William Threlfall — Mathematiker

Seite 403-405 aus:
Badische Biographien / im Auftr. d. Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg hrsg.
N.F. 6.2011


Manuskript von Gabriele Dörflinger

Threlfall, William Richard Maximilian Hugo, Mathematiker
* 25.6.1888 Dresden, ev., † 4.4.1949 Oberwolfach, 1980 umgebettet auf den Bergfriedhof in Heidelberg

V William (1863-1888), Botaniker an d. Univ. Cambridge.   M Helene Elizabeth Clara, geb. Koch († nach 1930), Nichte von Robert Koch (1843-1910).   G keine.   Unverh.   K keine.

ca. 1907 - 1910 Studium d. Chemie in Jena
1911 - 1914 Studium d. Mathematik in Göttingen
1914 interniert aufgrund seiner britischen Staatsangehörigkeit
1915 Kriegsdienst auf dt. Seite
1916 - 1927 Privatgelehrter u. Landwirt bei Dresden
1926 Dr. phil. bei Friedrich Levi u. Otto Hölder in Leipzig: „Regelmäßige Flächenteilung“
ab 1926 Mitglied der Deutschen Mathematiker-Vereinigung
1927 Habilitation an d. TH Dresden: „Gruppenbilder“
1927 - 1933 Wiss. Hilfskraft u. Assistent in Dresden
1933 - 1936 nichtplanm. ao. Prof. in Dresden
1936 - 1937 planm. ao. Prof. in Halle
1938 - 1943 o. Prof. in Frankfurt am Main, beurlaubt seit 1943
1943 - 1944 Inst. für Gasdynamik u. Luftforschungsanstalt in Braunschweig
1944 - 1946 Math. Forschungsinstitut in Oberwolfach
1946 - 1949 o. Prof. in Heidelberg

T., dessen Vater ein in Cambridge lehrender Botaniker und dessen Mutter eine Nichte Robert Kochs war, verbrachte sein ganzes Leben in Deutschland. Von Haus aus recht wohlhabend, konnte er sein Dasein als Privatgelehrter gestalten. Nach dem Studium der Chemie wandte er sich der Mathematik zu. 1926 promovierte er bei Friedrich Levi und Otto Hölder in Leipzig. Im Jahr darauf habilitierte er sich in Dresden und lehrte dort als Privatdozent.

1927 hörte Herbert Seifert (1907-1996) seine Topologievorlesung. Seifert und T. schlossen Freundschaft und arbeiteten fortan bis zu T.s Tod zusammen. Ihr Hauptarbeitsgebiet war die erst im 20. Jh. entstandene Topologie, die, vereinfacht gesagt, die Eigenschaften geometrischer Körper untersucht, die durch Deformationen nicht verändert werden. Bereits die 1932 gedruckte Habilitationsschrift T.s vermerkt in der Fußnote „Zu der vorliegenden Umarbeitung der ersten Paragraphen hat Herr Herbert Seifert beigetragen“. In der Folgezeit verfassten sie gemeinsam ein „Lehrbuch der Topologie“, das 1934 in erster Auflage erschien, in mehrere Sprachen übersetzt wurde und den Ruhm seiner Verfasser begründete. Dieses didaktisch ausgezeichnete Lehrbuch stellt auch ein vollständiges Kompendium der Topologie dar.

Als Seifert im November 1935 nach Heidelberg versetzt wurde, verließ T. Dresden und nahm ab April 1936 einen Ruf als planmäßiger ao. Professor in Halle an. Hier entstand wiederum gemeinsam mit Seifert die 1938 publizierte „Variationsrechnung im Großen (Morse Theorie)“, die ein Bindeglied zwischen Topologie, Differentialgeometrie und Analysis ist.

1938 wechselte T. nach Frankfurt am Main, wo er ab Oktober als o. Professor wirkte. Seit dem SS 1943 war er beurlaubt. Er arbeitete zunächst — wieder gemeinsam mit Seifert — am Institut für Gasdynamik in Braunschweig und von 1944 bis 1946 am Math. Forschungsinstitut in Oberwolfach. Im April 1945 verblieb er als Ältester allein im Forschungsinstitut, während die jüngeren Mitarbeiter sich verbargen, um einer Einberufung in letzter Stunde zu entgehen.

Im Mai 1946 wurde T. als Nachfolger Artur Rosenthals o. Professor in Heidelberg, wo er gemeinsam mit Seifert im Mathematischen Institut wohnte. Bis zu seinem Tod hielt er Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung, Analytische Geometrie und Differentialgeometrie ab; Seminare bot er stets gemeinsam mit Seifert an. 1947 wurde T. zum ordentlichen Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften gewählt.

Nach der Aussage von Viktor Klemperer (Bd. 1, 1995, 193 f.) sei T. dem Alkohol zugeneigt gewesen: „Gesicht rot, ziemlich alkoholisch“, so charakterisiert er ihn, und sei überzeugter Nationalsozialist. So hatte T. Klemperer gegenüber erklärt: „Ich war Stahlhelmer, überzeugter Nationalsozialist, war Antisemit“. Zumindest die erste Aussage wird durch die Tagebücher T.s bestätigt, das Klaus Volkert auszugsweise im Internet publiziert hat. Darin wird häufig notiert, dass T. morgens verkatert aufgewacht sei. Seine politische Einstellung aber wich nach der NS-„Machtergreifung“ zunehmend der Ernüchterung bis hin zur Abneigung dem NS-Regime gegenüber. Die 1938 publizierte „Variationsrechnung im Großen“ enthält eine lateinischen Einleitung, die der Einleitung Keplers zur Astronomia nova (1609) nachgebildet ist, und mit den Worten beginnt: „Durissima est hodie condicio scribendi libros mathematicos“, wonach die Umstände heutzutage äußerst widrig seien, mathematische Bücher zu schreiben. Der Herausgeber der Buchreihe, Wilhelm Blaschke, erkannte die politische Anspielung und forderte wütend die Entfernung des Satzes, aber Seifert und T. blieben beharrlich und setzten sich durch.

1942 wurde T. in Frankfurt sogar wegen zersetzender Äußerungen angezeigt; das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt, da staatsfeindliche Hetzerei nicht nachzuweisen war, wie Heiber berichtet.

Besonders erbitterte ihn die Ausnutzung einer politischen Position für persönliche Vorteile: in seinen Tagebüchern (Ausgewählte Passagen, 14-16) findet man unter dem 5. Januar 1948 eine wütende Tirade gegen Udo Wegner, der 1936 unter weitgehendem Ausschluss der o. Professoren als politisch erwünschter Ordinarius der Mathematik nach Heidelberg berufen wurde, bei rechtswidrigen Promotionen und Habilitationen mitwirkte und nach der deutschen Niederlage 1945 dann auch wieder entlassen wurde.

1949 starb der 61-jährige T. bei einem Aufenthalt in Oberwolfach. Er ruht seit der Umbettung gemeinsam mit Seifert und dessen Frau in einem Grab auf dem Heidelberger Bergfriedhof. In den Nachrufen der Univ. Heidelberg und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften wird T.s überzeugtes Eintreten für internationale Zusammenarbeit und Völkerverständigung hervorgehoben.

Q  UA Heidelberg PA 6081, Handakte HAW Nr. 473; Tagebuch von H. [Herbert Seifert] und W. [William T.] 1930-1949. 22 Bde. Digital erschienen Bd. 16 u. 17 sowie ausgewählte Passagen.

W  Regelmäßige Flächenteilung, (Diss. phil. Leipzig 1926); Gruppenbilder (Hab.-Schrift), 1932 (59 S.); (mit H. Seifert), Lehrbuch d. Topologie, 1934 (360 S.); (mit H. Seifert), Variationsrechnung im Großen, 1938 (115 S.).

L  August Seybold, Gedenken an W. T, in: Ruperto Carola, Nr. 4, 1951, 17; Viktor von Weizsäcker, Jahresbericht, in: Jahreshh. d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften, 1943/55, 1959, 64-65; Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz Bd. 1, 1991, 298 f.; Viktor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, 1995, 193 f.; Florian Jung, Das Mathematische Institut d. Univ. Heidelberg im Dritten Reich, Staatsexamensarbeit, 1999, 43, 89, 94; Dieter Puppe, History of topology, 1999, 1021-1028; Waltraud Voss, Ihre Freundschaft u. Zusammenarbeit begannen in Dresden, in: Wanderschaft in d. Mathematik, 2006, 229-236; Philipp Ullmann: Die Mathematik des Alltäglichen: das Tagebuch von W. T. u. Herbert Seifert, in: Mathematische Semesterberichte, 55, 2008, 57 f.; Dagmar Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1933-1986, 2009, 619 f.

B  UA Heidelberg 3383 u. 3384 u. Ruperto Carola Nr. 4, 1951, 17.

Gabriele Dörflinger


Letzte Änderung: 04.08.2009 Gabriele Dörflinger


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