Cantor, Moritz: Petrus Ramus

Quelle:
Cantor, Moritz: Vorlesungen über Geschichte der Mathematik. – Leipzig : Teubner
Band 2.  Von 1200 bis 1668. — 2. Aufl. — 1900.
S. 545 – 547
Signatur UB Heidelberg: L 84-6::2(2)

67. Kapitel.  Geschichte der Mathematik. Classikerausgaben. Geometrie. Mechanik.

(Seite 545) Die zum Schlusse des vorhergehenden Abschnittes angedeuteten Verhältnisse und die als Folgen derselben nicht mehr von Volk zu Volk zu trennende Entwickelung der Wissenschaften nöthigen uns, die seither von uns gebrauchte geographische Eintheilung der einzelnen Abschnitte zu verlassen. Trennt man aber nicht mehr von Volk zu Volk, ist es eben so unmöglich die chronologische Trennung von Jahr zu Jahr, oder von Jahrzehnt zu Jahrzehnt vorzunehmen, weil der Jahrgang des Druckes doch nicht übereinstimmt mit den oft langen Jahren der Vorbereitung, und weil ferner alsdann Dinge verschiedenster Gattung neben einander, getrennt dagegen von Verwandtem aufzutreten drohen, so bleibt nur übrig, den Stoff nach dem Inhalte der Schriften, welche wir zu nennen haben, zu ordnen. Recht mangelhaft ist allerdings auch diese Anordnung. Ein und derselbe Schriftsteller wird nicht selten an verschiedenen Stellen genannt werden müssen; seine eigene Bedeutung wird möglicherweise dabei nicht in einem richtigen Lichte erscheinen, insbesondere dann, wenn er das erste Mal, dass er auftritt, uns vielleicht seine schwächste Seite zukehrt. Wir hoffen hier dennoch eine Abhilfe treffen zu können dadurch, dass wir den wirklich bedeutenden Mathematikern am Schlusse eine Zusammenfassung widmen. Lebensschicksale derselben in so engen Grenzen, als die Anlage unseres Werkes sie fordert und gestattet, werden berichtet werden, wo der Name zuerst erscheint. Wir beginnen mit solchen Schriftstellern, welche die Geschichte der Mathematik selbst zum Gegenstande ihrer Forschung machten. Petrus Ramus(Anm. 1), mit (Seite 546) französischem Namen Pierre de la Ramée (1515–1572), gehörte zu den einflussreichsten Schriftstelle seiner Zeit, wozu ihn einestheils Beziehungen zu hochgestellten Persönlichkeiten, anderntheils eine ausgesprochen streitbare Geistesveranlagung machte, welche ihn in den Vordergrund von lebhaften Kämpfen stellte. Mit der These Quaecunque ab Aristotele dicta essent commentitia esse warf Ramus 1536 der ganzen, an allen Universitäten hochmächtigen Aristotelischen Schule den Fehdehandschuh hin. In den Hörsälen begann das geistige Ringen, aber an anderen Kampfplätzen und mit anderen als geistigen Waffen setzte es sich fort bis die auf die Nacht des St. Bartholomäus folgende Nacht Ramus dem Dolche der Mörder überlieferte. Bis 1568 lebte Ramus in Frankreich, meistens in Paris. Dann entzog er sich den ihm dort drohenden persönlichen Gefahren durch eine mit königlicher Erlaubniss unternommene Reise nach Deutschland, die ausgesprochenermassen wissenschaftlichen Zwecken dienen sollte; Strassburg, Heidelberg, Frankfurt am Main, Nürnberg, Augsburg, Basel gehörten zu den besuchten Städten. Ueberall war Ramus im Dienste der von ihm vertretenen Sache thätig, überall knüpften sich an seinen Aufenthalt Streitigkeiten an. Im September 1570 kehrte er nach Paris zurück, welches er nicht wieder verliess. Von den zahlreichen Schriften, welche Ramus verfasste, nennen wir an dieser Stelle nur eine aus 3 Büchern bestehende von 1567, welche der Königin Katharina von Medicis gewidmet war(Anm. 2) und welche später, 1569 und häufiger, wiederholt gedruckt wurde, als die 3 ersten von 31 Büchern mathematischer Untersuchungen, Scholae mathematicae. Diese 3 Bücher stellen eine wirkliche Geschichte der Mathematik dar, natürlich in sehr bescheidenen Grenzen vermöge der äusserst geringen Mittel, über welche man damals noch verfügte, aber doch mit vorwiegender Benutzung solcher Quellen, welche heute noch als zuverlässige gelten. Beispielsweise hat Ramus offenbar sehr viel über griechische Mathematik aus Proklos entnommen, dessen Erläuterungen zum ersten Buche der euklidischen Elemente seit 1533, wie wir wissen (S. 406), durch Grynäus griechisch herausgegeben waren, während eine 1560 erschienene lateinische Uebersetzung weiter unten genannt werden wird. Ramus hat jedenfalls der griechischen Ausgabe sich bedient, da er wiederholt den griechischen Wortlaut anführt. Den deutschen Mathematikern hat Ramus eine fast übertriebene Bewunderung gezollt und sie insbesondere seinen Landsleuten als Muster hingestellt. Andrerseits wendet er sich freilich auch an deutsche Fürsten mit der Aufforderung, Professuren der Mathematik an ihren Universitäten zu errichten, und schlägt z. B. für Heidelberg (Seite 547) ausdrücklich Xylander als geeignete Persönlichkeit vor, einen Gelehrten, der uns bald beschäftigen wird. Der Inhalt der Geschichte der Mathematik gliedert sich für Ramus in vier Perioden. Er unterscheidet 1. eine chaldäische Periode von Adam bis zu Abraham; 2. eine egyptische Periode, beginnend von Abraham, der die Mathematik in dieses Land brachte. Beide Perioden zusammen sind auf vier Seiten abgehandelt. 3. Die griechische Periode von Thales bis zu Theon von Alexandrien füllt bei Ramus 34 Seiten. 4. Die neuere Mathematik werde, hofft Ramus, einen, anderen Bearbeiter finden.   . . .

Anmerkungen

  1. Ch. Waddington: Ramus, sa vie, ses écrits et ses opinions (Paris 1855). — Cantor in der Zeitschr. Math. Phys.. H, 354–359; III, 133–143; IV, 314–315. — L. Am. Sédillot, Les professeurs de mathématiques et de physique générale au Collège de France im Bulletino Boncompagni Bd. II und III (1869–1870). Ueber Ramus vergl. II, 389–418.
  2. P. Rami prooemium mathematicum in tres libros distributum.

Letzte Änderung: Okt. 2020     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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