Paul du Bois-Reymond.(Geboren in Berlin am 2. December 1831, promovirt an der Berliner Universität am 26. März 1859, Privatdocent in Heidelberg 1865 bis 1868, ausserordentlicher Professor daselbst 1868 bis 1870, ordentlicher Professor in Freiburg in Baden vom 28. Februar 1870 bis zum 15. März 1874, von da ab bis zum Herbst 1884 an der Universität zu Tübingen und seitdem an der Technischen Hochschule in Charlottenburg).
(Seite 352) Nur wenige Tage, nachdem der Druck der Abhandlung „Ueber lineare partielle Differentialgleichungen zweiter Ordnung“ (S. 241 bis 301 dieses Bandes) vollendet war, hat den Verfasser der Tod ereilt. Er starb, auf der Durchreise nach Neuchâtel, in Freiburg in Baden am 7. April. Dass er in den letzten Monaten, wo die Krankheit, welcher er erlag, wohl schon weit vorgeschritten war, noch die geistige Spannkraft zur Veröffentlichung der umfangreichen Arbeit sich bewahrt hat, ist bewundernswerth. Es zeigte sich noch bei seiner letzten Publication, dass ihm die mathematischen Fragen stets Lebensfragen gewesen sind.
Er knüpft in dieser Abhandlang, wie er gleich im Anfange bemerkt, an die nm ein Vierteljabrhundert zurückliegenden Untersuchungen an, welche er im Jahre 1864 unter dem Titel „Beiträge zur Interpretation der partiellen Differentialgleichungen mit drei Variabeln (erstes Heft; die Theorie der Charakteristiken)“ als besonderes Werk herausgegeben hat. Schon kurze Zeit nach der Veröffentlichung dieses Werkes scheint P. du Bois-Reymond sich der andern Kategorie von Untersuchungen zugewandt zu haben, welcher der grösste Theil seiner nun folgenden Publicationen gewidmet ist. Denn die erste dieser Abhandlungen, zugleich eine seiner bedeutendsten, ist vom Februar 1868 datirt; sie ist im 69sten Bande dieses Journals abgedruckt und hat den Titel „Ueber die allgemeinen Eigenschaften der Klasse von Doppelintegralen, zu welcher das Fouriersche Doppelintegral gehört“. Während er hierin zeigt, dass es ihm gelungen ist, den Kreis der seit Fourier und Dirichlet bekannten Darstellungsformeln wesentlich zu erweitern, bringt eine zweite, aus jener Reihe hervoranhebende (Seite 353) Abhandlung *) als Erfolg seiner darauf gerichteten Bestrebungen den Nachweis, dass die Anwendbarkeit solcher Darstellungsformeln nicht unbeschränkt ist. P. du Bois-Reymond selbst bezeichnet auf S. IX der Einleitung zu dieser Abhandlung die dabei „gewonnene Einsicht“ nur als „vor der Hand wohl befriedigend“, und es wird hierdurch erklärlich, dass ihn die „dunkeln Fragen“, zu deren Aufhellung er eben beigetragen hatte, und die ihrer Natur nach wohl nicht eigentlich abgeschlossen werden können, noch lange beschäftigten, ja mit unwiderstehlicher Gewalt fesselten. Dass er aber gern davon loskommen wollte und sich darnach sehnte, wieder in seine früheren Forschungsbahnen einzulenken, bezeugen seine Aeusserungen in einem an mich nach Florenz gerichteten Briefe vom 22. April 1886. Er schickte mir damit einen Separatabdruck seiner in den Sitzungsberichten der hiesigen Akademie (1886, XVIII) veröffentlichten Notiz „Ueber die Integration der Reihen“ und schrieb mit Bezug darauf: „Ihr Kriterium für limε=0 ∫φ(x,ε) dx = 0 habe ich nur angeführt, ohne es näher zu discutiren, wozu Zeit und Raum fehlte, werde dies aber in der ausführlicheren Mittheilung nachholen. Dann werde ich dieser Art Mathematik übrigens den Rücken kehren. Es stehen die Ergebnisse in zu ungünstigem Verhältnisse zur Anstrengung, und ausserdem regen sie nicht zu weiterem Forschen an; im Gegentheil, ihre Hauptwirkung ist, der Forschung in einer gewissen Richtung Einhalt zu thun, und das heisst, sehr brav gegen seinen Nächsten, aber zu uneigennützig gegen sich selbst handeln. . . . Ich schreibe jetzt an meinem letzten Aufsatz in dieser Materie, den ich Sie ersuchen werde im Jubelbande unterzubringen. Es handelt sich darin um den Stetigkeitsgrad und den Convergenzgrad in genauerer Durchführung und damit Zusammenhängendes, und dann geht es wieder mit Hurrah! an die partiellen Differentialgleichungen.“
Es ist darum als eine glückliche Fügung zu betrachten, dass die schon seit einiger Zeit von P. du Bois-Reymond gehegte Absicht, seine zum Theil aus älterer Zeit stammenden Aufzeichnungen über lineare partielle Differentialgleichungen zu einem druckfertigen Manuscript zu gestalten, im vorigen Jahre zur Ausführung gekommen, und dass es ihm noch vergönnt gewesen ist, die Reihe werthvoller Beiträge, welche er diesem Journal (Seite 354) zugewandt hat, mit einer wenigstens übersichtlichen Darstellung dessen, was das zweite Heft seiner „Beiträge zur Interpretation der partiellen Differentialgleichungen“ enthalten sollte, und damit auch in gewisser Weise dieses Werk selbst abzuschließen.
In einem von Tübingen am 3, November 1881 an mich gerichteten Briefe P. du Bois-Reymonds findet sieh folgende Stelle: „Nun ist Heine [Eduard Heine 18.3.1821 – 21.10.1881] doch seiner hoffnungslosen Erkrankung erlegen. Ich bedauere ungemein. ihn nicht mehr unter den Lebenden zu wissen, und bewahre treu das Bild des freundlichen, wohlwollenden, bedeutenden Mannes. Er war einer von denen, für die man publicirt; denn es sind doch nur Wenige, an die man als an Leser von Urtheil und Nachsicht beim Niederschreiben seiner Geistesproducte denkt. Ein Glück ist es. dass sein Geschick ihm Zeit liess, die zweite Auflage seines Buches zu vollenden“. Diese Worte sind ein schönes Zeugniss für die edle Gesinnung und die warme Empfindung des nunmehr auch Dahingeschiedenen beim Tode eines Fachgenossen; sie drücken auch am besten aus, was jetzt bei seinem Tode die überlebenden Fachgenossen bewegt.
Berlin, den 18. April 1889. L. Kronecker.
*) „Untersuchungen über die Convergenz und Divergenz der Fourierschen Darstellungsformeln.“ Aus den Abhandlungen der k. bayer. Akademie der Wissenschaften II. Cl. XII. Bd. II. Abth. München 1876.
Verfasser: Leopold Kronecker (7.12.1823 – 29.12.1891)
Quelle: Journal für die reine und angewandte Mathematik.
Band 104 (1899), S. 352–354
Letzte Änderung: 24.05.2024 Gabriele Dörflinger
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