Julius Reiner: Hermann von Helmholtz

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Die Heidelberger Epoche.

(1858-1871)

(Seite 18) Der fortwährende Universitätswechsel wirkte auf den vielseitigen Forscher nur befruchtend und anregend. In einer jeden neuen Universitätsstadt erwuchsen Helmholtz neue Aufgaben, der Kreis seiner Tätigkeit wurde immer größer und vielseitiger.

Helmholtz gehörte nicht zu denjenigen Professoren, die ein einmal ausgearbeitetes Kolleg jahraus jahrein ihren Zuhörern vortragen. Für ihn hieß es, immer wieder zu prüfen und zu untersuchen und die auf diese Weise gewonnenen Resultate zu verallgemeinern. Für seinen tiefblickenden Geist lag selten ein Problem ganz ab- geschlossen da. Er hatte immer wieder daran auszusetzen, zu verbessern und weiter zu führen.

In der neuen Universitätsstadt wurden die bereits in Bonn angefangenen Untersuchungen über akustische Probleme fortgesetzt.

Ein Teil dieser Untersuchungen erschien schon damals in verschiedenen Zeitschriften. Außerdem teilte Helmholtz einige zusammenfassende Resultate aus diesem Gebiete in seinem Vortrage „Über die Klangfarbe der Vokale“ mit, ein Vortrag, der anläßlich der im Jahre 1859 in München stattgefundenen Festfeier der bayerischen Akademie gehalten wurde.

Das ruhige, der wissenschaftlichen Arbeit gewidmete Leben wurde hier durch den im Jahre 1859 erfolgten Tod seines Vaters, der ihm ein treuer Berater in allen Lebenslagen war, unterbrochen. Zu diesem Schlage gesellte sich die immer bedenklicher werdende Krankheit seiner Frau, die am 28. Dezember 1859 nach längerem Leiden starb.

Mehrere Monate hindurch war Helmholtz durch diesen Verlust jeder geistigen Anstrengung unfähig. Öftere Ohnmachtsanfälle stellten sich bei dem großen Forscher ein, die glücklicherweise allmählich seltener wurden.

Die Arbeit und die angeborene Heiterkeit des Gemütes brachten Helmholtz wieder in sein früheres Gleichgewicht zurück. Neben der Tätigkeit als Universitätsprofessor nahmen ihn seine Untersuchungen und Vorträge in wissenschaftlichen Vereinen in Anspruch. Als Frucht seiner Beschäftigung mit den akustischen Problemen mögen (Seite 19) hier besonders hervorgehoben werden die Vorträge: „Über musikalische Temperatur“ und „Über die arabisch-persische Tonleiter“. Im ersten Vortrage beschäftigt er sich mit den Nachteilen der temperierten Stimmung für die verschiedenen Instrumente, im zweiten teils mit rein akustischen, teils auch historischen Fragen, die mit der geschichtlichen Entwickelung der Tonleiter zusammenhängen. All diese Untersuchungen beweisen, ganz abgesehen von dem rein exakt wissenschaftlichen Wert derselben, daß Helmholtz auch in Fragen der Musik ein Urteil zu fällen verstand, das sogar von Fachleuten gewürdigt wurde. Für klassische Musik war er immer begeistert, und als Richard Wagner mit seinen Werken auftrat, so gewann er auch sofort seine Anerkennung. Für die Nibelungen-Trilogie hatte er die größte Bewunderung, und er betrachtete sie als das höchste, was das musikalische Genie je geschaffen hatte. Weniger bewunderte er Tristan und Isolde, welche ihm etwas gar zu stark mit Schopenhauerscher Philosophie versetzt schienen. Innige Freundschaft verband ihn dann mit Bayreuth, wo er mit seiner zweiten Frau die ersten Festspiele 1876 besuchte.

Über seine bevorstehende zweite Ehe schreibt Helmholtz an seinen Freund William Thomson (berühmter englischer Physiker) am 13. Februar 1861: „Schließlich ist es schneller gekommen, als ich selbst vermutet hatte, denn wenn die Liebe erst einmal Erlaubnis erhalten hat, aufzukeimen, fragt sie nachher die Vernunft nicht mehr, wie schnell sie wachsen darf. Meine Braut ist ein reich begabtes, gegen mich verhältnismäßig junges Mädchen, und wird, denke ich, zu den Heidelberger Schönheiten gerechnet. Sie hat sehr schnellen Verstand und Witz, ist sehr gewandt in der Gesellschaft, da sie einen großen Teil ihrer Erziehung in Paris und London unter Leitung einer englischen Dame, der Gemahlin ihres Onkels Mohl, der Professor der persischen Sprache am Collège de France in Paris ist, erhalten hat… Übrigens hat ihre fashionable Erziehung ihrem, ruhigen, guten und reinen Wesen keinen Eintrag getan“. Am 16. Mai 1861 fand im engsten Kreise die Hochzeit von Helmholtz mit Fräulein Anna von Mohl statt.

In Heidelberg war Helmholtz der Anziehungspunkt der Physiologie studierenden Jugend. Seine Vorlesungen zeichneten sich durch eine besonders klare und interessante Darstellung aus, die Studierenden (Seite 20) folgten seinen Ausführungen mit umso größerer Spannung, je mehr er ihnen die Schwierigkeiten der Probleme nicht nur zeigte, sondern auch zu lösen versuchte. Er setzte bei seinen Zuhörern keine großen Vorkenntnisse voraus, sondern begann mit den Grundbegriffen, aus denen er dann allmählich zu den tiefsten Lebensrätseln sie überzuleiten suchte. Die eigenen Bedenken und Unvollkommenheiten pflegte er seinen Schülern durchaus nicht zu verschweigen, er leitete sie absichtlich dorthin, um sie zum selbständigen Denken und Forschen anzuregen. Auch in den Laboratorien nahm er regen Anteil an dem Fortgange der Untersuchungen seiner Schüler, die er freundschaftlich behandelte, und denen er Probleme zur Lösung unter Andeutung der grundlegenden Gedanken aufzugeben pflegte. So gelang es ihm, einen Stab von jungen Mitarbeitern sich zu erziehen, die später durch ihre eigenen bedeutenden Leistungen den Ruhm ihres Lehrers und Meisters in alle Weltteile trugen.

Einer seiner Schüler, Bernstein, schildert uns Helmholtz in seiner Eigenschaft als Experimentator: „Wer das Glück gehabt hat, Helmholtz experimentieren zu sehen, wird den Eindruck nicht vergessen, welchen das zielbewußte Handeln eines überlegenen Geistes bei der Überwindung mannigfacher Schwierigkeiten hervorruft. Mit den einfachsten Hilfsmitteln, aus Kork, Glasstäben, Holzbrettern, Pappschachteln und dergl. entstanden Modelle sinnreicher Vorrichtungen, bevor sie den Händen des Mechanikers anvertraut wurden. Kein Mißgeschick war imstande, die bewunderungswerte Ruhe und Gelassenheit, welche dem Temperament von Helmholtz eigen war, zu erschüttern; auch das Ungeschick eines anderen konnte sie nie aus ihrem Gleichgewicht bringen. Diejenigen, welche jahrelang unter seiner Leitung tätig waren, haben ihn bei solchen Anlässen niemals in Erregung gesehen.“

Als Prorektor der Heidelberger Universität hielt Helmholtz am 22. November 1862 seine gedankenvolle Rede „Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaft.“ Er weist in dieser Rede auf die Notwendigkeit der Spezialisierung der Forschung hin, anderseits aber hält er die Vereinigung der Wissenschaften für geboten. Jede einzelne Wissenschaft nimmt eine gewisse Geistesfähigkeit besonders in Anspruch, man darf daher nicht außer acht lassen, daß jede einseitige Ausbildung eine Gefahr (Seite 21) ist. Die Einseitigkeit beschränkt den Blick für den Zusammenhang des Ganzen, sie treibt auch zur Selbstüberschätzung, und diese ist der größte und schlimmste Feind aller wissenschaftlichen Tätigkeit. Mit feiner psychologischer Kenntnis führt Helmholtz aus: „Wenn wir die Art der geistigen Tätigkeiten in den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft vergleichen, so zeigen sich gewisse durchgehende Unterschiede nach den Wissenschaften selbst, wenn auch daneben nicht zu verkennen ist, daß jedes einzelne ausgezeichnete Talent seine besondere individuelle Geistesrichtung hat, wodurch es gerade für seine besondere Art von Tätigkeit vorzugsweise befähigt ist.“ Es folgt daraus, daß jeder seine Veranlagung in den Dienst einer für dieselbe in Betracht kommenden Wissenschaft stellen, aber dabei nicht vergessen soll, daß es auch andere Zweige des Wissens gibt, deren Wert nicht unterschätzt werden darf. Letzten Endes kommt es aber nicht darauf an, Kenntnisse anzuhäufen, sondern sie in einen inneren Zusammenhang mit der Gesamtheit des Wissens zu bringen.

Im Verlaufe seines Vortrages geht Helmholtz auf die verschiedenen Wissenszweige ein, schildert kurz und scharf ihre Methoden und kommt dann auf den ideellen Wert der Wissenschaft zu sprechen.

Eine Stelle möge hier Platz finden, weil sie auch die Gesinnung des Vortragenden treffend schildert.

Wer bei der Verfolgung der Wissenschaften, sagte Helmholtz, nach unmittelbarem praktischen Nutzen jagt, kann ziemlich sicher sein, daß er vergebens jagen wird. „Vollständige Kenntnis und vollständiges Verständnis des Waltens der Natur- und Geisteskräfte ist es allein, was die Wissenschaft erstreben kann. Der einzelne Forscher muß sich belohnt sehen durch die Freude an neuen Entdeckungen, … durch das Bewußtsein, auch seinerseits zu dem wachsenden Kapital des Wissens beigetragen zu haben. …

So haben in dieser Beziehung die Wissenschaften einen gemeinsamen Zweck, den Geist herrschend zu machen über die Welt. Während die Geisteswissenschaften direkt daran arbeiten, den Inhalt des geistigen Lebens reicher und interessanter zu machen, das Reine vom Unreinen zu sondern, so streben die Naturwissenschaften indirekt nach demselben Ziele, indem sie den Menschen von den auf ihn eindrängenden Notwendigkeiten der Außenwelt mehr und mehr zu befreien suchen. Jeder einzelne Forscher arbeitet in seinem (Seite 22) Teile, … jeder einzelne muß aber wissen, daß er nur im Zusammenhange mit den anderen das große Werk weiter zu fördern imstande ist, …

So also betrachte sich jeder Einzelne als einen Arbeiter an einem gemeinsamen großen Werke, welches die edelsten Interessen der ganzen Menschheit berührt, nicht als einen, der zur Befriedigung seiner eigenen Wißbegier oder seines eigenen Vorteiles oder, um mit seinen eigenen Fähigkeiten zu glänzen, sich bemüht, dann wird ihm auch das eigene lohnende Bewußtsein und die Anerkennung seiner Mitbürger nicht fehlen.“

Noch vor dem Ende des Jahres 1862 konnte er seinem Freunde Thomson mitteilen, daß sein Buch über Akustik unter dem Titel „Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“ erschienen sei. Hier begnügen wir uns vorläufig mit der bloßen Registrierung des Titels dieses bedeutenden Werkes, im anderen Teile unserer Darstellung wollen wir ein wenig näher darauf eingehen. Das Werk, welches für einen weiteren Kreis gebildeter Leser bestimmt war, erfreute sich auch der Anerkennung der Fachleute.

Vorlesungen, Experimente und populäre Vorträge nehmen den Forscher fortwährend in Anspruch. Zuweilen hat Helmholtz zur Steigerung seiner Einnahmen auch öffentliche Vorträge gehalten, wie dies z. B. aus einem am 27. Februar 1864 an Prof. Ludwig in Wien gerichteten Briefe hervorgeht. Die betreffende Stelle lautet: „Ich habe in diesem Winter dem Publikum und dem Mammon dienen müssen und die Erhaltung der Kraft als nährende Milchkuh behandelt. Ich habe in Karlsruhe acht Vorlesungen darüber gehalten und mich fertig gemacht, während der Osterferien in London das Gleiche englisch zu tun. Eine Reise nach England betrachte ich immer als eine Art geistiger Badekur, durch welche man aus der trägen Bequemlichkeit des lieben Deutschland einmal wieder zu etwas aktiverem Verhalten aufgerüttelt wird, und solche Vorlesungen, wie ich sie schon einmal gehalten habe, geben ein gutes Verbindungsmittel ab zu einer engeren tätigen Berührung mit den englischen Naturforschern.“ Und so sehen wir in den Osterferien Helmholtz nach England reisen, wo er bereits durch seine wissenschaftlichen Leistungen gut eingeführt war. Faraday, Tyndall, (Seite 23) Huxley, Thomson, Joule, Stokes u. v. a. lernte er dort kennen, mit vielen von ihnen verband ihn schon von früher persönliche oder briefliche Bekanntschaft. Auch mit den Berühmtheiten auf anderen Gebieten, so z. B. mit Max Müller, Gladstone, wurde er bei dieser Gelegenheit bekannt.

Am 14. April 1864 hielt er in der Royal Society seine Vorlesung „On the Normal Motions of the Human Eye in relation to Binocular Vision“. Außerdem hielt er vor einem gemischten Publikum in London sechs populäre Vorlesungen über die Erhaltung der Kraft.

Nach Heidelberg zurückgekehrt, nahm Helmholtz seine Universitätsvorlesungen wieder auf, seine physiologischen Untersuchungen wurden weiter fortgesetzt, manche Bedenken, die gegen seine Arbeiten von Fachautoritäten erhoben wurden, galt es zu beseitigen oder zu berichtigen, neue Untersuchungen, teilweise auf ganz entlegenen Gebieten, wie z. B. „Über Eigenschaften des Eises“, wurden nebenbei angestellt, mit einem Worte, er führte ein der wissenschaftlichen Arbeit geweihtes Leben.

Sein Haus in Heidelberg wurde zum Mittelpunkte einer auserwählten Geistesaristokratie.Kirchhoff, Bunsen, Zeller gehörten zu den Freunden des Hauses, es fehlte auch nicht an geselligen Veranstaltungen, die die nicht geistige Aristokratie in sein Haus führten.

Zur Erholung pflegte Helmholtz seit jener Zeit fast alljährlich nach dem Engadin zu reisen. Pontresina war sein Lieblingsaufenthalt, von wo aus er weite und oft nicht leichte Gebirgstouren zu unternehmen pflegte. Er liebte es, auf Berge und Gletscher zu steigen, um von dort aus die schönen Aussichten zu genießen. Er war ein kräftiger und sicherer Steiger, dem es sogar auf sechs Stunden Steigung nicht ankam.

Die fortwährend angestellten Untersuchungen brachten es mit sich, daß Helmholtz seine Schriften bei Neuauflagen ergänzen und ändern mußte, eine Arbeit, die ihm viel Zeit raubte. Er beneidet die Theologen und Juristen, die Auflage über Auflage erleben können, ohne an ihren Werken viel ändern zu müssen, während für den exakten Naturwissenschaftler fast mit jedem Tage neue Änderungen und Ergänzungen sich ergeben.

(Seite 24) Im Jahre 1866 erschien der letzte Teil seines Handbuches der physiologischen Optik, ein Werk, von dem du Bois-Reymond sagt: „Jenes umfangreiche, einheitliche, doch auf das feinste gegliederte Werk, in dem er diesen Zweig der Physiologie systematisch und literargeschichtlich in größter Vollständigkeit darstellt, von den mathematischen Anfangsgründen der theoretischen Optik bis zu den letzten erkenntnistheoretischen und ästhetischen Gesichtspunkten; keine wissenschaftliche Literatur irgend einer Nation besitzt ein Buch, welches diesem an die Seite gestellt werden kann, nur ein zweites Werk von Helmholtz kann daneben genannt werden, die Lehre von den Tonempfindungen.“

Im zweiten Teile dieses Buches werden wir Gelegenheit haben, auf dieses grundlegende Werk, in welchem verschiedene Probleme nicht nur der exakten Physiologie und Psychologie, sondern auch der Erkenntnistheorie behandelt werden, näher einzugehen. Großes Interesse für erkenntnistheoretische Fragen hatte Helmholtz schon seit seiner Jugend bewiesen, sein Vater trieb viel Philosophie, und zu Hause waren Gespräche über Fichte, Hegel, Kant keine Seltenheit. Auch im Briefwechsel mit seinem Vater begegnen wir dem großen Interesse für philosophische Probleme, obwohl der Sohn seinem Vater gegenüber fortwährend den experimentellen Standpunkt hervorkehrt, während der Vater keine Gelegenheit vorübergehen läßt, um den Sohn für die idealistische Richtung zu gewinnen.

Im August 1867 besuchte Helmholtz die Weltausstellung in Paris und hielt auf dem dortigen ophthalmologischen Kongreß einen Vortrag: „Sur la production de la Sensation du relief dans l'acte de la vision binoculaire“, in dem er einen Teil der in seiner physiologischen Optik enthaltenen Untersuchungen skizzierte.

Die Mathematik bildet einen wesentlichen Bestandteil in den Untersuchungen von Helmholtz. Ganz abgesehen aber davon, daß er sich dieser Disziplin bedienen mußte, um die Resultate seiner Untersuchungen zu beweisen, hatte er auch vom rein abstrakten Standpunkte aus die Analyse der mathematischen Grundbegriffe in Angriff genommen. Diese Untersuchungen sind gleichsam eine Philosophie der Mathematik, sie hängen auch mit den erkenntnistheoretischen und metaphysischen Grundlagen der Philosophie zusammen. Die von Kant aufgeworfene Frage nach dem Ursprunge (Seite 25) der Anschauungen von Raum und Zeit hat Helmholtz veranlaßt, sich mit diesen Problemen in der Physiologie auseinanderzusetzen. Eine eingehende Beschäftigung mit diesen Problemen, die in diese Zeit fällt, hat Helmholtz bewegen, seine abweichende Stellungnahme in seiner Schrift: „Über die tatsächlichen Grundlagen der Geometrie“ klarzulegen. Dasselbe Problem behandelt sein im Jahre 1870 im Dozentenverein in Heidelberg gehaltener Vortrag: „Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome“, in dem er auch den nicht fachmännisch geschulten Mathematikern das Problem auseinanderzusetzen sich bemühte.

Kant hat bekanntlich Raum und Zeit alsa priori gegebene Formen der Anschauung hingestellt, d. h. diese Anschauungen werden nicht durch oder aus der Erfahrung gewonnen, sondern sie gehen einer jeden Erfahrung voraus, sie sind von der Erfahrung ganz unabhängig, ja, sie sind es, die Erfahrung erst möglich machen. Daraus folgt, daß die Axiome der Geometrie ebenfalls a priori sind.

Dem gegenüber behauptet Helmholtz, daß die Axiome Erfahrungssätze sind, die durch Beobachtung geprüft und, wenn sie unrichtig wären, eventuell auch widerlegt werden könnten. Auf Grund dieser prinzipiellen Abweichung entwickelt dann Helmholtz seine Ansichten über den Ursprung der geometrischen Axiome, die ihn auch als eminenten Mathematiker erkennen lassen, wenn es sich auch nicht leugnen läßt, daß seine diesbezüglichen Ausführungen bereits in der Habilitationsschrift von Riemann „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen“ (10. Juli 1856) enthalten sind, und daß Helmholtz diese Arbeit gekannt hat.

Nebenbei wollen wir bemerken, daß die hier von Riemann behandelte Frage teilweise bereits viel früher in England Gegenstand der Diskussion war. Der Streit der englischen Philosophen über die Apriorität der Mathematik begann damit, daß Whewell in seinem „Mechanical Euclid“ die von Dugald Stewart vertretene Ansicht angriff, daß die Fundamentallehren der Geometrie auf Hypothesen gebaut seien. Ein von Herschel geschriebener Artikel in der „Edinburgh Review“ verteidigte die Ansicht Stewarts. Whewell antwortete darauf in seiner „Philosophie of the inductive sciences“ (1840). Auch Mill beteiligte sich in seiner „Logik“ (1843) an dieser Debatte.

(Seite 26) Auf der Naturforscherversammlung in Innsbruck 1869 hielt Helmholtz seine berühmte Rede: „Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft.“

Diese Rede hat damals viel Aufsehen gemacht Helmholtz berührt mehrere aktuelle Probleme und kommt in dieser Rede noch einmal auf das bereits früher berührte Thema der Arbeitsteilung und die Notwendigkeit des Zusammenhanges der verschiedenen Disziplinen zu sprechen. Er geht dann zu der Frage über, mit welchem Maßstabe der Fortschritt der Naturwissenschaften gemessen werden soll. Er sieht diesen nicht in der Häufung der gefundenen einzelnen Tatsachen, sondern in der Aufdeckung der Gesetze, denen diese Tatsachen unterliegen. Denn das Gesetz der Erscheinungen finden, heißt sie begreifen. „Unsere Forderung, die Naturerscheinungen zu begreifen, das heißt ihre Gesetze zu finden, nimmt so eine andere Form des Ausdruckes an, die nämlich, daß wir die Kräfte aufzusuchen haben, welche die Ursachen der Erscheinungen sind. Die Gesetzlichkeit der Natur wird als kausaler Zusammenhang aufgefaßt, sobald wir die Unabhängigkeit derselben von unserem Denken und unserem Willen, anerkennen.“

„Wenn wir also nach dem Fortschritt der Naturwissenschaft als Ganzem fragen, so werden wir ihn nach dem Maße zu beurteilen haben, in welchem die Anerkennung und die Kenntnis eines alle Naturerscheinungen umfassenden ursächlichen Zusammenhanges fortgeschritten ist.“ Die monistische Tendenz dieser Weltanschauung ist unverkennbar. An der Hand der Entwickelung der Naturwissenschaften weist dann Helmholtz nach, wie immer mehr die Richtung sich Bahn bricht, ein einziges Erklärungsprinzip für die Gesamtheit aller Vorgänge aufzufinden. Die Mannigfaltigkeit der Tatsachen muß unter ein umfassendes Gesetz gebracht werden.

Eine wichtige Etappe auf diesem fortschrittlichen Wege war die Entdeckung des Gravitationsgesetzes. Auf dem Gebiete der Chemie ist die Erkenntnis der Unveränderlichkeit der Stoffe als ein solches Fundamentalgesetz anzusehen. Allmählich bahnte sich auch die Auffassung von der Erhaltung der Kraft ihren Weg, und dieses Prinzip gehört zu den universellsten Gesetzen, denen die ganze Natur ausnahmslos gehorcht. „Um das Gesetz klar hinzustellen, mußte im Gegensätze zu dem früher von Galilei (Seite 27) gefundenen Begriffe der Intensität der Kraft ein neuer mechanischer Begriff ausgearbeitet werden, den wir als den Begriff der Quantität der Kraft bezeichnen können, und der auch sonst Quantität der Arbeit oder der Energie genannt worden ist.“

„Dieser Begriff der Quantität der Kraft war vorbereitet worden, teils in der theoretischen Mechanik durch den Begriff des Quantums lebendiger Kraft einer bewegten Masse, teils in der praktischen Mechanik durch den Begriff der Triebkraft, die nötig ist, um eine Maschine in Gang zu halten. Auch hatten die Maschinentechniker schon das Maß gefunden, nach welchem eine jede Triebkraft zu messen ist, indem sie bestimmten, wieviel Pfunde dadurch in der Sekunde um einen Fuß gehoben werden können; so wird bekanntlich eine Pferdekraft gleich der zur Hebung von 70 Kilogramm um ein Meter für jede Sekunde nötigen Triebkraft definiert.“ Helmholtz gibt auf diese Weise den Weg an, auf dem man zur Erkenntnis des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft gelangt ist. Ein für die retrospektive Betrachtung langer Weg, der von einer intuitiv geleiteten Erkenntnis schnell durchlaufen werden konnte. Aber die bloße abstrakte Erkenntnis hatte für die Naturwissenschaft keine Giltigkeit, solange sie nicht durch Experimente bewiesen wurde. Durch das Experiment gewann erst dieses Gesetz seine volle Bedeutung. Es wurde nach allen Seiten hin- und hergewälzt, und es ergaben sich auf diese Weise immer fruchtbarere Ausblicke. Und so kam man zur Überzeugung, daß jeder Veränderung in der Natur ein ganz bestimmtes Äquivalent von Triebkraft zugrunde liegt. Wird Triebkraft erzeugt, so kann sie entweder als solche zur Erscheinung kommen, oder unmittelbar wieder verbraucht werden, um andere Veränderungen von äquivalenter Größe hervorzubringen.

Joule hat diese Äquivalenz für die mechanische Wärme berechnet. Helmholtz führte nun die von Joule gefundenen Gesetze aus und sagte im Verlaufe seines Vertrages zur Illustrierung dieser Gesetze folgendes:

„Wenn wir eine Dampfmaschine durch zugeleitete Wärme in Bewegung setzen, so verschwindet in ihr Wärme proportional der geleisteten Arbeit; und zwar ist die Wärme, welche ein bestimmtes Gewicht Wasser um einen Grad der hundertteiligen Skala erwärmen kann, fähig, in Arbeit verwandelt, dasselbe Gewicht Wasser zur (Seite 28) Höhe von 425 Meter zu heben. Und wenn wir Arbeit durch Reibung in Wärme verwandeln, brauchen wir wiederum, um ein bestimmtes Gewicht Wasser um einen Centesimalgrad zu erwärmen, die Triebkraft, welche dasselbe Gewicht Wasser gegeben haben würde, wenn es von 425 Meter Höhe herabgeflossen wäre. Die chemischen Prozesse erzeugen Wärme in bestimmtem Verhältnis; dadurch ist auch die solchen chemischen Kräften äquivalente Triebkraft bestimmt, und somit auch die Energie der chemischen Verwandtschaftskraft nach mechanischem Maße meßbar. Dasselbe gilt für alle anderen Formen der Naturkräfte …“

Damals mußte man sogar in einer Naturforscherversammlung mit großer Umständlichkeit das Prinzip der Erhaltung der Kraft auseinandersetzen. Heute verschwendet der Mittelschullehrer nicht so viele Worte, um seinen Schülern dieses Gesetz klar zu machen.

Das ganze Weltall unterliegt dem Gesetze der Erhaltung der Kraft. Alle Veränderungen in der Welt bestehen nur in einem Wechsel der Erscheinungsform dieses Vorrates von Kraft (heute sagt man Energie). „Hier erscheint — führte Helmholtz auf der Naturforscherversammlung in Innsbruck weiter aus — ein Teil desselben (Vorrates an Energie) als lebendige Kraft bewegter Massen, dort als regelmäßige Oszillation in Licht und Schall, dann wieder als Wärme, das heißt als unregelmäße Bewegung der unsichtbar kleinen Körperteilchen; bald erscheint die Energie in Form der Schwere zweier gegeneinander gravitierenden Massen, bald als innere Spannung und Druck elastischer Körper, bald als chemische Anziehung, elektrische Ladung oder magnetische Verteilung. Schwindet sie in einer Form, so erscheint sie sicher in einer anderen; und wo sie in neuer Form erscheint, sind wir auch sicher, daß eine ihrer anderen Erscheinungsformen verbraucht ist.“

Das Gesetz der Erhaltung der Kraft hat durch seine universelle Anwendbarkeit auf alle irdischen und kosmischen Vorgänge eine eminente Bedeutung gewonnen. Die verwickeltsten Funktionen der Pflanzen, Tiere uud Menschen unterliegen ausnahmslos diesem Gesetze, das zwar nicht überall so klar zu erkennen ist, das aber trotzdem von seiner Bedeutung durch die Schwierigkeit des Nachweises der Wirksamkeit desselben nichts einbüßen kann.

Helmholtz wies dann darauf hin, wie er von der Physiologie (Seite 29) her zur Annahme dieses Gesetzes auch für die Lebenserscheinungen des Menschen sich gedrängt sah. Durch die Einführung dieses grundlegenden Gesetzes nahmen die exakten Wissenschaften und nicht zuletzt auch die Medizin einen früher nicht geahnten Aufschwung. Die Einführung der mechanischen Begriffe in die Lehre von der Zirkulation und Respiration, das richtigere Verständnis der Wärmeerscheinungen und die feiner ausgebildete Physiologie der Nerven ergaben praktische Resultate von weitgehendster Bedeutung.

Zum Schluß wies Helmholtz noch auf den Anteil hin, den Deutschland an dem Aufschwunge der Naturwissenschaften hat und schloß mit der Betonung der Internationalität der geistigen Errungenschaften.

Diese Rede hat nicht nur in dem Kreise, in dem sie gehalten wurde, sondern in der ganzen Gelehrtenwelt großen Eindruck gemacht, nicht nur wegen der darin enthaltenen Ideen, sondern auch durch die Bedeutung des Vortragenden, der bereits schon damals zu den Führern der exakten naturwissenschaftlichen Forschung gezählt wurde.

Elektrodynamische Untersuchungen nehmen den Forscher in der Folgezeit in Anspruch, ein Gebiet, auf dem er mit seiner ersten Arbeit „Über die Theorie der Elektrodynamik“ zunächst nur eine Sichtung und Klärung der bisher gewonnenen Anschauungen und angewandten Methoden zu geben versucht.

Helmholtz hat über diesen Zweig der Wissenschaft eine größere Anzahl von Untersuchungen angestellt, die er in 17 Abhandlungen von verschiedenem Umfange niedergelegt hat.

Die Theorie der elektrodynamischen Wirkungen hat außer ihrem unmittelbaren Interesse für das Verständnis dieses Zweiges der Physik ein noch bedeutenderes und allgemeineres für die Grundprinzipien der Mechanik überhaupt. Die übrigen bekannten Wirkungen in die Ferne lassen sich auf anziehende und abstoßende Kräfte von Massenpunkten zurückführen, wobei die Intensität dieser Kräfte nur von den gegenseitigen Entfernungen der betreffenden Punkte, nicht von ihrer Bewegung abhängt. Die elektrodynamischen Vorgänge bilden in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Sie bilden eine Klasse von Fernwirkungen, die nur durch einen Bewegungszustand des wirkenden Agens, der Elektrizität, hervorgebracht werden, ein Bewegungszustand, der sich als solcher durch eine ganze Reihe von Erscheinungen, (Seite 30) durch Wärmeentwickelung in den Stromleitern, durch chemische Zersetzung in den flüssigen Leitern u.s.w. zu erkennen gibt.

Helmholtz versucht bei seinen Untersuchungen die von F. E. Neumann, W. Weber und Maxwell auf diesem Gebiete gefundenen Gesetze und Hypothesen unter einen einheitlichen Gesichtspunkt, den der Erhaltung der Energie, zu bringen, um auf diese Weise — getreu seinem Prinzipe der Unterordnung sämtlicher Naturerscheinungen unter ein allgemeines Gesetz — auch die elektrodynamischen Vorgänge als einen Spezialfall des allgemeinen Gesetzes der Erhaltung der Energie hinzustellen.

Wenn auch das Wesen der Elektrizität noch immer zu den ungelösten Problemen gehört, so hat man aber in praktischer Hinsicht sehr wertvolle Erfolge durch die Einordnung der elektrischen Erscheinungen unter die allgemeinen physikalischen Gesetze erzielt.

Es ist hier nicht der Ort, auf diesen Zweig der Naturwissenschaften einzugehen, es möge nur erwähnt werden, daß Helmholtz' diesbezügliche Untersuchungen nicht rückhaltlos von der Wissenschaft anerkannt wurden, ja, daß sogar eine heftige Polemik daran sich anschloß.

Inzwischen aber nahm Helmholtz' Ansehen in der wissenschaftlichen Welt trotzdem zu, wie das auch aus folgendem zu ersehen ist.

Durch den Tod von Magnus wurde in Berlin die ordentliche Professur für Physik erledigt, und die preußische Regierung bemühte sich, den Heidelberger Physiologieprofessor, der auch auf dem Gebiete der Physik schon damals manche wertvolle Untersuchung geliefert hatte, für sich zu gewinnen.

Die philosophische Fakultät der Berliner Universität schlug Kirchhoff und Helmholtz vor mit einer Motivierung, aus der hier eine charakteristische Stelle angeführt werden soll: „Wenn Helmholtz der genialere und umfassendere Forscher ist, so ist Kirchhoff der geschultere Physiker und der bewährtere Lehrer; während Helmholtz immer produktiv, mit immer neuen Problemen innerlich beschäftigt ist, hat Kirchhoff mehr Lust und Liebe zum Lehren, seine Vorträge sind durch musterhafte Klarheit und Abrundung ausgezeichnet; er ist auch, um Arbeiten von Anfängern zu leiten, nach allem, was wir hören, geeigneter als Helmholtz …“

Du Bois-Reymond, der damalige Rektor der Berliner (Seite 31) Universität, leitete die Verhandlungen, deren Resultat die Berufung seines Freundes Helmholtz war. 4000 Taler Gehalt, freie Dienstwohnung und weitgehendste Förderung seiner wissenschaftlichen Bestrebungen wurde von Helmholtz verlangt und ihm auch gewährt.

Eine inzwischen durch Sir William Thomson unter glänzenden Bedingungen angebotene Professur der experimentellen Physik in Cambridge lehnte Helmholtz ab.

Du Bois-Reymond äußerte sich über die Berufung seines Freundes nach Berlin: „So geschah das Unerhörte, daß ein Mediziner und Professor der Physiologie den vornehmsten physikalischen Lehrstuhl in Deutschland erhielt, und so gelangte Helmholtz, der sich selber einen geborenen Physiker nannte, endlich in eine, seinem spezifischen Talente und seinen Neigungen zusagende Stellung, da er damals, wie er mir schrieb, gegen die Physiologie gleichgültig geworden war und eigentliches Interesse nur noch für die mathematische Physik hatte.“

Zum Abschied hielt Helmholtz in Heidelberg einen öffentlichen populären Vortrag „Über die Entstehung des Planetensystems,“ in dem er die Kant-Laplacesche Hypothese auseinandersetzte und sie im Zusammenhange mit den neuesten Ergebnissen der exakten Naturwissenschaft verglich. Er wies dabei auch auf die Untersuchungen seines Freundes William Thomson hin, wonach die Dichtigkeit des Lichtäthers möglicherweise viel kleiner als die Luft im Vakuum einer guten Luftpumpe sein mag, daß aber trotzdem die Masse des Äthers nicht absolut gleich Null ist, sondern daß ein Volumen gleich dem der Erde nicht unter 2775 Pfund Lichtäther enthalten kann.


S. 18 - 31 aus:
Reiner, Julius: Hermann von Helmholtz. - Leipzig, [1905]

Letzte Änderung: 03.03.2013 Gabriele Dörflinger   Kontakt

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