Zur Erinnerung an Carl Neumann.

Von   HEINRICH   LIEBMANN   in Heidelberg.

Von lebendiger Erinnerung an einen durch ungewöhnliche Fülle von Ehrungen anerkannten Meister der Forschung, einen Liebe und Begeisterung für sein Fach weckenden Meister der Lehre erfüllt, folge ich gern der Aufforderung, zum ehrwürdigen Bild der überragenden, fest in sich geschlossenen Persönlichkeit von Carl Gottfried Neumann einige Züge beizutragen, die sich mir in langjährigem, freundschaftlichem Verkehr eingeprägt haben.

Ein allseitiges Bild seiner reichen Natur kann ich an dieser Stelle nicht geben. Es ist ja auch schon mehrfach sorgfältig dargelegt worden, was die Wissenschaft ihm verdankt. [z. B. von F. Lindemann (Jahrbuch der Bayr. Akademie d. W. 1924/25, 41–45). O. Hölder, Berichte der Sächs. Akademie, math.-nat. Klasse 78, 1925 und Math. Ann. Bd. 96.] Das soll nicht wiederholt werden; ebensowenig die Umrisse seiner erfolgreichen Laufbahn.

Dem mir so nahestehenden Führer zur Mathematik, dem getreuen Mentor, dem wohlwollenden alten Freund meines Vaters seien diese Zeilen gewidmet.

Als mein Vater, den die Geschichte der Philosophie unter den Anführern der Neu-Kantianischen Bewegung nennt, sich in Tübingen habilitiert hatte, fand er in C. Neumanns Vorlesungen den bis dahin vergeblich gesuchten Weg, sich in die Mathematik einzuleben. Sorgfältig ausgearbeitete Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung, Mechanik und mechanische Wärmetheorie zeigen deutlich, daß Otto Liebmann eine für die damalige Nach-Hegelianische Zeit seltene mathematische Durchbildung erwarben von der seine Werke Zeugnis ablegen. Die tiefbegründete Achtung und Begeisterung meines Vaters wiesen einst auch mir den Weg, als ich 1892 in Leipzig mit dem Studium begann. C. Neumann widmete mir einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner reichbesetzten Zeit und hat, mich persönlich in die Grundlagen der Differential- und Integralrechnung eingeführt, an einer Fülle von Aufgaben die Handhabung des Werkzeuges mich erlernen lassen.

Nach Felix Kleins glänzend anregendem Wirken in Leipzig, das ja nur wenige Jahre währte, waren im übrigen damals an der sächsischen Universität in puncto Lehre manche Schwierigkeiten entstanden. Adolf Mayer sprach glatt aber unnahbar wie ein Buch, Wilhelm Scheibner überschüttete die Zuhörer mit einer Fülle von (Seite 175) Rechnungen, die wohl seine große Geschicklichkeit bewiesen, seine eminente Begabung für numerisches und formales Rechnen, denen aber nur ein Schnellschreiber folgen konnte; der große Nordländer Sophus Lie, mehr auf die Entwicklung seines Programms als auf pädagogischen Aufbau der Vorlesungen bedacht, konnte nur auf einen engeren hochentwickelten und stark auf ihn abgestimmten Zuhörerkreis erfolgreich wirken, dabei von Friedrich Engel und Georg Scheffers bestens unterstützt, die sich noch ein breiteres Vorlesungsprogramm erarbeiteten.

Von den vier ordentlichen Professoren der Mathematik war jedenfalls Neumann der einzige, der dem Lernbedürfnis des großen Zuhörerkreises voll entgegenkam. In der Tat, wenn er im mystischen Halbdunkel, das das Oberlicht in der Arena des amphitheatralischen Czermakianums, des damaligen mathematischen Auditoriums in der Brüderstraße, spendete, eindringlich, oft weihevoll seine tiefe Bruststimme erhob, wenn seine tiefliegenden hellen Augen aus dem von Denkerfalten durchfurchten, von wallendem Haar umrahmten würdevollen Antlitz bald in visionäre Fernen blickten, bald die Zuhörer zu voller ernster Mitarbeit zu mahnen schienen und dann wieder in stolzer Freude über einen eleganten Beweis lächelten —, da erschien er schwärmender Jugend wohl als ein Priester hohen Wahrheitsdienstes, berufen wie keiner, zu den Pforten höchster Erkenntnis sicheres Geleit zu geben.

Das soll früher anders gewesen sein, die berühmte „Neumannsche Klarheit“ soll ihm erwachsen sein aus der Erkenntnis, daß seine ersten Vorlesungen über die Köpfe der Zuhörer hinweg gingen. Dann aber hielt er es für seine Pflicht, auch weniger regsamen Hörern Liebe und Einsicht zu wecken, ja, die Glätte und scheinbare Selbstverständlichkeit fast zu übersteigern. Er selber sagte zu mir einmal: „Ich fragte gelegentlich einen Zuhörer, ob er denn überzeugt sei, daß ich bei einem gewissen Gegenstand die Behandlung streng durchgeführt habe. Die mir gar nicht willkommene Antwort lautete: ‚Herr Professor, wenn Sie etwas sagen, dann ist sicher alles richtig!‘“ — In der Tat kam es vor, daß ein kleiner Irrtum nicht bemerkt wurde. So erzählte mir Hermann Grassmann d. J., daß Neumann bei einem synthetischen Beweis von dem falschen Hilfssatz ausgegangen war, daß die vier Höhen eines Tetraeders durch einen Punkt gehen. Er machte den verehrten Meister auf die Irrtümlichkeit der Annahme aufmerksam, und Neumann brachte schon in der nächsten Stunde einen anderen, von dem falschen Hilfssatz unabhängigen Beweis, aber außer Grassmann hatte wohl vorher niemand das Versehen bemerkt.

Ganz anders im Seminar! Da wurde tüchtige und wohlüberlegte Rechenarbeit geleistet, die Neumann sorgfältig nachprüfte, und, so (Seite 176) leicht und lockend der Zufahrtsweg zu den Höben dem Hörer der Vorlesung erschienen war, beim wirklichen Anstieg wurde keine Mühe gespart. Der jetzt vorherrschend« Referatbetrieb lag Neumann fern, wie ja fast allen Forschern jener Generation, die in Werkeinsamkeit schufen. Skizzierende Überblicke lagen ihm ebenso fern wie Andeutungen, hinter denen keine von ihm durchdachten Beweise sich bargen. So traf denn seinen eigentlichen Schülerkreis, soweit es sich um die, freilich durch die Nebenfächer arg bedrängten Schulamtskandidaten handelte, der Vorwurf der Einseitigkeit oft mit Recht.

Daß Neumann bei vielen später durch namhafte Leistungen hervorgetretenen Fachmännern den Trieb zur Mathematik geweckt und belebt hat, steht damit nicht in Widerspruch. (Z. B. erzählt Karl Rohn gern von Neumanns Vorlesungen über Riemannsche Flächen, und bei Hugo von Seeliger hat Neunann nachhaltiges Interesse für Prinzipienfragen der Mechanik erweckt.) Eigentliche Schüler auf seinem Spezialgebiet sind indessen nicht viele zu nennen. Um so freudiger konnte er auf die Arbeiten von zwei hervorragenden unter ihnen, Arthur Korn uud Ernst Richard Neumann hinweisen.

Mit Vorliebe wählte er die Prüfungsarbeiten ans der Mechanik, aus unmittelbar erfaßten Vorgängen. Ich sehe ihn, wie er ein Talerstück in eine offene Aschenschale (ein Halbellipsoid) legt und das rasche Wackeln beobachtet. Hier den Bewegungsvorgang geometrisch zu ergründen und die kleinen Schwingungen geschickt zu berechnen, eine Verbindung von kinematischer und kinetischer Aufgabe, das war nach seinem Geschmack, der an die von Routh gepflege Richtung anklingt. So wirkte Neumann auch im kleinen im Sinne jenes Bekenntnisses, das er im Nachruf auf Scheibner ausgesprochen hat. Da vergleicht er die Mathematik mit einem Baum, einer Birke oder Eiche, die wohl eine Welt für sich ist, aber des nährenden Bodens bedarf, der Luft, des Regens und des Sonnenscheins. Dieser nährende Boden waren eben mechanische und naturwissenschaftliche Probleme. Und er sagt ausdrücklich: Die Mathematik könne nicht ohne solche Einwirkungen ihren eigenen Weg gehen. Darin würde seiner Ansicht nach eine gewisse Überhebung liegen, die für den weiteren Fortschritt nur verderblich sein könnte.

Für den, neben der rein geistigen Arbeit gepflegten Umgang mit dem Gegenständlichen mag als Beleg die lange Zeit hindurch betriebene Arbeit an der Drehbank angeführt werden.

Mit sehr einfachen Mitteln, Papierröllchen und Drähten, baute Neumann Polyeder, wie er denn überhaupt Freude am Basteln hatte. In dieser liebenswürdigen Betätigung beherrscht er die Jugenderinnerungen (Seite 177) der Kinder seines Bruders Ernst, des bekannten Königsberger Pathologen. Und noch in den höchsten Jahren versammelte er eine aufmerksame engere Gemeinde in seinem Haus, die er an der Hand von Modellen durch Vortrage aus Elementargebieten fesselte. Auch hier nahm er, wie die liebevolle Hüterin seiner Gesundheit und seines behaglichen Heims, die in späteren Jahren zu ihm gezogene Schwester Luise berichtet, die Vorbereitungen sehr ernst und brauchte viele Stunden, um sich didaktisch zurechtzulegen, was er dann so mühelos und selbstverständlich vorzubringen wußte.

Wie seine hohe Berufsarbeit, so war auch die ganze Lebensführung durchaus vom Pflichtgefühl beherrscht. Bei persönlicher Begegnung überwog der Eindruck, einen tiefernsten, weltscheuen, allen Lebensfreuden fremden Gelehrten vor sich zu sehen.

Ein herber Zug hatte sich seinem Wesen auch durch die Erlebnisse seiner Kindheit eingeprägt. Im Alter von sieben Jahren verlor er die Mutter, die ihm die zweite Gattin des Vaters niemals ersetzen konnte; solche Eindrücke haften fürs Leben. Und ihm selber war nur für kurze Zeit das volle Lebensglück beschieden. Seit dem frühen Tod der geliebten Gattin, die er im Hause von Heine in Halle kennengelernt hatte, lebte er lange Jahre fast als menschenscheuer, manchmal leicht verletzbarer Einsiedler, and sogar die notwendige Erholung trug bei ihm den Stempel des plötzlichen harten Entschlusses. Ganz unvermutet führte er Riesenmärsche aus, so daß die alte treue Haushälterin ob der langen Abwesenheit oft in Sorgen geriet. Auch berichtet die Fabel, daß er einmal zur Bekämpfung des Plagegeistes Rheumatismus mit seinem Freund Scheibner einen großen Teil des Anstiegs zum Inselsberg rückwärts gemacht habe. Im Alter von 85 Jahren bestieg er zum letzten Male die geliebte Schneekoppe!

In meiner Leipziger Dozentenzeit begleitete ich den verehrten Altmeister auf so manchen kleineren, immer noch ziemlich ausgedehnten mathematischen Nachmittagswegen, und bei einer improvisierten Ruderpartie auf der Pleiße ließ sich der hohe Siebziger seinen 50%-igen Anteil an der heißen Arbeit nicht nehmen.

Des alternden und doch noch so rüstigen Mannes nahm sich, wie schon erwähnt, in späteren Jahren die getreue Schwester an, mit sanfter Gewalt ihm die angemessenen Gesundheitsrücksichten aufnötigend und mit liebenswürdigem Temperament einen geselligen Kreis um ihn schaffend, der seine angeborenen Kavalierstalente zu einer feinen Spätblüte reifen ließ und sie im behaglichsten Lichte zeigte.

Da erst wurde klar, daß Carl Neumann nicht der weltfremde Gelehrte war, für den er lange Zeit galt, vielmehr ein feinsinniger, (Seite 178) allen Anregungen historischer und literarischer Bildung zugänglicher Vollmensch.

Das sind Lebensäußerungen, die bei der Nachwelt rasch verklingen, die aber im Bilde des hochstehenden Mannes nicht fehlen dürfen.

Was unvergänglich ist, hat Franz Meyer in klare Satze geprägt, die seine Bedeutung, seine Größe festhalten.

Er beginnt seinen Aufsatz, in der Königsberger Allgemeinen Zeitung „Zum neunzigsten Geburtstag von Carl Neumann“ (7, Mai 1922) mit dem kernigen Satz: „In der Neumannschen Familie verkörpern sich augenfällig die echt ostpreußischen Vorzüge, zähe Tüchtigkeit und gewissenhaftes Pflichtbewußtsein. Treten hierzu außerordentliche geistige Anlagen, so muß Großes daraus hervorgehen“, und schließt mit dem Gedenkwort: „Ein hervorragender Gelehrter, von vornehm-schlichter Gesinnung, eine kerndeutsche urkräftige Natur. Nur an solchen kann das deutsche Volk genesen.“

Mögen diese Zeilen dazu beitragen, C. Neumanns dankbaren Schülern die eigenen Erinnerungen zu wecken, und sie veranlassen, dem durch seine eigenen neuen Forschungen und Fortbildungen der Ideen des Oheims wohlbekannten Neffen Ernst Richard Neumann in Marburg ihre Aufzeichnungen, auch Ausarbeitungen der Vorlesungen zur Verfügung zu stellen.

(Eingegangen am 6. 4. 26.)

Quelle:

Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung.
Bd. 36 (1927)
Seite 174 – 178

Letzte Änderung: 04.04.2024     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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