Mit der neuen Anstellung wurde es Helmholtz erst ermöglicht, seine Braut heimzuführen. Die Eltern des jungen Professors schwelgten im Glücke, und der Vater, dem es nach einer viel längeren und anstrengenderen Laufbahn nicht möglich war, es zu einer so angesehenen und gut dotierten Stellung zu bringen, schreibt am 16. September 1849 an seinen Hermann: „Liebe Kinder! Wenn ich nur wüßte, wie und was ich schreiben sollte, um Euch eben solche Freude (Seite 10) durch meinen Brief zu machen, als Ihr mir durch den Eurigen gemacht habt! Hier ist in unserm stillen Leben alles beim Alten; … Olga halte deinen Hermann zur Ordnung an, denn das ist seine schwache Seite, und wenn er einmal Vater sein wird, muß er darin seinen Kindern ein strengeres Beispiel geben, als ich ihm gegeben habe …“
Es dauerte nicht lange, und Helmholtz lebte sich in sein neues Amt und seine neue Umgebung ein. Die Vorbereitungen zu den Vorlesungen nahmen ihm viel Zeit in Anspruch, die wissenschaftliche Forschung wurde aber trotzdem nicht vernachlässigt. Er beschäftigte sich damals mit den Untersuchungen über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenreizung, auf die wir noch später zurück kommen. Wieder ist es du Bois-Reymond, der zuerst Kenntnis von diesen Arbeiten erhält und aufgefordert wird, diese Abhandlung der Physikalischen Gesellschaft in Berlin vorzulegen „und in ihren Akten als Prioritätswahrung zu deponieren.“ Die Aufnahme dieser Arbeit in Berlin wird von du Bois folgendermaßen geschildert: „Deine Arbeit, ich sage es mit Stolz und Trauer, ist hier in Berlin nur von mir verstanden und gewürdigt worden. Du hast die Sache nämlich, nimm es mir nicht übel, so maßlos dunkel dargestellt, daß Dein Bericht höchstens für eine kurze Anleitung zur Wiedererfindung der Methode gelten konnte. Die Folge war, daß Müller sie nicht wieder erfand, und die Akademiker nach seinem Vortrage sich vorstellten, Du hättest die Zeit, die auf den Vorgang im Muskel verfließt, nicht zu eliminieren gewußt … In der Gesellschaft trug ich es vor, … Humboldt aber war ganz depaysiert und weigerte sich, Deine Schrift nach Paris zu schicken, worauf ich mich erbot, sie zur Verständlichkeit umzuarbeiten. Ich habe dies nun auf meine Verantwortung getan …“
Allmählich bahnte sich aber diese Untersuchung auch den Weg, und schon am 12. Februar 1850 konnte A. von Humboldt an Helmholtz schreiben: „Es gehört Ihr Scharfsinn und Ihr Talent im Experimentieren mit den feinsten Vorrichtungen dazu, um Zeitteile zu messen, in denen die Nervenwirkung sich fortpflanzt. Sie werden mir und unserem gemeinschaftlichen Freunde du Bois verzeihen, wenn durch eine neue Abschrift er Einiges sprachlich richtiger und deutlicher gemacht, ohne im geringsten gewagt zu haben, zuzusetzen (Seite 11) oder den Sinn zu verändern. Ich habe sogleich den Aufsatz durch die hiesige französische Gesandtschaft mit einem sehr empfehlenden Briefe an Mr. Arago mit der Bitte gesandt, ihn bald der Akademie mitzuteilen und in die Comptes rendus einzurücken. Eine so merkwürdige Entdeckung spricht durch das Erstaunen, das sie erregt …“
Getreu der induktiven Methode hat Helmholtz in der folgenden Zeit seine Versuche über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenreize nicht bloß an Fröschen, sondern auch an sich und anderen Menschen fortgesetzt, um durch die Häufung der gewonnenen Resultate seiner Entdeckung eine sichere Grundlage zu gewähren. Er veröffentlichte in kurzen Zwischenräumen seine Untersuchungen, die der Physiologie ein völlig neues und unabsehbares Forschungsgebiet eröffnet haben. Ganz abgesehen von der direkten Förderung der mit diesen Untersuchungen zusammenhängenden Wissenschaft, haben dieselben auch auf weit ab liegenden Wissenszweigen eine Berichtigung angebahnt. Insbesondere war es die mechanistische Weltauffassung, die durch diese Untersuchungen befestigt wurde.
Scheinbar ganz aus dem Rahmen seiner Tätigkeit fällt eine Erfindung, die Helmholtz Ende 1850 gemacht, und die zu seiner Berühmtheit vielleicht mehr beigetragen hat, als alle vorausgegangenen und nachfolgenden Untersuchungen. Die praktische Tragweite dieser Erfindung war es hauptsächlich, die den Namen des Königsberger Professors über alle zivilisierten Länder verbreiten half, obwohl Helmholtz selbst, wie aus seinen zahlreichen Äußerungen und Briefen hervorgeht, kein so großes Gewicht auf diese Erfindung zu legen pflegte, wenn er auch die Bedeutung derselben durchaus nicht unterschätzte.
Nachdem Helmholtz seine Erfindung des Augenspiegels am 6. Dezember 1850 der Physikalischen Gesellschaft in Berlin mitgeteilt, schreibt er einige Tage darauf seinem Vater: „Betreffs der Zeitmessungen habe ich bis jetzt noch keine neueren Resultate, sondern die Zeit mit Konstruktion anderer Apparate und nötigen Vorarbeiten hingebracht. Außerdem habe ich aber bei Gelegenheit meiner Vorträge über Physiologie der Sinnesorgane eine Erfindung gemacht, welche möglicherweise für die Augenheilkunde von dem allerbedeutendsten Nutzen sein kann. Sie lag eigentlich auf der Hand, erforderte weiter keine Kenntnisse, als was ich auf dem Gymnasium (Seite 12) von Optik gelernt hatte, daß es mir jetzt lächerlich vorkommt, wie andere Leute und ich selbst so vernagelt sein konnten, sie nicht zu finden. Es ist nämlich eine Kombination von Gläsern, wodurch es möglich wird, den dunkeln Hintergrund des Auges durch die Pupille hindurch zu beleuchten, und zwar ohne ein blendendes Licht anzuwenden, und gleichzeitig alle Einzelheiten der Netzhaut genau zu sehen, sogar genauer, als man die äußeren Teile des Auges ohne Vergrößerungen sieht, weil die durchsichtigen Teile des Auges dabei die Stelle einer Lupe von 20maliger Vergrößerung für die Netzhaut vertreten. Man sieht die Blutgefäße auf das zierlichste, Arterien und Venen verzweigt, den Eintritt des Sehnerven in das Auge u. s. w. … Durch meine Erfindung wird die speziellste Untersuchung der inneren Gebilde des Auges möglich …“
Der Begründer der modernen Augenheilkunde Graefe hat sich dieser wichtigen Erfindung bei seinen Untersuchungen bald zu bedienen gewußt, und es unterliegt keinem Zweifel, daß die Erfindung des Augenspiegels der wissenschaftlichen Ophthalmologie zu ihrem Aufschwunge stark verholfen hat.
Wie bescheiden Helmholtz über diese bahnbrechende Erfindung dachte, geht aus seiner Äußerung hervor, die er 40 Jahre später machte, und die charakteristisch für die Geschichte nicht nur dieser, sondern der meisten bedeutendsten Erfindungen ist, weil dabei der Zufall und nicht die Absicht die hauptsächlichste Rolle spielt.
„Der Augenspiegel — erzählt Helmholtz — ist wohl die populärste meiner wissenschaftlichen Leistungen geworden, aber ich habe schon den Augenärzten berichtet, wie dabei das Glück eine unverhältnismäßig größere Rolle gespielt hat als mein Verdienst. Ich hatte die Theorie des Augenleuchtens, die von Brücke herrührte, meinen Schülern auseinanderzusetzen. Brücke war hierbei eigentlich nur noch um eines Haares Breite von der Erfindung des Augenspiegels entfernt gewesen. Er hatte nur versäumt, sich die Frage zu stellen, welchem optischen Bilde die aus dem leuchtenden Auge zurückkommenden Strahlen angehörten. Für seinen damaligen Zweck war es nicht nötig, diese Frage zu stellen. Hätte er sie sich gestellt, so war er durchaus der Mann dazu, sie sich ebenso schnell zu beantworten wie ich, und der Plan zum Augenspiegel wäre gegeben gewesen. Ich wendete das Problem hin und her, um zu sehen, (Seite 13) wie ich es am einfachsten meinen Zuhörern würde vortragen können, und stieß dabei auf die bezeichnete Frage … ich machte mich sogleich daran, das Instrument aus Brillengläsern und Deckgläschen für mikroskopische Objekte zusammenzukitten. Zunächst war es noch mühsam zu gebrauchen. Ohne die gesicherte theoretische Überzeugung, daß es gehen müßte, hätte ich vielleicht nicht ausgeharrt. Aber nach etwa acht Tagen hatte ich die große Freude, der Erste zu sein, der eine lebende menschliche Netzhaut klar vor sich liegen sah.“
Mit unermüdlichem Eifer und Fleiß arbeitet Helmholtz um diese Zeit an dem Ausbau der Physiologie der Sinne und Nerven, sogar die Ferien werden dazu benutzt, um die physiologischen Institute und die führenden Geister auf diesem Gebiete zu besuchen. Anerkennungen und Ehrenbezeigungen werden dem jungen Gelehrten immer mehr entgegengebracht, sie tragen aber dazu bei, ihm das Unzulängliche seiner eigenen Leistungen, die er mit dem Maßstabe seines Wollens mißt, ins Bewußtsein zu führen. Es vergeht fast kein Semester, in dem nicht irgend eine wichtige Untersuchung ausgeführt wurde. Dabei ist er als Universitätsprofessor stark in Anspruch genommen, die private Korrespondenz mit den wissenschaftlichen Autoritäten seines Faches verlangt ebenfalls viel Zeit, trotzdem ist seine Arbeitskraft immer im Steigen begriffen, wie das die große Anzahl seiner größeren und kleineren Arbeiten beweist.
In Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen wird er um diese Zeit zum ordentlichen Professor der Physiologie in Königsberg ernannt.
Am 28. Juli 1852 hielt er seinen Habilitationsvortrag „Über die Natur der menschlichen Sinnesempfindungen“. Mit diesem Vortrage sehen wir Helmholtz ein neues Forschungsgebiet betreten. Er stellt sich keine leichte Aufgabe. Auf Grund der experimentellen Physiologie will er die äußerst schwierigen und verwickelten erkenntnistheoretischen und psychologischen Fragen beantworten. Ein ungeheures Maß von Wissen ist dazu erforderlich gewesen, um damals die Frage in ihrer ganzen Tragweite formulieren zu können. Wir ersehen aus diesem Vortrage, daß Helmholtz auch auf dem Gebiete der Philosophie sich umgesehen hatte, und daß er mit viel kritischem Geist an diese Fragen herangetreten war. (Seite 14) Es gehörte auch keine geringe Ausdauer des Denkens dazu, um diese Probleme in ihrer Vielseitigkeit zu erfassen und den neuen Gesichtspunkten unterzuordnen.
Während Helmholtz durch seine früheren Arbeiten nur die Aufmerksamkeit der Physiker und Physiologen auf sich gezogen hatte, lenkte dieser Habilitationsvortrag auch die Aufmerksamkeit der Philosophen auf ihn; allerdings trug er ihm von dieser Seite wenig Beifall ein.
Im August 1853 trat Helmholtz seine erste Reise nach England an und wurde von den dortigen Fachgenossen mit großen Ehren empfangen. Er nahm am Kongreß der „British Association“ in Hull teil, wo er auch an der Diskussion sich beteiligte. Seinem Freunde Ludwig-Wien berichtet er über seine Reiseeindrücke: „England ist ein großes Land, und man fühlt hier, was für ein großartiges und herrliches Ding die Zivilisation ist, wenn sie in alle kleinsten Beziehungen des Lebens eindringt. Gegen London sind Berlin und Wien doch nur Dörfer. London läßt sich gar nicht beschreiben, man muß das dortige Treiben mit eigenen Augen gesehen haben, es ist ein Lebensereignis, es zu sehen, man lernt dort das menschliche Treiben nach anderem Maßstabe zu beurteilen.“
Nach Königsberg zurückgekehrt warf er sich mit frischem Eifer auf seine Untersuchungen. Diesmal war es die Optik, die ihn besonders beschäftigte. Die Vielseitigkeit seiner Begabung verriet er auch bei der Konstruktion der technischen Hilfsmittel, die er bei seinen Untersuchungen nötig hatte, und die er sich zuerst selbst zu bauen pflegte. „Ich selbst war gewöhnt und habe diese Gewohnheit sehr nützlich gefunden, wenn ich ganz neue Wege der Untersuchung einschlagen wollte, mir Modelle der erforderlichen Instrumente, freilich zerbrechlich und aus schlechtem Material vorläufig zusammengeflickt, herzustellen, die wenigstens soweit reichten, daß ich die ersten Spuren des erwarteten Erfolges wahrnahm und die wichtigsten Hindernisse kennen lernte, die ihn vereiteln konnten.“ Er fand auch bei seiner Frau viel Verständnis für seine Arbeiten, sie arbeitete und schrieb für ihn, er las ihr seine Vorträge, die für die Öffentlichkeit bestimmt waren, vor, um an ihrem Verständnis das seiner Zuhörer zu messen. Sie mußte auch öfters als Versuchsobjekt bei seinen Experimenten herhalten, er bat dann freundlich-verlegen: (Seite 15) „Möchtest Du mir wohl Deine Augen für eine halbe Stunde leihen, Du kommst dafür auch als wertvolles Versuchsobjekt in meine Optik.“
Seine physiologischen und physikalischen Untersuchungen drängten ihn immer mehr dazu, sich mit philosophischen, insbesondere erkenntnistheoretischen Fragen auseinanderzusetzen. In Königsberg, wo damals die Philosophie Kants in Vergessenheit zu verfallen schien, wurde Helmholtz nicht selten wegen seiner positiven Richtung angegriffen. Er verhielt sich aber solchen Angriffen gegenüber nie aggressiv. Insbesondere war es Rosenkranz, der durch die neue Richtung sich in seiner Bedeutung gefährdet fühlte, und sich gegen die von Helmholtz eingeführte naturwissenschaftliche Behandlung philosophischer Probleme auflehnte.
In einem zwanzig Jahre später an Fick gerichteten Briefe spricht sich Helmholtz über die Philosophie, deren unbedingte Kenntnis er für einen jeden tieferen Forscher forderte, folgendermaßen aus: „Ich glaube, daß der Philosophie nur wieder aufzuhelfen ist, wenn sie sich mit Ernst und Eifer der Untersuchungen der Erkenntnisprozesse und der wissenschaftlichen Methoden zuwendet. Da hat sie eine wirkliche und berechtigte Aufgabe. Metaphysische Hypothesen auszubauen ist eitel Spiegelfechterei. Zu jener kritischen Untersuchung gehört aber vor allem genaue Kenntnis der Vorgänge bei den Sinneswahrnehmungen. …“
Bald eröffnete sich dem großen Forscher ein neues und weiteres Feld.
Michaelis 1855 wurde er als Professor der Anatomie und Physiologie nach
Bonn berufen. Helmholtz nahm diese Berufung an, weil ihm in Bonn
größere Mittel zur Ausführung seiner
wissenschaftlichen Untersuchungen in Aussicht gestellt wurden, anderseits
aber die Gesundheit seiner damals schon leidenden Frau ihn zwang, das
rauhe Klima Königsbergs zu verlassen und das mildere der Rheinstadt
vorzuziehen.
S. 9 - 15 aus:
Reiner, Julius: Hermann von Helmholtz. - Leipzig, [1905]
Letzte Änderung: 27.02.2013 Gabriele Dörflinger Kontakt
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