Julius Reiner: Hermann von Helmholtz

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Helmholtz als Professor der Physik in Berlin.

(1871-1888)

Ostern 1871 trat Helmholtz sein neues Lehramt als Professor der Physik in Berlin an. Auch in die Akademie der Wissenschaften trat er als Nachfolger von Magnus ein und hielt in der Leibnizsitzung (6. Juli 1871) die Rede „Zum Gedächtnis an Gustav Magnus“, in der er die Leistungen seines Vorgängers, ihre klassische Vollendung und Zuverlässigkeit rühmte.

(Seite 32) Als Professor der Physik wandte sich Helmholtz mit frischem Eifer diesem Wissenszweige zu und beschäftigte sich damals hauptsächlich mit der Elektrizitätslehre unter besonderer Berücksichtigung der Elektrodynamik. Dabei wurden die populären und öffentlichen Vorträge nicht unterbrochen. So hielt er beispielsweise in den Jahren 1871-1873 in Berlin, Düsseldorf und Cöln Vorträge über „Optisches in der Malerei“, in denen er die physiologischen Gesetze der Sinnesempfindungen und Wahrnehmungen, sofern sie mit der Malerei zusammenhängen, behandelte. Der Maler sucht im Gemälde ein Bild äußerer Gegenstände zu geben; inwiefern ihm das möglich ist, hängt nicht bloß von seiner rein künstlerischen Technik ab, sondern auch von der Kenntnis der allgemeinen Gesetze der physiologischen Optik. Es liegt ein großer Unterschied zwischen dem Gesichtsbilde, das uns unsere Augen zuführen, wenn wir vor den Objekten stehen, und demjenigen, das uns das Gemälde gibt.

Es ist ja klar, daß ein Bild die Wirklichkeit zwar wiedergeben, aber nicht ersetzen kann. Diese Wiedergabe der Außenwelt ist nicht so leicht zu erreichen, weil unsere künstlichen Hilfsmittel sehr beschränkt sind, oder anders ausgedrückt, sie sind von der physiologischen Beschaffenheit unserer Sinnesorgane abhängig.

Eine in die Augen springende Tatsache ist die, daß es unmöglich ist, die Lichtverhältnisse der Wirklichkeit auf ein Gemälde zu übertragen. Die Lichtstrahlen, die von den Gegenständen der Natur ausgehen, sind ganz anders beschaffen, als die von den Bildern, die diese Natur kopieren, erzeugten. Ein Sonnenstrahl, der eine Landschaft beleuchtet, läßt sich nicht auf das Bild, das uns diese Landschaft darstellt, übertragen. Der Künstler ist hier vor Schranken gestellt, die er nie wird überschreiten können.

Abgesehen von der physischen Unmöglichkeit der Übertragung der Außenwelt auf die Leinwand, ist hier noch zu berücksichtigen, daß die Lichtverhältnisse der Natur ganz anders verteilt sind als die der Bilder. Der Künstler muß mit der Tatsache rechnen, daß seine Bilder in einer völlig anderen Beleuchtung und Umgebung gesehen werden, als die Wirklichkeit, die diesem Bilde zum Objekte der Darstellung gedient hat.

Was tut nun der Künstler, um die Lichtverhältnisse der Wirklichkeit auf seinem Bilde möglichst treu zu kopieren? Er befolgt (Seite 33) mit mehr oder weniger Geschick und Verständnis die Grundgesetze der physiologischen Optik. Was der Künstler zu geben hat, ist nicht eine reine Abschrift des Objektes, „sondern eine Übersetzung seines Eindruckes in eine andere Empfindungsskala, die einem anderen Grade von Erregbarkeit des beschauenden Auges angehört, bei welchem das Organ in seinen Antworten auf die Eindrücke der Außenwelt eine ganz andere Sprache spricht.“

Wollte der Künstler die Lichtverhältnisse der Außenwelt genau auf sein Bild übertragen — diese Übertragbarkeit vorausgesetzt — so würde er ein Bild schaffen, das bei aller treuen Wiedergabe der Außenwelt, in uns diese Empfindung unmöglich wachrufen könnte, weil das Bild die Verhältnisse, unter denen es angeschaut wird, nicht in Betracht gezogen hat.

Was nun der Künstler zu tun hat, um die Lichtverhältnisse der Außenwelt auf seinem Bilde möglichst treu festzuhalten, ist, daß er sich der physiologischen Gesetze der Optik genau bewußt wird. Er hat in erster Reihe dafür zu sorgen, daß beim Anblicke seines Bildes diejenigen Lichtempfindungen in unserem Auge ausgelöst werden, die der Anblick der dargestellten Wirklichkeit bei ihm selbst ausgelöst hat.

Mit anderen Worten, er muß die Empfindungsskala des menschlichen Auges genau kennen.

Von Fechner stammt die Formulierung dieser Empfindungsskala des Auges, wonach innerhalb sehr breiter Grenzen der Helligkeit Unterschiede der Lichtstärke gleich deutlich sind, oder in der Empfindung gleich groß erscheinen, wenn sie den gleichen Bruchteil der gesamten verglichenen Lichtstärken ausmachen. Helmholtz modifiziert auf Grund seiner physiologischen Untersuchungen ein wenig das Fechnersche Gesetz, das er nur für mittlere Grade der Helligkeit gelten läßt, nicht aber für die extremen Grade der Lichtstärken, weil sich bei letzteren das Auge nicht mehr so empfindlich für die Lichtunterschiede zeigt. Bei sehr starkem Licht wird das Auge geblendet, d. h. die Empfindung des Auges entspricht nicht mehr dem äußeren Reiz. Es sehen in solchen Fällen sehr helle Gegenstände immer fast gleich hell aus, selbst wenn in der Wirklichkeit große Unterschiede in der Lichtstärke vorhanden sind.

Ähnlich wie mit der Lichtstärke verhält es sich auch mit den (Seite 34) verschiedenen Farben, denn die Skala der Empfindungsstärken ist für verschiedene Farben verschieden. Es wurde durch Messungen festgestellt, daß die Empfänglichkeit unseres Auges für schwache Schatten im Blau am größten ist, im Rot am kleinsten. Im Blau wird ein Unterschied von 1/205 bis 1/268 der Lichtstärke erkannt, im Rot vom unermüdeten Auge 1/16 bei Abstumpfung der Farbe durch längeres Betrachten 1/50 bis 1/70.

Noch andere Gesetze der physiologischen Optik kommen für den Maler in Betracht; große Künstler befolgen sie auch ohne genaue Kenntnis des Prinzipes, sie haben gleichsam aus der Erfahrung gewisse feststehende Tatsachen abgeleitet, deren präzise Formulierung erst viel später gelungen ist. Es würde zu weit führen, auf die Einzelheiten hinzuweisen, die Kunst und exakte Naturwissenschaft miteinander verbinden. Für uns ist es von Interesse, das Fazit zu erfahren, das Helmholtz aus seinen physiologischen Untersuchungen für die Kunst gezogen hat. Er sagte in seinem Vortrage:

„Der Künstler kann die Natur nicht abschreiben, er muß sie übersetzen; dennoch kann diese Übersetzung uns einen im höchsten Grade anschaulichen und eindringlichen Eindruck nicht bloß der dargestellten Gegenstände, sondern selbst der im höchsten Grade veränderten Lichtstärken geben, unter denen wir sie sehen. Ja, die veränderte Skala der Lichtstärken erweist sich sogar in vielen Fällen als vorteilhaft, indem sie alles beseitigt, was an den wirklichen Gegenständen zu blendend und zu ermüdend für das Auge ist. So ist die Nachahmung der Natur in dem Gemälde zugleich eine Veredlung des Sinneneindruckes. …“ Auf die Frage nach der Bestimmung eines Kunstwerkes, antwortet Helmholtz: „Es soll unsere Aufmerksamkeit fesseln und beleben, es soll eine reiche Fülle von schlummernden Vorstellungsverbindungen und damit verknüpften Gefühlen in mühelosem Spiele wachrufen und sie zu einem gemeinsamen Ziele hinlenken, um uns die sämtlichen Züge eines idealen Typus, die in vereinzelten Bruchstücken und von wildem Gestrüpp des Zufalles überwuchert in unserer Erinnerung zerstreut daliegen, zu lebensfrischer Anschauung zu verbinden. Nur dadurch scheint sich die der Wirklichkeit so oft überlegene Macht der Kunst über das menschliche Gemüt zu erklären, daß die erstere immer Störendes, Zerstreuendes und Verletzendes in ihre Eindrücke mengt, die Kunst alle Elemente (Seite 35) für den beabsichtigten Eindruck sammeln und ungehemmt wirken lassen kann. Die Macht dieses Eindruckes wird aber unzweifelhaft desto größer sein, je eindringlicher, je feiner, je reicher die Naturwahrheit des sinnlichen Eindruckes ist, der die Vorstellungsreihen und die mit ihnen verbundenen Affekte wachrufen soll. Er muß sicher schnell, unzweideutig und genau bestimmt wirken, wenn er einen lebendigen und kräftigen Eindruck machen soll. Das sind aber im Wesentlichen die Punkte, die ich unter dem Namen der Verständlichkeit des Kunstwerkes zusammenzufassen suchte.“

* * *
Diese und ähnliche Vorlesungen, die Helmholtz um jene Zeit gehalten hatte, trugen nicht wenig zur Popularisierung der Naturwissenschaften und seines eigenen Namens bei. Von vielen Seiten wurde er aufgefordert, ähnliche öffentliche Vorträge zu halten, ohne aber dies immer tun zu können. Eine Einladung, in Amerika eine Reihe öffentlicher Vorlesungen zu halten, schlug er ab und schreibt darüber am 5. Januar 1873 an einen Freund in Amerika: „Das Berliner Treiben macht mich schon sehr müde, so daß ich nach beendetem Semester vor allen Dingen den Wunsch zu haben pflege, keine Menschen mehr sehen zu müssen und meine Gedanken sammeln zu können an einem stillen Orte. Von allem diesem wäre Amerika ungefähr das gerade Gegenteil. Und was meine Vorlesungen betrifft, so habe ich mich doch überzeugt, daß ich wohl sachverständigen Leuten wissenschaftliche Dinge in trockener sachlicher Weise auseinandersetzen kann, aber ich habe nicht Herrschaft genug über die Sprache, um dasselbe so zu tun, daß ich ein größeres Auditorium von nicht fachmäßig Gebildeten fesseln könnte. Dabei kostet mir die Ausarbeitung in der fremden Sprache doppelte Zeit, und selbst, wenn ich die Hilfe eines Engländers dabei habe, wird es doch Flickwerk. Ich habe noch mancherlei, was ich für die Wissenschaft tun möchte, und darf nicht mehr allzu viel Zeit verlieren. …“

Um diese Zeit führten ihn seine Probleme auf das aerodynamische Gebiet. Die ersten Resultate dieser Untersuchungen legte er der Akademie am 26. Juli 1873 in seiner Schrift: „Über ein Theorem, geometrisch ähnliche Bewegungen flüssiger (Seite 36) Körper betreffend, nebst Anwendungen auf das Problem, Luftballons zu lenken“, vor. Er hatte noch später öfters Gelegenheit, sich mit diesem Problem zu beschäftigen, und in einem Bericht aus dem Jahre 1878 lesen wir: „Daß man Luftballons durch mechanische Mittel, die den zur Fortbewegung der Schiffe gebrauchten ähnlich sind, bei windstillem Wetter vorwärts treiben und lenken kann, ist theoretisch evident und durch Versuche, namentlich von Dupuy de Lôme, erwiesen. Daß man mit hinreichend großen Ballons auch ganz ausreichende Geschwindigkeiten würde erreichen können, ergibt die Rechnung. … Ich bin demzufolge der Meinung, daß eine bloße Variation und Zusammenhäufung der zur Fortbewegung von Schiffen angewendeten Mittel am Ballon keine neue Erfindung im Sinne des Gesetzes ausmache.“

Eine Untersuchung folgte der anderen, der nie rastende Forscher erschloß sich immer wieder neue Probleme. Und so sehen wir, wie er im Jahre 1874 in dem Jubelband der Poggendorffschen Annalen eine Arbeit: „Die theoretische Grenze für die Leistungsfähigkeit der Mikroskope“ veröffentlicht, die sich mit den Resultaten des größten Kenners auf diesem Gebiete, Abbe-Jena, so ziemlich deckt.

Im folgenden Jahre setzte Helmholtz seine meteorologischen Studien fort. Als Frucht derselben kann man den in Hamburg 1875 gehaltenen Vortrag ansehen, in dem er „Über Wirbelstürme und Gewitter“ sprach. Besonders bemerkenswert ist der kritische Sinn, mit dem Helmholtz an die Wetterprognose herantritt und das Bestreben, die bis dahin noch unvollkommen gebliebenen Berechnungen der Wettervorhersage nicht als einen Beweis gegen die Zuverlässigkeit der theoretischen Erwägungen und Gesetze aufkommen zu lassen. Er begann seinen Vortrag mit dem Goetheschen Vers:

Es regnet, wenn es regnen will,
Und regnet seinen Lauf;
Und wenn's genug geregnet hat,
So hört es wieder auf.
„Dies Verslein — sagte dann Helmholtz — hat sich seit alter Zeit in meinem Gedächtnis festgehäkelt, offenbar deshalb, weil es eine wunde Stelle im Gewissen des Physikers berührt und ihm wie (Seite 37) ein Spott klingt, den er nicht ganz abzuschütteln vermag, und der noch immer trotz aller neugewonnenen Einsichten in den Zusammenhang der Naturerscheinungen, trotz aller neu errichteten meteorologischen Stationen und unübersehbar langen Beobachtungsreihen nicht gerade weit vom Ziele trifft. Unter demselben Himmelsgewölbe, an welchem die ewigen Sterne als das Sinnbild unabänderlicher Gesetzmäßigkeit der Natur einherziehen, ballen sich die Wolken, stürzt der Regen, wechseln die Winde, als Vertreter gleichsam des, entgegengesetzten Extrems, unter allen Vorgängen der Natur diejenigen, die am launenhaftesten wechseln, flüchtig und unfaßbar, jedem Versuche entschlüpfend, sie unter den Zaum des Gesetzes zu fangen.“

Für einen exakten Naturforscher wie Helmholtz, für den die Wissenschaft erst da begann, wo sie feste Gesetze, eine unabänderliche Ordnung und einen straffen Zusammenhang nachweisen konnte, war es etwas Unangenehmes, das sich in das Gefühl der sonst so gefestigten Naturansicht mengte, sobald er einsah, daß es noch eine Reihe von Erscheinungen gäbe, die sich nicht unter das Joch der Gesetzmäßigkeit bringen ließen. Aber die Zuversicht zu seinen grundlegenden Prinzipien der Naturauffassung ließ keinen dauernden Zweifel aufkommen, der an der Zuverlässigkeit der Gesetzmäßigkeit aller Naturerscheinungen rütteln konnte. Auch das so launische Wetter unterliegt ganz bestimmten Gesetzen, in der Natur gibt es keine Willkür, für jede Erscheinung ist ein zureichender Grund vorhanden. Allerdings ist es nicht überall so leicht, alle Gründe und Ursachen aufzudecken, aber sobald dies geschehen sein wird, dürfte man das Wetter mit eben derselben Sicherheit voraussagen können, wie das Eintreten einer Sonnenfinsternis. Die grundlegenden Gesetze der Meteorologie basieren ebenfalls auf dem allgemeinsten Prinzipe, das uns die Welt und ihre Erscheinungen erst verständlich gemacht hat, auf dem Gesetze der Erhaltung der Kraft. Sobald man in die verborgensten Schlupfwinkel der meteorologischen Vorgänge mit der Fackel dieses Gesetzes wird hineinleuchten können, wird man auch, das dort herrschende Dunkel erhellen.

Im Juli 1877 wurde Helmholtz zum Professor der Physik an der medizinisch-chirurgischen Akademie für das Militär, wo er selbst seine medizinische Ausbildung erhalten hatte, ernannt. Er hielt am (Seite 38) Stiftungstage dieser Anstalt eine Rede „Das Denken in der Medizin“, in der er einen Rückblick auf die Entwicklungsgeschichte der Medizin gab.

Zwei Richtungen treten innerhalb dieser Wissenschaft hervor, eine, die, nur auf Spekulation bauend, a priori ein Bild vom Leben und den Krankheitserscheinungen sich zu machen sucht, während die andere Richtung, aus den Tatsachen der Erfahrung schöpfend, die allgemeinen Gesetze der Natur auch auf das Leben des Menschen anzuwenden sich bemüht. Mit dem Aufschwunge der Naturwissenschaften nimmt auch die Medizin ihren Aufschwung; je mehr das naturwissenschaftliche Denken sich vertiefte, desto fruchtbarer sind die Erfolge dieses Denkens auch für die Medizin geworden. Letzten Endes ist ja die Medizin nichts anderes, als eine auf den Menschen angewandte Naturwissenschaft. Charakteristisch für die ältere Schule der Medizin — meint Helmholtz — ist die Intoleranz gegen die von ihren Ansichten Abweichenden, während die neuere Schule wohl weiß, daß sie auch irren kann und deshalb mit mehr Verständnis auf die Ansichten anderer eingeht.

Es ist interessant, zu beobachten, wie Helmholtz keine Gelegenheit vorübergehen läßt, um sich mit erkenntnistheoretischen Fragen auseinanderzusetzen, wie er neben der Empirie auch den Wert des abstrakten Denkens zu würdigen weiß. So sagt er auch in dieser Rede: „Wenn ich gegen das leere Hypothesenmachen spreche, glauben Sie übrigens nicht, daß ich den Wert der echt originalen Gedanken herabsetzen wolle. Die erste Auffindung eines neuen Gesetzes ist die Auffindung bisher verborgen gebliebener Ähnlichkeit im Ablauf der Naturvorgänge. Sie ist eine Äußerung des Seelenvermögens, welches unsere Vorfahren noch im ernsten Sinne ‚Witz‘ nannten; sie ist gleicher Art mit den höchsten Leistungen künstlerischer Anschauung in der Auffindung neuer Typen ausdrucksvoller Erscheinung. Sie ist etwas, was man nicht erzwingen und durch keine bekannte Methode erwerben kann. Darum haschen alle danach, die sich als bevorzugte Kinder des Genius geltend machen möchten. Der Beweis dafür, daß die gefundenen Ideen nicht nur oberflächliche Ähnlichkeiten zusammenraffen, sondern durch einen tiefen Blick in den Zusammenhang des Ganzen erzeugt sind, läßt sich doch nur durch eine vollständige Durchführung derselben geben, für (Seite 39) das neu entdeckte Naturgesetz also nur an seiner Obereinstimmung mit den Tatsachen.“

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Beim Antritt des Rektorats an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin hielt Helmholtz am 15. Oktober 1877 eine Rede „Über die akademische Freiheit der deutschen Universitäten“, aus der hier eine charakteristische Stelle hervorgehoben werden möge. Helmholtz tritt für die unbedingte Freiheit der Studierenden und Lehrer ein: „Die freie Überzeugung der Schüler ist nur zu gewinnen, wenn der freie Ausdruck der Überzeugung des Lehrers gesichert ist, die Lehrfreiheit. Diese ist nicht immer geschützt gewesen in Deutschland, ebensowenig wie in den Nachbarländern. In Zeiten politischer und kirchlicher Kämpfe haben sich die herrschenden Parteien oft genug Eingriffe erlaubt; es ist dies von der deutschen Nation immer als ein Eingriff in ein Heiligtum empfunden worden. In diesem Augenblicke können auf deutschen Universitäten die extremsten Konsequenzen materialistischer Metaphysik, die kühnsten Spekulationen auf dem Boden von Darwins Evolutionstheorie ebenso ungehindert, wie die extremste Vergötterung päpstlicher Unfehlbarkeit vorgetragen werden. Wie auf der Tribüne der europäischen Parlamente bleiben allerdings Verdächtigungen der Motive, Schmähungen der persönlichen Eigenschaften der Gegner — beides Mittel, welche mit der Entscheidung wissenschaftlicher Sätze offenbar nichts zu tun haben — untersagt… Aber es besteht kein Hindernis, irgend welche wissenschaftliche Streitfrage wissenschaftlich zu diskutieren.“

Amtliche Tätigkeit, Vorlesungen und Experimente nahmen seine Zeit in Anspruch, es fehlte auch nicht an Anfeindungen, die seine Gemütsruhe aus dem Gleichgewichte zu bringen drohten, aber Helmholtz fand immer wieder in der Wissenschaft die sicherste Zufluchtsstätte.

Am 3. August 1878 feierte die Berliner Universität ihr Stiftungsfest. Für Helmholtz erwuchs nun daraus die Verpflichtung, eine Festrede zu halten. Lange überlegte er das Thema, das er bei einem solchen Anlasse behandeln könnte, und als er es endlich fand, da stellte sich ihm wieder die Schwierigkeit entgegen, wie er es benennen sollte.

(Seite 40) „Die Tatsachen in der Wahrnehmung“, lautete das Thema seiner Rede, in der er einige grundlegende Fragen, die mit der Erkenntnistheorie und Physiologie der Sinne zusammenhängen, entwickelte.

Was ist Wahrheit in unserem Anschauen und Denken? Wie verhalten sich unsere Vorstellungen zur Wirklichkeit, zur Außenwelt? so lautete das behandelte Problem.

Philosophie und Naturwissenschaft haben diese Fragen zum Gegenstande ihrer Untersuchung gemacht, beide haben sich dieselbe Aufgabe gestellt, beide suchen diese Fragen von ihrem Standpunkte aus zu beantworten.

Die idealistische Philosophie sucht aus unserem Wissen und Vorstellen das auszuscheiden, was aus den Einwirkungen der Körperwelt herrührt, um das als Wahrheit hinzustellen, was der eigenen Tätigkeit des Geistes angehört.

Die Naturwissenschaft dagegen sucht die Vorstellungsformen, die Definitionen u. s. w. auszuscheiden, um nur das zu behalten, was der Welt der Wirklichkeit angehört.

Dort das Betonen des Geistes als alleiniger Quelle der wahren Erkenntnis, hier das der Sinne und ihrer Funktionen. Idealismus und Realismus könnte man diese beiden Richtungen taufen. „Beide — sagt Helmholtz — suchen dieselbe Scheidung zu vollziehen, wenn auch jede für einen anderen Teil des Geschiedenen interessiert ist. In der Theorie der Sinneswahrnehmungen und in den Untersuchungen über die Grundprinzipien der Geometrie, Mechanik, Physik kann auch der Naturforscher diesen Fragen nicht aus dem Wege gehen.“ Wir sehen, auf welch breiter Basis Helmholtz diese Probleme aufgebaut wissen will. Für ihn ist die exakte Naturwissenschaft nicht bloß die Summe von systematisch geordneten Tatsachen der Erfahrung, sondern der Inbegriff eines tieferen Erfassens der Natur, wobei der philosophischen Betrachtung ein weiter Raum gewährt wird. Man darf aber hier Philosophie nicht als müßige Spekulation, als Metaphysik auffassen, sondern als das, was sie sein soll, d. h. die vernunftgemäße Erfassung der Probleme, eine Erfassung, die den Zusammenhang der Tatsachen nachweisen will und nicht bei dem äußeren Schein stehen bleibt. An einer anderen Stelle hat sich Helmholtz über diesen Punkt etwas eingehender ausgesprochen.

(Seite 41) In der Vorrede zu der Übersetzung von Tyndalls „Fragments of Science“ lesen wir folgendes darüber: „Es gibt zwei Wege, den gesetzlichen Zusammenhang der Natur aufzusuchen, den der abstrakten Begriffe und den einer reichen experimentierenden Erfahrung. Der erstere Weg führt schließlich mittelst der mathematischen Analyse zur genauen quantitativen Kenntnis der Phänomene; aber er läßt sich nur beschreiten, wo der zweite schon das Gebiet einigermaßen aufgeschlossen, d. h. eine induktive Kenntnis der Gesetze mindestens für einige Gruppen der dahin gehörigen Erscheinungen gegeben hat, und es sich nur noch um Prüfung und Reinigung der schon gefundenen Gesetze, um den Übergang von ihnen zu den letzten und allgemeinsten Gesetzen des betreffenden Gebietes und um die vollständige Entfaltung von deren Konsequenzen handelt. Der andere Weg führt zu einer reichen Kenntnis des Verhaltens der Naturkörper und Naturkräfte, bei welcher zunächst das Gesetzliche nur in der Form, wie es die Künstler auffassen, in sinnlich lebendiger Anschauung des Typus seiner Wirksamkeit erkannt wird, um sich dann später in die reine Form des Begriffs herauszuarbeiten. Ganz voneinander lösen lassen sich beide Seiten der Tätigkeit des Physikers niemals, wenn auch die Verschiedenheit der individuellen Begabung den Einen geschickter zur mathematischen Deduktion, den Anderen zur induktiven Tätigkeit des Experimentierens macht. Löst sich aber der Erstere ganz von der sinnlichen Anschauung ab, so gerät er in Gefahr, mit großer Mühe Luftschlösser auf unhaltbare Fundamente zu bauen, und die Stellen nicht zu finden, an denen er die Übereinstimmung seiner Deduktionen mit der Wirklichkeit bewahrheiten kann; dagegen würde der Letztere das eigentliche Ziel der Wissenschaften aus den Augen verlieren, wenn er nicht darauf hinarbeitete, seine Anschauungen schließlich in die präzise Form des Begriffs überzuführen“.

Wir haben absichtlich diese Stelle hier angeführt, weil sie eine besonders prägnante Beschreibung der induktiven und deduktiven Methode ist, und die Berechtigung und die Grenzen beider nachweist. Helmholtz hat sich bei seinen wissenschaftlichen Leistungen beider zu bedienen gewußt, und ein großer Teil seiner Arbeiten ist deshalb so bedeutend, weil er es verstanden hat, beide Methoden miteinander richtig zu kombinieren.

(Seite 42) Diese Untersuchungsmethode diente ihm auch dazu, um in seinem Vortrage „Die Tatsachen in der Wahrnehmung“ an das schwierige Problem der Abgrenzung der Empfindungen von den Eindrücken der Dinge der Außenwelt heranzutreten, oder, mit anderen Worten ausgedrückt, um nachzuweisen, wie sich unsere Vorstellungen zu der Wirklichkeit verhalten. Dieses Problem ist eines der schwierigsten der modernen Philosophie und Naturwissenschaft. Je mehr man ihm näher kommt, umso komplizierter wird es; jede gewonnene Lösung wird dann zum Ausgangspunkte neuer Schwierigkeiten. Im zweiten Teile unserer Darstellung werden wir darauf näher eingehen.

Über den Eindruck, den dieser Vortrag gemacht hat, berichtet Helmholtz am 4. August seiner Frau: „Ich wußte, daß es nicht nach dem Geschmack der Majorität sein würde. Es waren neue Gedanken darin, die sie in Verlegenheit bringen mußten — natürlich nicht Zeller, du Bois, Kronecker u. a. Ich aber hatte mir gesagt, wenn ich einmal arbeiten müßte, so wollte ich auch etwas machen, an dessen Ausarbeitung ich selbst Interesse hätte, dann ist es schließlich immer besser, daß sie mich zu gelehrt finden, als trivial.“

Die in diese Zeit fallende Erfindung des Telephons hat auf Helmholtz einen großen Eindruck gemacht, und schon am 11. Juli 1878 konnte er der Akademie eine Arbeit über „Telephon und Klangfarbe“ vorlegen.

Die elektrodynamischen Untersuchungen beschäftigten ihn in der Folgezeit immer mehr, er tritt über diese prinzipiellen Fragen mit seinen Freunden in eine ausgedehnte Korrespondenz, die sehr anregend und belehrend ist und uns einen Einblick in die geistige Werkstätte dieser Forscher gestattet.

Im Frühjahr 1881 wurde er von der chemischen Gesellschaft in London aufgefordert, an der Stelle zu den Gelehrten Englands zu reden, von welcher aus der berühmte Faraday, dessen Gedächtnis gefeiert werden sollte, so oft über die neuesten Fortschritte der Naturwissenschaften zu sprechen pflegte.

Helmholtz folgte dieser Aufforderung und sprach über „Die neuere Entwickelung von Faradays Ideen über Elektrizität“. Die „Faraday-Rede“ hat damals großes Aufsehen in der Gelehrtenwelt — besonders der englischen — erregt. Helmholtz gab eine Darstellung der Leistungen des großen englischen (Seite 43) Naturforschers, kritisierte aber dabei seine Auffassung vom Wesen der elektrischen Vorgänge.

Die bahnbrechenden Entdeckungen Faradays wurden anfangs kaum verstanden, wenig beachtet und deshalb nicht genügend gewürdigt. Sie wichen auch in der Tat von den gewohnten Bahnen der wissenschaftlichen Untersuchungen ab. Faraday war strenger Empiriker, in seinen Erklärungen vermied er aufs peinlichste jedes hypothetische Element, er hielt sich streng an die beobachteten Tatsachen, und diese Methode brachte es mit sich, daß er nicht sofort verstanden und gewürdigt wurde. Allerdings fehlte es ihm an streng wissenschaftlicher Disziplinierung, er war der Sohn eines Schmiedes und seinem ursprünglichem Berufe nach Buchbinder. Erst nachdem Clerk Maxwell die von Faraday gefundenen Tatsachen mathematisch interpretierte, wurde erkannt, wie bedeutend die von Faraday gemachten Untersuchungen waren, die er aber selbst nicht immer in eine klare Form zu bringen verstanden hatte.

Faraday hatte zum Gegenstande seiner Untersuchungen ein Problem gewählt, das noch heute nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann. Er warf die Frage auf, ob es Kräfte gibt, die unmittelbar und ohne Beteiligung eines dazwischen liegenden Mediums in die Ferne wirken. Alle physikalischen Theorien wurden zu seiner Zeit durch das Gravitationsprinzip hauptsächlich erklärt. Dieses war der Universalschlüssel für alle physikalischen Erscheinungen. Während Newton diese seine Hypothese mit der größten Vorsicht geltend gemacht hatte, vergaßen seine Anhänger unter dem Eindrucke der Fruchtbarkeit dieses Erklärungsprinzipes die Bedenken, die bei Newton selbst noch vorhanden waren. Die Wirkung der Fernkräfte sollte alles erklären, analog dem großen Gesetze der Gravitation.

Faradays Verdienst war nun, nachzuweisen, daß es auch andere Kräfte, außer den auf Anziehung und Abstoßung beruhenden, gibt. Der Charakter der elektromagnetischen Kraft war der Anfangspunkt seiner Untersuchungen. Er sah, daß hier eine Kraft tätig ist, die nicht auf einer Kombination anziehender und abstoßender Kräfte, die von einem materiellen Punkt zum anderen wirken, beruht. Auf Grund einzelner Beobachtungen gelang es ihm, alle Erscheinungen elektrischer, magnetischer und elektromagnetischer Anziehung, (Seite 44) Abstoßung und Induktion zu erklären, ohne dabei das Prinzip der Fernwirkungen in Anspruch zu nehmen, ein Prinzip, das sehr stark mit metaphysischen Elementen durchsetzt ist, und das aus den Naturwissenschaften zu verdrängen, Faraday sich zur Aufgabe stellte..

Die von Faraday gegebene Erklärung ist in sich konsequent durchgeführt und befindet sich in vollständiger Übereinstimmung mit allen bekannten Beobachtungstatsachen. Keine ihrer Forderungen, ist im Widerspruch mit den fundamentalen Axiomen der Dynamik, welche sich bis dahin als ausnahmlos gültige Gesetze für alle bekannten Naturerscheinungen erwiesen haben, — besonders mit dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft und dem Gesetz von der Gleichheit der Aktion und Reaktion.

In September 1881 nahm Helmholtz am elektrischen Kongreß in Paris teil, von wo er dann nach Florenz reiste, um als Preisrichter bei der Verteilung einer wissenschaftlichen Auszeichnung zu fungieren; von dort begab er sich nach Wien zur elektrischen Ausstellung. Kaum nach Berlin zurückgekehrt, hielt er Vorträge und erstattete Berichte über das in Paris und Wien Erlebte.

Für seine wissenschaftlichen Leistungen wurde er im Jahre 1882 vom Kaiser Wilhelm I. in den erblichen Adelstand erhoben; seine Bescheidenheit und Forschertätigkeit erlitt dadurch durchaus keine Einbuße wie das aus einem von L. Kronecker an Helmholtz gerichteten Briefe hervorgeht: „Aber daß sich in Ihnen mit der Denk- und Wissensgewalt jene seltene Menschenfreundlichkeit und Arbeitskraft verbindet, welcher die Welt die Idee und die Vollendung, die Herausgabe Ihrer gesammelten Abhandlungen verdankt, das ist es, was meine höchste Bewunderung erregt.“

In der Folgezeit beschäftigten Helmholtz hauptsächlich thermodynamische Untersuchungen. So legte er am 2. Februar und 27. Juli 1882 der Berliner Akademie seine fundamentalen Arbeiten über „Die Thermodynamik chemischer Vorgänge“ vor. Er entwickelt darin mathematisch formulierte Beziehungen zwischen den Gesetzen der Wärme, der Elektrizität und der chemischen Erscheinungen.

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Seine akademische Lehrtätigkeit erwies sich besonders fruchtbar dadurch, daß er begabte Schüler förderte und sie für die Wissenschaft zu erhalten suchte. Einer seiner bedeutendsten Schüler, (Seite 45) Heinrich Hertz, hatte um diese Zeit eine Berufung nach Kiel angenommen, wo er eine Reihe bahnbrechender Untersuchungen anstellte und diese auch seinem Lehrer bald mitteilte. Es entwickelte sich zwischen Helmholtz und Hertz eine sehr rege wissenschaftliche Korrespondenz. Der große Schüler, der in bezug auf seine wissenschaftliche Bedeutung seinem Lehrer immer mehr nahe kam, spricht mit der größten Bescheidenheit in seinen Briefen über seine Untersuchungen. Helmholtz kritisiert, spendet Lob und eifert immer zur Fortführung der Arbeiten an. Als ihm Hertz im Jahre 1883 seine Arbeit „Versuche über Glimmentladung“ einschickte, schreibt Helmholtz unmittelbar darauf an seinen früheren Schüler: „Ich habe mit dem größten Interesse Ihre Arbeit über die Glimmentladung gelesen und kann nicht umhin, Ihnen mein Bravo schriftlich zuzusenden. Die Sache scheint mir von der größten Tragweite zu sein.“

Im Oktober 1883 reiste Helmholtz nach Rom, um an einer Konferenz der internationalen Gesellschaft für die Messung der verschiedenen Erdgrade teilzunehmen. Neben den Konferenzarbeiten, denen sich Helmholtz sehr eifrig widmete, besuchte er auch viel das Theater, wo gerade damals die Duse auftrat. Ihr Glanzstern begann erst aufzugehen, und Helmholtz gehörte zu den Bewunderern ihres Spieles. Professor Blaserna, bei dem er wohnte, erzählt darüber in einem Briefe an Professor Königsberger folgendes: „Wir gingen alle Abende ins Theater, und es war interessant, zu sehen, welch regen Anteil Helmholtz an den feinsten und kleinsten Details ihres ungemein reichen Spieles nahm. Er überraschte mich auch mit seinen ausgedehnten und gründlichen Kenntnissen des modernen französischen Theaters. Eines Abends erwarteten wir „Fedora“ und da wir etwas zu früh gekommen waren, erzählte er mir den Inhalt des Sardouschen Stückes mit einer geradezu überraschenden Genauigkeit.

Wie gesagt, nahm Helmholtz einen innigen Anteil an dem Spiele der Duse, und war für alles sehr empfänglich. Zum Schlusse suchte jeder von uns heimlich eine Träne zu entfernen, ohne es zeigen zu wollen. Er zog sein großes weißes Taschentuch hervor und wischte sich unerschrocken beide Augen aus!“

Auch für die Kunstschätze des alten und neuen Roms interessierte sich Helmholtz sehr lebhaft. In dem bereits erwähnten (Seite 46) Briefe berichtet Blaserna darüber: „Wenn er einen Nachmittag frei hatte, gingen wir zusammen zum Cäsaren-Palast, und er hörte mit Interesse den Ausführungen zu, die ihm mein leider verstorbener Freund, Professor Thomasi-Crudele, gab. Er war überhaupt die reichste Natur, die mir je vorgekommen ist. Professor Engelmann sagte in seiner Gedächtnisrede, daß, wie um Homer sich sieben Städte stritten, ebenso streiten sich sieben Wissenschaften um Helmholtz. Aber man muß noch mehrere Künste hinzufügen. In meinem langen Zusammenleben mit ihm kann ich mich nicht erinnern, daß auch nur ein einziges Argument, wie immer beschaffen, ihm fremd oder inhaltlos vorgekommen wäre, er interessierte sich für alles.“

Mit dem Winter 1883/84 beginnt für Helmholtz — wie sein Biograph Königsberger berichtet — eine Zeit gewaltigen mathematischen Schaffens und Ringens nach der Erkenntnis eines einheitlichen, die Natur beherrschenden Prinzips, welches alle Gedanken des großen Naturforschers während des letzten Jahrzehnts seines Lebens bis in seine letzten Stunden hinein beherrschte.

Ostern 1884 reiste Helmholtz nach England, wo er mit Tyndall, Herbert Spencer, Sir John Lubbock, Huxley und anderen führenden Geistern angenehme Stunden verlebte. Er hielt sich einige Tage bei Sir Henry Roscoe in Manchester auf, mit dem er über seine letzten Arbeiten betreffs der Beziehungen der Chemie zur Wärme vieles zu besprechen hatte. In Glasgow besuchte er seinen Freund William Thomson, den er mit Regulatoren und Meßapparaten für elektrische Beleuchtung und für die elektrische Bahn beschäftigt fand. Damals war die Frage nach der Herstellung genauer elektrischer Meßapparate für wissenschaftliche wie praktische Zwecke sehr aktuell. Auch Helmholtz hat diesem Gebiete ein wenig seine Aufmerksamkeit gewidmet, wie das aus einigen Arbeiten zu ersehen ist.

Als Familienvater konnte Helmholtz um jene Zeit ein angenehmes Fest feiern. Am 10. November 1884 verheiratete er seine Tochter Ellen mit Arnold Wilhelm von Siemens, dem ältesten Sohne von Werner von Siemens.

Die Arbeiten über die „Verallgemeinerung der Sätze über die Statik monocyklischer Systeme“ und „Über die physikalische Bedeutung des Prinzips der kleinsten Wirkungen“ (Seite 47) haben damals Helmholtz besonders beschäftigt. Die in diesen Arbeiten niedergelegten fundamentalen Untersuchungen, — sagt Königsberger — welche für Hertz Anregung und Ausgangspunkt für dessen „Prinzipien der Mechanik“ bildeten, und welche in ihrer ungeheuren Tragweite wegen der Schwierigkeit der Probleme an sich sowie wegen der Gedrängtheit der Darstellung bis heute noch nicht in weite Kreise der Naturforscher einzudringen vermochten, sind durchaus mathematischer Natur; doch sind alle rein mathematischen Probleme bei der Verallgemeinerung der mechanischen Prinzipien, wie es Helmholtz stets in seinen mathematisch-physikalischen Arbeiten liebte, immer nur soweit behandelt, als die Anwendung auf physikalische Fragen es erforderte und zweckmäßig erscheinen ließ.

Im Jahre 1885 verfaßte Helmholtz einen „Report on Sir William Thomson's Mathematical and Physical Papers“, der in der „Nature“ erschienen ist. Er gibt in diesem Aufsatze eine Übersicht über die Leistungen seines Freundes und hebt die exakt-mathematische Methode, die alle Arbeiten des großen englischen Physikers besonders auszeichnet, hervor.

Ende des Jahres 1885 wurde Helmholtz die Graefe-Medaille verliehen. „Über die Erteilung der Graefe-Medaille — schreibt er an einen Freund — habe ich mich sehr gefreut, um so mehr, da lange Jahre vergangen waren, in denen ich die Ophthalmologen nicht mehr an mich erinnert habe. … Uns geht es im ganzen gut; wenn ich auch einzelne kleine Unbequemlichkeiten des wachsenden Alters merke, so kann ich über Mangel an Arbeitsfähigkeit nicht klagen; ich wollte nur, daß ich mehr freie Zeit hätte …“

Im August des folgenden Jahres nahm er am 500jährigen Jubiläum der Universität Heidelberg teil, hielt dann in der ophthalmologischen Gesellschaft eine Rede, in der er auf seinen Anteil an der Entdeckung des Augenspiegels zu sprechen kam. Er betonte dabei stark die Verdienste seiner Vorgänger, die nur um Haaresbreite von dieser Entdeckung fern waren. Es lag in dem Wesen des großen Forschers, immer auf die Verdienste seiner Vorgänger hinzuweisen, deren Entdeckungen und Leistungen es ihm erst ermöglichten, seine Untersuchungen fortzusetzen. Er hat es nie vergessen, daß ein jeder Zweig der Wissenschaft seine hervorragenden Mitarbeiter und Mitstreber aufzuweisen hat, und daß es nicht immer der tüchtigere und (Seite 48) bedeutendere ist, der gerade das Glück hat, eine große Entdeckung zu machen. Die Rolle des Zufalles bei allen großen Leistungen hat er genau gekannt, und er hebt gelegentlich einmal selbst hervor, daß er es deshalb vorziehe, auf einem Gebiete zu arbeiten, wo der Zufall das wenigste und die Schärfe des Verstandes das meiste vermögen.

Um diese Zeit wurde Helmholtz zum Vizekanzler der Friedensklasse des Ordens pour le mérite ernannt. Er begab sich zu dem Kanzler dieses Ordens, Menzel, um sich über seine Obliegenheiten belehren zu lassen, worauf ihm Menzel erwiderte: „Da kann ich Ihnen nur dasselbe sagen, was mir seinerzeit Ranke zur Antwort gab: ‚Als Vizekanzler haben Sie weiter nichts zu tun, als zu warten, bis ich tot bin, um dann Kanzler zu werden.‘“

Die wissenschaftliche Korrespondenz mit seinem Schüler Hertz bereitete ihm große Freude. Jede neue Untersuchung wurde mit wahrer Begeisterung aufgenommen, und aus Anlaß der Übersendung einer derselben äußerte sich Helmholtz: „Zunächst fühle ich eine stolze Freude darüber, daß meine Gedankenarbeit fortleben soll und fortwirken soll in künftigen Generationen über mein individuelles Leben hinaus, und Sie werden es ja wohl begreifen, daß, so wie ein leiblicher Vater zunächst für das Wohl seiner leiblichen Söhne am meisten sorgt und sie zu fördern bestrebt ist, ich gleichsam auch für meine Gedankenkinder eine Vorliebe habe, und Sie begreifen also, daß ich als der lebende Mensch nur meinen eigenen Überzeugungen folgen kann und auf sie das Hauptgewicht lege, und ich mich darüber freue, wenn gerade in ihrer Richtung die Fortentwickelung der Wissenschaft gefördert werden soll. Dann wieder kommt mir freilich der Zweifel, ob nicht meine eigenen Ideale zu eng und meine eigenen Prinzipien an einzelnen Stellen nicht vollständig genug sind, um für alle Zukunft den Bedürfnissen der Menschheit zu genügen . … Nur die eine Fahne möchte ich hochhalten, daß der Zweck der Wissenschaft ist, die Wirklichkeit zu begreifen und das Vergängliche aufzufassen als die Erscheinungsform des Unvergänglichen, des Gesetzes.“ Helmholtz sah in Hertz den Fortbildner der von ihm eingeschlagenen Richtung, er hoffte auch, daß Hertz der Berufenste sein dürfte, um die von ihm in Angriff genommenen großen Untersuchungen weiter fortzuführen. Leider (Seite 49) hat der frühe Tod dies vereitelt. Helmholtz litt unter diesem Schicksalsschlage ebenso wie die Wissenschaft.

Nachdem Hertz — von Ostern 1889 an — kaum drei Jahre an der Bonner Universität gewirkt hatte, erlag er einer langen und qualvollen Knochenkrankheit. „Für alle — sagt Helmholtz — die den Fortschritt der Menschheit in der möglichst breiten Entwickelung ihrer geistigen Fähigkeiten und in der Herrschaft des Geistes über die natürlichen Leidenschaften wie über die widerstrebenden Naturkräfte zu sehen gewohnt sind, war die Nachricht vom Tode dieses bevorzugten Lieblings des Genius eine tief erschütternde …

Ich selbst habe diesen Schmerz tief empfunden; denn unter allen Schülern, die ich gehabt habe, durfte ich Hertz immer als denjenigen betrachten, der sich am tiefsten in meinen eigenen Kreis von wissenschaftlichen Gedanken eingelebt hatte, und auf den ich die sichersten Hoffnungen für ihre weitere Entwickelung und Bereicherung glaubte setzen zu dürfen.“

Der nie rastende Geist Helmholtz' hat sich damals die schwierigen Probleme der Meteorologie und Erkenntnistheorie — weit auseinanderliegende Gebiete — wieder zum Gegenstande der Untersuchung gewählt.

Um sich ausschließlich den wissenschaftlichen Untersuchungen widmen zu können, legte Helmholtz seine Tätigkeit als Universitätsprofessor nieder und übernahm 1888 die Leitung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Charlottenburg.


S. 31 - 49 aus:
Reiner, Julius: Hermann von Helmholtz. - Leipzig, [1905]

Letzte Änderung: 03.03.2013 Gabriele Dörflinger   Kontakt

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