Am 31. August 1821 wurde dem Potsdamer Gymnasiallehrer Ferdinand Helmholtz sein erster Sohn, Hermann Ludwig Ferdinand, geboren. In seinen ersten sieben Jahren machte das körperlich kränkliche Kind den Eltern viel zu schaffen, ein Umstand, der auch seinen ersten Unterricht ein wenig hemmte. Obwohl Hermann mit sieben Jahren die Volksschule des Potsdamer Schullehrerseminars besuchte, so war er doch durch häufige Kränklichkeit vom regelmäßigen Unterricht ausgeschlossen. Trotzdem soll er schon damals die Lehrer durch seine schnelle Auffassung — besonders in der Geometrie — überrascht haben.
Auf dem Gymnasium seiner Heimatstadt, das er vom Frühling 1830 bis zum September 1838 besuchte, litt er anfangs unter seinem nicht besonders guten Gedächtnis. Fünfzig Jahre später äußerte sich Helmholtz darüber folgendermaßen: „Als erstes Zeichen davon betrachte ich die Schwierigkeit, deren ich mich noch deutlich entsinne, rechts und links zu unterscheiden; später, als ich in der Schule an die Sprachen kam, wurde es mir schwerer als anderen, mir die Vokabeln, die unregelmäßigen Formen der Grammatik, die eigentümlichen Redewendungen einzuprägen. Der Geschichte vollends, wie sie uns damals gelehrt wurde, wußte ich kaum Herr zu werden. Stücke in Prosa auswendig zu lernen, war mir eine Marter. Dieser Mangel ist natürlich nur gewachsen und eine Plage meines Alters geworden. Gedichte von großen Meistern behielt ich sehr leicht, etwas gekünstelte Verse von Meistern zweiten Ranges lange nicht so gut.“
Den jungen Gymnasiasten schildern seine Mitschüler als zurückhaltend, gesetzt und gegen die schwächeren von ihnen als stets wohlwollend. Seine Vorliebe für Naturwissenschaften hat schon damals (Seite 2) den hervorstechendsten Zug seiner Begabung verraten, obwohl sein Abgangszeugnis vom Gymnasium seine Kenntnisse in den anderen Gegenständen auch lobend hervorhebt. Sein Vater, der an demselben Gymnasium als Philologe tätig war, leitete mit sicherer Hand die Erziehung seines Sohnes, und es läßt sich nicht leugnen, daß er es war, der bei seinem Sohne jene Liebe für die Kunst und Literatur großzog, die ihn vor jener Einseitigkeit bewahren sollte, in die viele Fachgelehrte zu verfallen pflegen.
Mit 17 Jahren sehen wir den jungen Helmholtz in das Königl. medizinisch-chirurgische Friedrich-Wilhelms-Institut zu Berlin eintreten. Da die Mittel des Vaters nicht ausreichten, um den Sohn Medizin studieren zu lassen, so blieb ihm nichts anderes übrig, als diesen nicht besonders bequemen Weg zu betreten. Die Eleven dieses Institutes werden auf Staatskosten zu Ärzten ausgebildet, aber nur gegen die Verpflichtung, mehrere Jahre nach vollendeter Ausbildung als Militärärzte tätig zu sein.
Einem Briefe an seine Eltern entnehmen wir folgende Stelle, die seinen damaligen Lehrplan schildert: „Wir haben wöchentlich 48 Stunden: 6 Chemie in Mitscherlichs Wohnung, 6 allgemeine Anatomie, 4 Splanchnologie (Die Lehre von den Eingeweiden), 3 Osteologie (Knochenkunde), 3 Anatomie der Sinnesorgane. Diese alle außer der Osteologie im anatomischen Theater. Letztere nebst 4 Physik bei Turte und 2 medizinische Enzyklopädie bei Hecker in der Universität, 2 Logik bei Wolf im anatomischen Theater! 3 Geschichte bei Preuß, 2 Latein bei Hecker, l Französisch bei einem Prediger Goßhauer in dem Institut. Außerdem haben wir zwölf Repetitionsstunden, die aber erst in 14 Tagen angehen.“
Der Vater erteilt dem jungen Studenten Ratschläge über sein Verhalten und ermahnt ihn, die Musik nicht zu vernachlässigen, worauf er antwortet: „Was Ihr fürchtet, daß ich die Musik werde liegen lassen, glaube ich, wird dadurch verhindert, daß mir eben die neuere Musik, welche mein Gefährte (mit dem er das Zimmer teilte) so liebt, nicht genügt, und ich daher, um tiefere zu hören, (Seite 3) selbst spielen muß; auch ist mir selten der Ausdruck und Vortrag eines anderen genügend; ich habe immer weit mehr Vergnügen an der Musik, wenn ich sie selbst ausführe … Das Essen hier im Institut ist nicht so schlecht, wie es die meisten beschreiben, obgleich nicht so kräftig wie Privatkost. Suppe und Gemüse können wir zweimal bekommen, nur Fleisch gibt es nur einmal.“
Das Studium scheint den jungen Helmholtz sehr interessiert zu haben, er besuchte die Vorlesungen und ergänzte seine Kenntnisse außerdem noch aus Büchern.
Seine allgemeine Ausbildung wird dabei durchaus nicht vernachlässigt. Er liest Byron, Homer, Kant, letzteren allerdings ohne besonderes Behagen, während er von Homer sich nur schwer trennen kann. Auch das gesellschaftliche Leben wird nicht vernachlässigt; mit einem Worte, der junge Helmholz hat ebenso wie der alte mit seiner Zeit haushälterisch umzugehen verstanden.
Von besonderem Einfluß auf seinen Ideengang waren damals die Vorlesungen von Johannes Müller (1801 - 1858). Dieser Einfluß blieb für die Entwickelung des zukünftigen Physiologen Helmholtz von einschneidender Bedeutung, wie wir das noch später sehen werden.
Johannes Müller nimmt in der modernen Naturwissenschaft einen hervorragenden Platz ein, nicht bloß wegen seiner eigenen Leistungen, sondern auch wegen der befruchtenden Tätigkeit, die von ihm als Lehrer ausging.
Wie die Physiologen seiner Zeit, war auch Müller Vitalist. Die Lebenskraft war ihm zwar eine andere Kraft als die, welche die leblose Natur beherrscht, aber er dachte sich diese Kraft als eine physikalisch-chemische Funktion. Sein Streben ging dahin, die Lebenserscheinungen mechanisch zu erklären. Trotz der Detailforschung, die er besonders pflegte, blieb sein Blick stets auf das Ganze gerichtet, dieser Zug auf das Ganze kehrt dann bei Helmholtz immer wieder.
Die Naturphilosophie stand damals unter dem Einflusse der Schellingschen und Hegelschen Ideen, sie verlor sich in phantastischen Spekulationen, die das Detail, das Experiment gänzlich vernachlässigten. Für sie galt es, das Universum einheitlich zu deuten, ein würdiges Ziel, das aber in den gewählten Mitteln gänzlich fehlschlug. Johannes Müller verband nun dieses Ziel mit der exakten (Seite 4) Untersuchungsmethode, wodurch er der Wissenschaft einen unschätzbaren Dienst leistete. Dieser Zug auf das Ganze tritt uns schon in seiner Habilitationsrede: „Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung“ entgegen. Die vergleichende Physiologie wurde auf diese Weise erst ermöglicht. Sowohl in seinen Vorlesungen als auch in seinen Schriften finden wir das Bestreben, der Physiologie eine breite Basis zu geben und sie im Zusammenhange mit den benachbarten Gebieten zu behandeln. In erster Reihe kamen die physiologischen Forschungen der Psychologie zustatten. In seiner Doktorprüfung verteidigte bereits Johannes Müller die These: „Psychologus nemo nisi Physiologus“', eine These, die man heute nicht mehr zu verteidigen braucht, da sie unbedingte Anerkennung gefunden hat.
Zusammengefaßt hat Müller seine Untersuchungen in seinem „Handbuch der Physiologie“, das noch heute als Muster einer Darstellung eines der wichtigsten Zweige der modernen Naturwissenschaft angesehen werden kann. Zwar sind viele von den Einzelheiten dieses Werkes längst überholt, die bessere Untersuchungstechnik hat manches seiner Ergebnisse modifiziert, aber als Ganzes betrachtet, ist es noch immer ein Meisterwerk.
Der Einfluß, den Johannes Müller auf Helmholtz ausgeübt hat, läßt sich bei der Wahl seines Themas zur Doktordissertation schon erkennen. Er wählte eine mikroskopisch- anatomische Arbeit (De Fabrica Systematis nervosi Evertebratorum) und wies nach, daß die Nervenfasern aus den von Ehrenberg 1833 entdeckten Ganglienzellen entspringen. Der bisher vergeblich gesuchte Zusammenhang von Nervenfasern und Nervenzellen, und damit der Nachweis der zentralen Natur dieser Zellen wurde von Helmholtz für wirbellose Tiere erwiesen.
Mit dieser ersten Arbeit betrat Helmholtz das Gebiet der exakten Physiologie, die er durch seine späteren Arbeiten um ein beträchtliches Stück weiter brachte. Die rein theoretisierenden Überlegungen mußten allmählich den durch Experiment gefundenen Tatsachen weichen, die Spekulation wurde durch das Mikroskop und die Chemie verdrängt. Erst nachdem auf diese Weise eine große Anzahl von Spezialfallen untersucht wurde, konnte man zu einer systematischen Gliederung der Erscheinungen gelangen, und die auf (Seite 5) diesem Wege gefundene Übereinstimmung oder Abweichung der gewonnenen Resultate bildete die Basis zur Aufstellung allgemeiner Gesetze. In diesem Verfahren liegt eben der große Fortschritt der modernen Naturwissenschaft, für die die Welt der Erscheinungen und nicht die der Ideen den Ausgangspunkt bildet. Während man früher auf Grund abstrakter Begriffe die Welt zu erklären suchte, beginnt die moderne Naturwissenschaft mit den realen Tatsachen der Außenwelt und nicht mit denen der Innenwelt ihre Untersuchungen.
Die alte Methode nennt man die deduktive, die neue — induktive. Allerdings verschließt sich die neue Methode nicht den gelegentlichen Vorteilen, die die Deduktion der Forschung bietet, aber sie ist sich immer dessen bewußt, daß es eben eine Deduktion ist, die erst dann zu einer brauchbaren Wahrheit, Erkenntnis wird, wenn die Induktion sie bestätigt hat. Es kann etwas logisch richtig abgeleitet werden, ohne daß es tatsächlich ist; das Vernünftige ist nicht immer auch das Wirkliche, obwohl unsere Denkungsweise immer darauf losarbeitet, eine Harmonie zwischen beiden herzustellen.
Will man exakte Naturwissenschaft treiben, so heißt es immer: die Natur, die Außenwelt mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln ausfragen, und das tat auch Helmholtz gleich in seinen ersten Untersuchungen, auf Grund deren er am 2. November 1842 zum Doktor promoviert wurde. Er arbeitete auch eine Zeitlang darauf im Laboratorium von Johannes Müller, und als Frucht dieser Arbeit erscheint im Jahre 1843 seine Abhandlung „Über das Wesen der Fäulnis und Gärung“.
Vom 1. Oktober 1843 bis zum Sommer 1848 mußte Helmholtz — gemäß seiner Verpflichtung für die kostenlose Ausbildung in der Medizin — als Eskadronchirurgus bei den Gardehusaren und als Militärarzt im königl. Regiment der Gardes-du-Corps in Potsdam dienen. Obwohl der wissenschaftlichen Umgebung entrückt, richtete er sich in seiner Kaserne ein kleines physikalisch-physiologisches Laboratorium ein, in dem ihn seine Berliner Studienkollegen du Bois-Reymond und Brücke zu besuchen pflegten, um über (Seite 6) wissenschaftliche Arbeiten sich zu unterhalten. Des öfteren pflegte auch der 23jährige Helmholtz nach Berlin zu fahren, um bei seinem Lehrer und Meister Müller sich wissenschaftlichen Rat und Aufklärung zu verschaffen. Hier lernte er auch einige gleichstrebende junge Kollegen kennen, mit denen ihn wissenschaftliche und freundschaftliche Interessen für das ganze Leben verbinden sollten.
Die Frage nach dem Zusammenhange der Muskelarbeit und Wärme beschäftigte ihn damals, und mit den primitivsten Versuchsapparaten gelang es ihm, zu Resultaten zu gelangen, die allmählich das Bild der damaligen Weltanschauung wesentlich ändern sollten.
Um diese Zeit lernte er auch seine spätere Frau Olga kennen. Seine Schwägerin schildert den jungen Gelehrten folgendermaßen: „Sehr ernst und innerlich, etwas ungewandt und beengt unter zum Teil lebhaft angeregten und weltkundigen jungen Männern, war es ganz charakteristisch, was man mir bei seiner Vorstellung sagte: ein sehr gescheiter Mensch, aber Sie müssen ihn erst ausgraben; das wurde dann in der Tat eine Schatzgräberei.“ Helmholtz musizierte damals viel mit seiner Braut, versuchte sich auch in kleinen Gedichten und spielte sogar mit gutem Erfolg in einigen Theateraufführungen mit, ohne aber seine wissenschaftlichen Untersuchungen ganz zu vergessen.
Mitte Februar 1847 schickte er an du Bois einen Entwurf, der die Einleitung zu seiner Lehre von der Erhaltung der Kraft bilden sollte. Wie Helmholtz selbst an sich Kritik zu üben pflegte, geht aus dem Begleitschreiben an seinen Freund hervor; „Nicht weil ich damit fertig zu sein glaube, denn ich habe eben beim Durchlesen gesehen, daß vielleicht nichts darin bleiben kann, sondern weil ich noch nicht absehe, wie oft ich ihn noch umarbeiten muß, ehe er fertig ist, und weil ich zu erfahren wünsche, ob Du die Art der Darlegung für eine solche hältst, die bei Physikern Eingang finden kann. Ich habe mich bei der letzten Ausarbeitung zusammengenommen und Alles über Bord geworfen, was nach Philosophie roch, soweit es nicht dringend nötig war, darum mögen einige Gedankenlücken geblieben sein. Du wirst aber ungefähr die Art der Beweisführung daraus sehen können. Eile hat es nicht mit dem Durchlesen, tue es nach Muße, und schreibe mir dann; wo Du Dunkelheiten oder Lücken im Einzelnen findest, bemerke es am (Seite 7) Rande; vielleicht komme ich in einiger Zeit selbst einmal nach Berlin, um mich mündlich mit Dir zu besprechen.“
Die in dieser Abhandlung niedergelegten Resultate hat Helmholtz noch vor ihrer Veröffentlichung am 23. Juli 1847 in der Berliner Physikalischen Gesellschaft mitgeteilt.
In der damaligen Gelehrtenwelt machte diese grundlegende und für den Gang der naturwissenschaftlichen Erkenntnis bahnbrechende Arbeit Aufsehen, obwohl es auch nicht an verständnislosen Beurteilern und Neidern fehlte, die die Tragweite der Lehre von der Erhaltung der Kraft nicht erkannten, oder sie als eine bereits bekannte Tatsache hinzustellen suchten.
Auf diesen Punkt werden wir im zweiten Teile unserer Darstellung noch zurückkommen, hier möge nur soviel erwähnt werden, daß Helmholtz — nach dem Ausspruche seines Biographen Leo Königsberger — durch seine Arbeit über die Erhaltung der Kraft in die erste Reihe nicht nur der Physiker, sondern auch der Physiologen getreten war, welche in diesem Prinzip ein unschätzbares Mittel zur Bekämpfung der Lebenskraft erblickten.
Im Januar 1848 bewarb sich Helmholtz um die freigewordene Lehrerstelle für Anatomie an der Berliner Kunstakademie. Johannes Müller berichtete über ihn an den Minister: „Dr. Helmholtz hat sich bereits durch seine Inauguralschrift von 1842 als begabt und talentvoll zu erkennen gegeben. Seit dieser Zeit hat er in verschiedenen Schriften und Abhandlungen, die in seiner Eingabe namentlich aufgeführt sind, seine Anlage weiter dokumentiert. Er gibt sich darin als einen anatomisch-physiologischen Beobachter von großer Geschicklichkeit und sehr vielseitiger Bildung zu erkennen, von dem die Wissenschaft noch große Leistungen zu erwarten hat. Unter den talentvollen Männern, welche für das Feld der Anatomie und Physiologie hier ihre Bildung erhalten haben, und welche zum Teil bereits Lehrstühle an Universitäten des Auslandes und Inlandes einnehmen, ist Helmholtz eines der selteneren großen Talente, die ich vorzugsweise auszeichne. Seine Bildung und seine Kräfte sind nach mehreren Richtungen zugleich ausgezeichnet. Denn was in Beziehung auf seine anatomisch-physiologischen Arbeiten anerkennend gesagt worden, würde in gleicher Weise auch von seinen physikalischen Studien und seinen tiefgehenden mathematischen Kenntnissen (Seite 8) zu wiederholen sein. …“ Auf Grund dieser Empfehlung wurde Helmholtz aufgefordert, am 19. August 1848 vor dem Senat und den Lehrern der Akademie eine Probevorlesung zu halten. Der Inhalt dieser im Nachlasse aufgefundenen Vorlesung beweist, daß Helmholtz sich genau der Aufgabe bewußt war, die ihm als Lehrer der Anatomie an einer Kunstakademie oblag. Er zeichnete den Unterschied zwischen der Anatomie, die man Medizinern und der, die man Künstlern vorzutragen habe, in großen und klaren Zügen und sagte u. a.: „Wie die Anatomie mit dem Künstler zu betreiben sei, das muß sich am besten entscheiden lassen, wenn wir bestimmen, wozu die Anatomie dem Künstler behilflich sein solle, und wozu sie nötig sei? Die antiken Künstler haben das Innere des menschlichen Körpers nicht kennen gelernt. Die Alten hatten teils eine natürliche, unüberwindliche Scheu vor der Zergliederung von Leichnamen, teils wurden sie von ihren religiösen Vorstellungen daran gehindert. … Der Mediziner mag allenfalls aus der Zergliederung dieses menschenähnlichen Tieres (des Affen) das notwendigste entnehmen können, und doch finden sich auch bei den berühmtesten medizinischen Schriftstellern des Altertums, z. B. Galen, einige anatomische Angaben, welche für den Menschen unrichtig sind und nur für den Affen zutreffen. Den Künstlern würde dieses Surrogat der menschlichen Anatomie doch von keinem Nutzen haben sein können, sie blieben beschränkt auf die sorgfältigste Beobachtung der Oberfläche des Körpers, höchstens blieb es ihnen überlassen, wenn sie bei Tieren Knochen, Muskeln und Sehnen in ihrer Verbindung kennen gelernt hatten, dieselben beim Menschen, so gut es ging, durch die Haut hindurch mit Auge und Tastsinn sich aufzusuchen und ihre Gestalt zu erforschen.
Und doch, trotz dieser beschränkten Hilfsmittel, diese wunderbare Vollendung in den Kunstwerken des Altertums, nicht nur die genaueste Kenntnis der ruhenden Form, mit dem empfindlichsten Schönheitssinn in allen Verhältnissen nachgeahmt, sondern auch die feinste Berücksichtigung des lebendigen Muskelspiels in den Bewegungen. …
Man sollte fast fragen, wozu überhaupt Anatomie, wenn die höchste Entwicklungsstufe der Skulptur ohne Anatomie erreicht werden konnte? Wozu etwas weiteres studieren als die Oberfläche, da die (Seite 9) Kunst ja weiter nichts in die Erscheinung zu bringen hat als die Oberfläche? Hierauf ist einmal zu erwidern, daß selbst an diesen Werken des wunderbarsten Nachahmungstalentes, des ausgebildetesten Schönheitssinnes und wahrscheinlich auch des eisernsten Fleißes doch nicht wenige kleinere Fehler vorkommen, welche ein guter Kenner der Anatomie selbst bei geringerer Geschicklichkeit, als der bildende Künstler besaß, zu umgehen gewußt haben würde. …“
Da Helmholtz noch drei pflichtmäßige Dienstjahre als Militärarzt abzudienen hatte, mußte sich Alexander von Humboldt um seine Befreiung aus diesem Dienstverhältnisse beim Ministerium verwenden. Daraufhin wurde Helmholtz an der Kunstakademie mit einem Gehalt von 400 und als Gehilfe beim anatomischen Museum mit 200 Thalern jährlich angestellt.
In dieser neuen Stellung sollte jedoch Helmholtz nicht lange
verbleiben. Dank seinem fortgesetzten Eifer, mit dem er sich der
Lösung exakt wissenschaftlicher Probleme zuwandte, gelang es ihm, die
Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Kreise auf sich zu lenken. Als
in Königsberg durch die Berufung Brückes nach
Wien der Lehrstuhl für Physiologie frei wurde, wurde Helmholtz zum
außerordentlichen Professor der Physiologie mit einem etatsmäßigen
Jahresgehalt von 800 Thalern ernannt und aufgefordert, noch im
Sommersemester 1849 sein neues Lehramt anzutreten.
S. 1 - 9 aus:
Reiner, Julius: Hermann von Helmholtz. - Leipzig, [1905]
Letzte Änderung: 26.02.2013 Gabriele Dörflinger Kontakt
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