine Lehrtätigkeit geübt, wie sie umfassender und segensreicher nicht gedacht werden kann.

So hat denn Kirchhoff auf drei Universitäten unseres Vaterlandes den Samen der Wissenschaft mit vollen Händen weithin in die Herzen der Jugend ausgestreut; doch nicht genug: gleich zu Anfang seines Berliner Aufenthaltes hat er uns mit einer herrlich gereiften Frucht seiner Lehre beschenkt, welche ihm unter den Wissensdurstigen aller Völker dankbare Schüler gewonnen hat und für alle kommenden Zeiten gewinnen wird. Die von ihm veröffentlichten Vorlesungen über Mechanik, wie sie die alljährliche Neuverarbeitung des Lehrstoffes für die von ihm gehaltenen Vorträge ausgestaltet hatte, zeigen uns den Lehrer gleichzeitig in seiner vollen Eigenart wie in der unnachahmlichen Klarheit, mit welcher die schwierigsten Aufgaben bewältigt sind.

Allein in dem lebendigen Vortrage Kirchhoff's war es nicht nur die vollkommene Durchbildung in der Form, nicht nur die vollendete Abklärung der Gedankenfolgen, welche den Zauber ausübten; es kam noch Anderes hinzu. Wie oft habe ich von den aus Kirchhoff's Vorlesungen Kommenden die unermüdliche Geduld und das liebevolle Eingehen preisen hören, mit welchem der Vortragende Solchen, denen eine Lücke des Verständnisses geblieben war, am Schlusse der Vorlesung Red' und Antwort stand! In der heutigen Versammlung sehe ich nicht wenige, welche das Glück gehabt haben, dem edlen Meister zu Füssen zu sitzen: in ihren Augen lese ich die Bestätigung meiner Worte.

Und wenn von dem, was der Lehrer den Schülern war, die Rede ist, wie wäre es möglich, nicht auch der liebevollen Gesinnung zu gedenken, welche das Haupt der Familie den Seinigen, der Freund den Freunden, der Mensch den Menschen gegenüber bekundete ? Sie erwarten nicht, dass ich es auch nur versuchte, das Bild dieses spiegelreinen Charakters auszuführen. Dies könnte nur dem Jugendfreunde gelingen, dem in der Vertrautheit langjährigen Umganges unverkürzt Gelegenheit geboten war, sich in das Wesen des Mannes allseitig zu vertiefen. Aber auch dem erst in späterem Lebensalter mit ihm in Verkehr Getretenen ist es immer noch vergönnt gewesen, den vollen Eindruck seiner edlen Persönlichkeit in sich aufzunehmen. Wer je, wie flüchtig immer, mit Kirchhoff in Berührung kam, dem sind die opferwillige Herzensgüte, die werkthätige Menschenliebe, welche ihm eigen waren, in der Erinnerung geblieben; wer je in sein klares blaues Auge schaute, musste die Ueberzeugung mitnehmen, dass jene anima candidissima keine andere als reine und grosse Gedanken kannte, Grundton aber in der Natur des Mannes war vollendete Selbstlosigkeit. Auf meinem langen Lebenspfade bin ich Keinem begegnet, bei welchem, wie bei Kirchhoff, höchstes Vollbringen gesellt gewesen wäre mit fast demutsvoller Bescheidenheit.

Das stolze, aber wahre Wort, welches der römische Dichter von sich selber aussprach, der bescheidene deutsche Gelehrte würde es nicht über die Lippen gebracht haben, und doch hätte Keiner mit grösserem Rechte sagen können:

Non omnis moriar, multaque pars mei
Vitabit Libitinam.


Quelle: Deutsche Chemische Gesellschaft:
Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. 20, No.15 (1887), S. 2771-2777
Signatur UB Heidelberg: O 5513::20.1887,2
Abgedruckt auch in: A. W. HOFMANN, Zur Erinnerung an vorangegangene Freunde, Bd. 3, Braunschweig 1888, S. 147 - 156.


Letzte Änderung: 10.01.2011     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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