Gustav Robert Kirchhoff.

Helmholtz, Robert von (1862-1889):
Gustav Robert Kirchhoff
In: Deutsche Rundschau. - Jahrgang 14, Heft 5 = 54,2 (1887/88), S. 232-245

Signatur UB Heidelberg: H 279-2::14: 5.1887-88


Am 20. October des eben verflossenen Jahres habe wir auf dem Matthäi-Kirchhofe zu Berlin von Gustav Kirchhoff Abschied genommen. Die Naturwissenschaft hat in ihm einen ihrer mächtigsten Förderer, Deutschland einen seiner schärfsten Denker, die Jugend den allverehrten glänzenden Lehrer verloren, seine Freunde aber betrauern einen Menschen, der im wahren Sinne zu den Guten gehört hat.

Wenn Kirchhoff's Werke seinen Namen auch für immer zu einem unvergeßlichen gemacht haben, und wo Physik gelehrt, auch seiner gedacht werden wird, so war er selbst doch von solcher Bescheidenheit und Einfachkeit, daß seine Person gänzlich zurückgetreten ist hinter der Sache, der er sein Leben geweiht hat, und außer seinen Fachgenossen und denen, die das Glück hatten, ihm selbst näher zu treten, nur Wenige mehr wußten, als daß Gustav Kirchhoff der berühmte Entdecker der Spectralanalyse war. Möge daher einem seiner Schüler ein Versuch verziehen sein, den er selbst nie unternommen hätte, der ihm im Leben sogar peinlich gewesen wäre: ein Bild zu geben seiner Arbeit, nicht in der reinen, abstracten, von allem Irdischen entkleideten Gestalt, in der er sie schuf, sondern in Verbindung mit seinem persönlichen Leben und als Ergebniß seines eigensten Geistes.

Gustav Kirchhoff war Professor der mathematischen Physik. Ich stelle das voran, nicht weil es dasjenige Hauptfactum ist, welches im biographischen Lexikon zu oberst stehen würde, sondern weil die mathematische Physik eine Wissenschaft ist, welcher nur der dienen kann, der für sie geboren ist. Es gibt Berufe im Leben, es gibt Zweige der Wissenschaft, aus denen man nicht schließen kann, weß' Geistes sind, die ihnen angehören. Wer aber gewisse Gebiete abstracter Wissenschaft überhaupt betreten will, muß Fähigkeiten und Anlagen von einer ganz bestimmten Richtung und Natur besitzen, andernfalls wird er nicht einmal die Schwelle überschreiten.

Die reine Mathematik ist eine solche Wissenschaft. Die tägliche Erfahrung lehrt, daß der kleinste Theil der Schüler für sie begabt ist. Schwerer ist zu sagen, auf welchen Potenzen des menschlichen Geistes sie beruht. Mathematik ist Logik, auf Raum- und Zahlengrößen angewendet. Sie braucht daher vornehmlich eine große Gabe der Abstraction und die Fähigkeit der inneren Anschauung von Größenverhältnissen. Jedenfalls ist schon darum, weil die „Technik“ des rein logischen Denkens in so vorzüglichem Maße ausgebildet wird, die Auffassung, Beurtheilung und Darstellung der Dinge durch einen Mathematiker nothwendig eine eigenartige.

Der Naturforscher dagegen braucht noch eine etwas andere Gabe: die der Beobachtung. Jeder, dessen Thätigkeit auf Beobachtung beruht, gehört im weitesten Sinne zu den Naturforschern: der Arzt, der Reisende, der Sammler. Beobachten ist Bemerken und Sammeln des Bemerkten. Je nachdem aber das Princip des Sammelns nach höheren und höheren Merkmalen gewählt wird, nähert sich das Beobachten mehr und mehr dem Denken, das Sammeln dem Erklären, die Naturkunde der „exacten“ Naturforschung. Ihre Jünger arbeiten nicht mehr allein mit der rein ästhetischen Gabe der Beobachtung, sondern auch mit der logischen des Schließens. Sie unterscheiden sich von den Mathematikern hauptsächlich noch dadurch, daß das Material ihres Denkens ein in der Außenwelt gegebenes ist, und sie das Talent haben müssen, es dort zu finden, während die Grundlagen der Mathematik anscheinend a priori gegebene sind. Die Mathematik ist aber darum das bequemste Hilfsmittel der exacten Naturwissenschaft, weil sie diejenige „Sprache“ geworden ist, in welcher diese ihre Schlüsse am schnellsten und präcisesten ausdrücken kann. Darum wird die ganze Naturforschung mehr und mehr mathematisch: die Physik ist, nächst der Astronomie, am weitesten auf dieser Bahn vorgeschritten, die Chemie im Begriff, ihr zu folgen. Derjenige wird also heute im Allgemeinen der größte Physiker sein, welcher Beobachtungsgabe und logische Schärfe des Denkens in gleicher Weise besitzt, Experiment und Mathematik gleichmäßig beherrscht. Je nach dem Vorwalten des einen oder des andern, wird in diesem Wettstreite der Kräfte der Platz des einzelnen Forschers näher an den Naturbeobachtern oder an den Naturdenkern liegen. Beide sind unentbehrlich, das Selterene ist das Letztere; denn es gibt immer noch mehr gute Beobachter als gute Denker. Gustav Kirchhoff gehört seiner Natur nach mehr zu den großen Denkern, und doch ist seine berühmteste und größte Entdeckung eine beobachtete. Schon darum ist er der größten Naturforscher einer, weil er „mathematischer Physiker“ in diesem Sinne war.

Auch das Leben Kirchhoff's war das eines Denkers. Nicht hat er die Erde bereist und die Natur in dem glänzenden Kleid ihrer tausendfältigen Schöpfungen beobachtet, wie es Humboldt und Darwin thaten, nicht auch ist er durch die Schule des rein praktischen Lebens zur Theorie hindurchgedrungen, wie etwa Faraday oder Siemens. Auch nicht im Strudel der historischen und socialen Ereignisse seiner Zeit ist sein Leben verlaufen. Still in den äußerlich ruhigen, aber geistig um so regsameren Stätten der Wissenschaft, in den Hörsälen und Laboratorien einiger deutschen Universitäten hat er seine ganze Arbeit vollbracht. Hierhin und in Gedankenkreise, die den Interessen des Tages fern liegen, muß ihm folgen, wer ihn kennen lernen will.

I.

Kirchhoff ist 1824 als Sohn eines Juristen in Königsberg geboren und in der „Stadt der reinen Vernunft“ auch aufgewachsen. Laut Zeugniß des Kneiphöf'chen Gymnasiums wollte er sich der Mathematik widmen, welches Studium er auch unter Richelot's und des älteren Neumann Leitung wirklich begann. Dieser letztere, der — ursprünglich Mineraloge — allmälig einer der großen Mitbegründer der heutigen mathematischen Physik geworden ist, hat auf Kirchhoff bestimmenden Einfluß gehabt, so daß der Schüler sich ebenfalls der Physik zuwandte und auch im Speciellen das Gebäude des Lehrers weiter ausbauen half. Noch als Student schrieb Kirchhoff, 1845, eine vorzügliche Arbeit („Ueber den Durchgang eines elektrischen Stromes durch eine kreisförige Platte“), in Folge deren er ein Stipendium für eine wissenschaftliche Reise nach Paris erhielt. Durch die Unruhen des Jahres 1848 wurde er jedoch in Berlin aufgehalten, blieb und habilitirte sich daselbst für mathematische Physik. Eigenthümlicher Weise ist das erste Colleg des Lehrers, der später Hunderte mit größter Regelmäßigkeit an sich fesselte, nicht zu Stande gekommen. Die mathematische Physik erschien eben damals noch als ein sehr abstractes, abgelegenes Gebiet. Im Jahre 1850 ging Kirchhoff schon als außerordentlicher Professor nach Breslau, 1854 als „Ordinarius der Physik“ nach Heidelberg, hat also die sogenannte akademische Carriere in normalster Weise durchlaufen.

Die Blüthezeit seines Lebens waren die zwanzig Jahre, die Kirchhoff in Heidelberg gelebt und gelehrt hat. Sie fielen zugleich zusammen mit der Glanzepoche dieser schönsten der deutschen Universitäten, und Kirchhoff hat selbst ein großes Stück zur Erhöhung und Erhaltung ihres Rufes beigetragen.

Als nämlich Kirchhoff nach Heidelberg kam, nahm die dortige Universität durch den Ruhm ihrer juristischen und historischen Lehrer unbestritten den ersten Rang in Deutschland ein. A. v. Vangerow übte durch seine berühmten Vorlesungen über Pandekten eine unvergleichliche Anziehungskraft aus; daneben wirkten Männer wie Mittermaier, Renaud, Mohl; die Historiker Schlosser, Weber, Gervinus, Häusser sind weltbekannt. Durch sie wurde das Niveau nicht nur des wissenschaftlichen, sondern auch des gesellschaftlichen Lebens ein so hohes, daß Allen, die daran Theil genommen, jene Tage in unvergeßlicher Erinnerung geblieben sind. Um Häusser insbesondere hatte sich ein Kreis gebildet, der, ursprünglich aus politischen Zwecken erwachsen, die Stätte einer bezaubernden, heiteren Geselligkeit wurde. Von der Seite der Naturwissenschaften gehörte der Vorgänger Kirchhoff's Jolly, der Anatom Henle, der Kliniker Pfeuffer dazu, und Bunsen, der 1852 schon als berühmter Mann nach Heidelberg kam, wurde eines der hervorragendsten Mitglieder.

Robert Bunsen, dessen Freundschaft mit Kirchhoff in der Geschichte der deutschen Wissenschaft ebenso epochemachend geworden ist, wie die zwischen Gauß und Weber, hatte Kirchhoff in Breslau kennen gelernt. Seinem Einfluß war es zu danken, daß dieser nach Heidelberg berufen wurde.

Im weiteren Publicum wußte man damals so gut wie nichts von Kirchhoff; seine Berliner und Breslauer Arbeiten waren als streng theoretische nur von Fachgenossen zu würdigen. Man war daher in Heidelberg erstaunt, als — von Bunsen warm empfohlen — ein zart gebauter, ungewöhnlich junger, sehr bescheiden, fast schüchtern auftretender, Norddeutscher kam. Sein feines geistvolles Gespräch, sein liebenswürdiges, gegen Alle gleich höfliches und freundliches Wesen und sein ausgesprochener Sinn für Humor und Witz, gewannen ihm aber bald die Herzen derer, die ihm als Menschen näher traten. Kirchhoff wurde daher ein allbeliebter Theilnehmer an den heiteren Zusammenkünften jenes Kreises der Häusserschen Freunde. Vor allem aber schloß er sich in jener ersten Heidelberger Zeit eng an Bunsen an. Bunsen war dreizehn Jahre älter als Kirchhoff: stark, breitschultrig, seinem Temperament nach lebhafter, unmittelbarer wirkend, eine Jedem sofort imponierende volle Natur. Die beiden Männer waren somit in äußeren Eigenschaften sehr verschieden von einander. Trotzdem ist Thatsache, daß Bunsen und Kirchhoff nicht nur gemeinsam ihre großen Werke vollendet, sondern auch als echte Freunde ihr tägliches Junggesellenleben fast völlig getheilt haben. Zusammen machten sie ihre Spaziergänge in der herrlichen Umgebung Heidelbergs; sie reisten zusammen in den Ferien, und zusammen konnte man sie oft Abends in dem kleinen Heidelberger Theater sitzen sehen, ein Vergnügen, für das insbesondere Kirchhoff von Jugend auf eine ausgeprägte Vorliebe besaß.

Das Zusammenleben mit Bunsen wurde selbst dadurch, daß Kirchhoff sich Ende der fünfziger Jahre mit der jungen und anmuthigen Tochter seines Königsberger Lehrers Richelot verheirathete, weniger unterbrochen, als es sonst wohl der Fall zu sein pflegt. Sind doch die Jahre 1859–1862 gerade diejenigen, in welchen die beiden Forscher, veranlaßt durch eine Bunsen'sche Untersuchung, ihre gemeinsame große Entdeckung der Spectralanalyse gemacht und ausgearbeitet haben.

Anfang der sechziger Jahre bezog Kirchhoff zugleich mit dem Vater des Verfassers den neuerrichteten „Friedrichsbau“, das erste größere Institut Deutschlands, welches allein für naturwissenschaftliche Zwecke bestimmt war. Es war das ein äußeres Zeichen davon, daß sich der Schwerpunkt der Heidelberger Universität allmälig von der juristisch-historischen nach der philosophisch-naturwissenschaftlich-medicinischen Seite hin verschob. Der Philosoph Zeller, die Mathematiker Hesse, später Königsberger, der Chemiker Kopp, der Kliniker Friedreich, mein Vater als Physiologe waren berufen worden. Der Friedrichsbau wurde eine Art Nebenuniversität. In diesem Hause habe ich meine Kindheit verlebt; das Kirchhoff'sche Heim ist mir daher mit dem darunterliegenden der eigenen Eltern und dem ganzen Friedrichsbau zu einem Erinnerungsbilde verbunden. Große Hörsäle und Sammlungen mit räthselhaften „-ologischen“ Namen, ausgestopfte Thiere, chemische und anatomische Gerüche, akustische Töne, dann Scharen von Studenten — darunter auch russische Studentinnen —, welche in regelmäßigen Zwischenpausen zum Aerger der Kinder die Corridore und Höfe überschwemmten, wenn sie zu den verschiedenen Vätern ins Colleg gingen, das sind so einige von den Eindrücken, die mir jene Zeit hinterlassen hat.

Kirchhoff hat dort sehr glückliche Jahre verlebt. Sein Name war durch die Entdeckung der Spectralanalyse schon berühmt, sein Laboratorium und seine Vorlesungen daher die gesuchtesten geworden. Mit seiner Gattin, seinen vier Kindern und seinen näheren Freunden führte er ein zufriedenes, gesellig heiter angeregtes Leben.

Leider aber endete dieser nach allen Seiten hin glückliche Zustand für Kirchhoff schon gegen Ende der sechzigr Jahre. In Folge eines Falles auf der Treppe zog er sich ein Fußleiden zu, welches ihn zwang, lange Zeit sich nur im Rollstuhl oder an Krücken zu bewegen. Erst in Berlin erlangte er nach mehrfachen Rückfällen seine volle Gehfähigkeit wieder, aber ganz gesund ist er später eigentlich nur noch ausnahmsweise geworden. Zur selben Zeit verlor er seine Frau, und sein Familienleben fiel auseinander. Viele seiner Freunde, Häusser, Vangerow starben, andere, wie Zeller und mein Vater, wurden nach Berlin berufen. Aber persönliche Schicksalsschläge konnten wohl sein Leben, nicht aber seine Arbeit treffen. Seinen Beruf als Lehrer und Forscher hat er unter den schwersten Bedingungen und nach den bittersten Erfahrungen mit stoischeer Pflichttreue und eiserner Consequenz durchgeführt. Seine Person und seine Wissenschaft sollten nichts mit einander gemein haben.

Später hat sich Kirchhoff noch einmal verheirathet mit Luise Brömmel, der damaligen Oberin der Universitäts-Augenklinik. Durch seine unverwüstlich heitere und liebenswürdige Natur ist auch diese zweite Ehe trotz seiner vielfachen Kränklichkeit eine sehr glückliche gewesen.

Im Jahr 1875 nahm Kirchhoff einen Ruf an die Akademie der Wissenschaften und die Universität von Berlin an, nachdem er es früher abgelehnt hatte, Director der zu erbauenden Sonnenwarte in Potsdam zu werden.

Ob das Berliner Leben für den Gelehrten im Allgemeinen ein Glück ist, möchte sehr zu bezweifeln sein. Der Lehrer gewinnt freilich ein größeres, reicheres Feld der Thätigkeit, dem Forscher jedoch wird um so mehr Zeit entzogen. Kirchhoff aber hat zum Theil in Folge seiner Kränklichkeit von dem Treiben der Hauptstadt wohl nicht viel empfunden. Er hat gearbeitet wie sonst; wie sonst ist durchschnittlich alljährlich ein Aufsatz von ihm in den Berichten der Akademie erschienen, und auch experimentelle Arbeiten hat er im Laboratorium seines Freundes G. Hansemann ausgeführt. Dieser war es, der nach der nunmehr dauernden Trennung von Bunsen Kirchhoff's Herzen als treuer Mitarbeiter und Freund am nächsten trat.

Kirchhoff's liebste, schönste und zugleich in ihrem Erfolg einzig darstehende Thätigkeit in Berlin war aber seine Vorlesung über mathematische Physik. Sein Vortrag fesselte jeden sofort durch die äußerliche Eleganz und Präcision der Darstellung. Kein Wort zu wenig, kein Wort zu viel; nie kam ein Irrthum, eine Unklarheit, ein Schwanken im Kleinsten vor. Bewunderswerth war auch die Eleganz der Rechnung — eine dem Laien schwer zu definirende Eigenschaft. Der ganze Stoff baute sich vor dem Zuhörer in Gestalt eines ungemein kunstvollen, classisch formvollendeten logischen Fachwerkes auf, in welchem jeder Theil sich streng aus dem andern ergab, so daß es einen geradezu ästhetischen Genuß gewährte, den Kirchhoff'schen Deductionen zu folgen. Demgemäß mußten Kirchhoff's Vorlesungen, obgleich sie innerlich zu den schwierigsten gehörten, Jedem, auch dem Unbegabtesten, in sich verständlich sein, vorausgesetzt natürlich, daß er das Werkzeug, die mathematische Sprache kannte. Es konnte vorkommen und ist thatsächlich oft vorgekommen, daß einer das Gebotene nicht einzuordnen wußte, nicht begriff, warum und zu welchem Zwecke Kirchhoff gerade so und nicht anders deducirte; aber dem Gedankengang folgen, ihn nachdenken und richtig wiedergeben, mußte Jeder können. So paradox es klingt, wäre es daher nicht unmöglich, ohne Kirchhoff je eigentlich verstanden zu haben, seine Vorlesung nach der Niederschrift als vorzügliches Buch herauszugeben. In dieser Eigenschaft der Kirchhoff'schen Dialektik, der absoluten Klarheit und Geschlossenheit in sich, lag wohl ein großer Theil seines Erfolges als Lehrer.

Neun Jahre hat Kirchhoff in Berlin seine Vorlesungen ununterbrochen halten können. Aber mehr und mehr konnten wir, seine Hörer, bemerken, welche Anstrengung sie ihm verursachten, und wie er den letzten Rest seiner Kräfte aufbieten mußte, um sich aufrecht zu halten. Nichtsdestoweniger war er nach wie vor auf die Secunde pünktlich, und nicht im Leisesten hat sich je der Charakter des Vortrags verändert. Endlich (1884) verboten ihm die Aerzte das Lesen; er hat diese seine liebste Beschäftigung zwar noch einmal vorübergehend aufgenommen. Indessen wurde es klar, daß es Nervenlähmungen seien, die seine Bewegungsfähigkeit hinderten, und Kirchhoff allmälig ganz an das Haus, an den Rollstuhl und die treue Pflege seiner Familie anwiesen.

Stets gleich heiter und freundlich konnte man ihn in den letzten zwei Jahren auf seinem Lehnstuhle sitzen sehen, mit regem Interesse allen Fragen folgend. Nie, nicht ein einziges Mal, ist eine Klage über seine Lippen gekommen, und doch muß er selbst sich seiner abnehmenden Kräfte bewußt gewesen sein. Der Tod, der ganz unerwartet und sanft während des Schlafens eintrat, hat ihn gerade noch rechtzeitig erlöst, um schlimmeren Lähmungen vorzubeugen.

In ihm ist das Vorbild eines echten deutschen Forschers dahingegangen. Die Wahrheit in ihrer reinsten Gestalt zu suchen und mit fast abstracter Selbstlosigkeit zum Ausdruck zu bringen, war die Religion und das Ziel seines Lebens. Die Wissenschaft wurde einzig und allein um ihrer selbst willen geliebt und gefördert, jedes noch so kleine Ausschmücken oder Hinausgehen über logisch Bewiesenes wäre ihm als Profanation, — Vermengung mit persönlichen Motiven oder gar Streben nach Ehren und Gewinn geradezu als verwerflich erschienen. Und wie in der Wissenschaft führte er auch im Leben das, was er als seine menschliche, bürgerliche oder amtliche Pflicht erkannt hatte, mit logischer Rigorosität, entkleidet von jedem persönlichen Beweggrund, durch. Aber die Erkenntniß des Guten allein macht den Menschen noch nicht zu einem Guten, auch noch nicht der Wille und die Macht, es auszuführen. Erst Kirchhoff's Herzensgüte und Menschenfreundlichkeit, die, wenn auch nicht expansiv und eigentlich warm im Ausdruck ihrer Gefühle, doch um so echter und reiner waren, haben ihn zu dem treuen Freunde, dem selbstlosen Mitarbeiter, dem hilfsbereiten Lehrer, dem neidlos anerkennenden Beurtheiler fremden Verdienstes, kurz zu dem Menschen gemacht, den wir Alle in ihm liebten. Es liegt mir ein sehr hübsches Beispiel vor, wie er für Jeden, auch den niedrigsten seiner Mitmenschen, soweit er konnte, stets freundlich und hilfsbereit war. Ein armer Handwewrker — viele würden ihn geisteskrank nennen — wendet sich brieflich an Kirchhoff um Aufklärung über „pessimistische Zweifel“, die ihn quälen. „Davon kann mir aber weder Arzt noch Priester oder auch sonst ein materialistisch gesinnter Egoist helfen, sondern nur ein wahrhaftig wissenschaftlich Gebildeter, selbst Forscher und Denker, der sich nicht zu hoch dünkt, einem seiner Mitmenschen, der durch Geburt und Umstände nicht auf derselben Stufe steht wie er, opferfreudig seine Ueberzeugung rücksichtslos zu offenbaren. … Wenn man sagt, ich sei Arbeiter und hätte mich um solche Angelegenheiten nicht zu kümmern, so erwidere Ich, daß nicht alle Menschen gleich sind, daß es in allen Menschenclassen Einzelne gibt, die nicht bloß leibliche, sondern auch geistige Bedürfnisse haben. Denn alle Wissenschaften, die wir können (!), sind auch nicht von den Gelehrten ausschließlich entwickelt“. … u.s.f. Mancher Andere hätte den Brief des Arbeiters einfach ad acta gelegt; Kirchhoff hat ihm aber eine, wie das Concept zeigt, genau überlegte Antwort geschrieben, u.a.: „Daß es solche Grenzen (der naturwissenschaftlichen Erkenntniß) gibt, muß ein gesunder Geist ertragen lernen, der Gelehrteste muß es so gut als der Arbeiter. Ich kann Ihnen daher nur rathen, daß Sie aufhören möchten, Unmögliches zu erstreben und mit dem Verstande Dinge begreifen wollen, die nicht begreiflich sind. Das erfordert freilich einen Kampf; einen ähnlichen Kampf haben aber viele Menschen aus den verschiedensten Berufskreisen zu bestehen. Die beste Hilfe bei demselben gewährt es, wenn man sich ernstlich bemüht, sich ganz der Arbeit hinzugeben, die einem zugefallen ist, und die Pflichten des Platzes zu erfüllen, auf den man gestellt ist.“ Ja, Kirchhoff selbst hat wahrlich die Pflichten des Platzes erfüllt, auf den er gestellt war. Er war wirklich „der hochedle Geist, frei von allem egoistischen Scheinwesen“, den jener Arbeiter suchte. Wir aber können uns nur fragen, ob wir mehr die Größe des Geistes oder die des Willens bewundern sollen, die ihn so hoch hinweg hob über das, „was uns Alle bändigt, das Gemeine.“

II.

Wir haben Gustav Kirchhoff zu schildern versucht, wie er uns Lebenden erschien, als Mensch, als Lehrer. Seine Werke, die ihn überdauern werden, wird in ihrem vollen Werthe erst die Nachwelt beurtheilen können. Uns, seinen Schülern, ziemt es nur, auch den nicht der Physik Angehörigen, soweit es möglich ist, zum Bewußtsein zu bringen, was Alles diese Wissenschaft ihm verdankt.

Unwillkürlich geschieht es in solchen Fällen, daß man das Hauptgewicht legt auf die praktischen Ergebnisse der Arbeiten, daß man die Folgerungen daraus anführt, welche etwa für die Technik, die Industrie von Einfluß waren. Bei den Kirchhoff'schen Arbeiten aber muß man sich hüten, in dieser Weise das Urtheil zu lenken, weil erstens der Hauptwerth vieler seiner Aufsätze nicht in den Folgen, sondern in der Methode liegt; zweitens eine solche Betrachtungsweise seinem eigenem Geist direct zuwiderlaufen würde. Kirchhoff selbst hat nie gefragt: „Wozu nützt dein Forschen?“ Was er darstellen wollte, hat er dargestellt rein sachlich und so allgemein als möglich, ohne auf Nebenzwecke je hinzuweisen. „Ich glaube das und das gefunden zu haben und erlaube mir, im Folgenden den Beweis zu geben.“ So beginnt er seine meisten Aufsätze. Dem äußeren Umfang nach hinterläßt Kirchhoff weniger, als man vielleicht erwartet. In einem mäßig starken Bande sind gegen vierzig Aufsätze, die er in vierzig Jahren productiver Thätigkeit verfaßt hat, gesammelt. Außerdem hat er einen Bericht über seine „Untersuchungen über das Sonnenspektrum und die Spectra der chemischen Elemente“, und einen Band „Vorlesungen“ über Mechanik herausgegeben; letzteres wohl sein reifstes und vollendetstes Werk.

Welche immense Gedankenarbeit ist aber in der kürzesten Form zusammengedrängt! Kirchhoff's Stil ist eben, wie sein Vortrag war, das Muster von knappster Diction, ein für sein Gebiet absolut classischer. Wie in Stein gehauen stehen die Worte da, jedes an seiner Stelle, keines, dessen genauester logischer Umfang nicht überlegt wäre; in wenigen Zeilen ist zusammengefaßt, worüber Andere Seiten schreiben würden; nur wenn vorhandene Worte ihm nicht präcise genug scheinen, umschreibt und definirt er, und zwar dann mit Vorliebe in mathematischer Ausdrucksweise. War er doch unter jenen der Erste, die danach gestrebt haben, aus der exacten Wissenschaft jede Unklarheit, jede subjective Beurtheilung oder gar jede Phrase zu entfernen. Der Einfluß solchen Strebens wird weit hinausgehen über die Grenze der engeren Wissenschaft.

Kirchhoff's populärstes Werk ist die Spectralanalyse. Sie hat in der That außerordentliche Folgen handgreiflichster Art gehabt, ist von größter Wichtigkeit für alle Zweige der Naturwissenschaft geworden, hat das Erstaunen und die Phantasie der Menschen erregt, wie selten eine Entdeckung, weil sie Einblick verschafft hat in Welten, die uns für immer verschlossen schienen. Sie ist deshalb die berühmteste Leistung Kirchhoff's geworden.

Aber so wunderbar ihre Ergebnisse auch sind, so scheint uns noch viel größer und bewundernswerther die wahrhaft meisterhafte Arbeit selbst, die ungemein scharfsinnige, zugleich geniale und fleißige Art, wie Kirchhoff aus der zufälligen Beobachtung allmälig ein allgemeines theoretisches Gesetz und daneben jene überraschenden Consequenzen gleich von vornherein mit voller Strenge und Sicherheit folgerte und bewies. Große Männer vor ihm hatten schon die Fäden dieser Entdeckung in der Hand gehabt, ohne sie entwirren zu können. Franzosen und Engländer machten und machen noch heute Prioritätsrechte geltend. Kirchhoff hat sie ruhig, aber entschieden zurückgewiesen. Alle hatten Etwas gesehen, geahnt, als möglich oder wahrscheinlich vermuthet — ohne daß es Kirchhoff übrigens damals wußte. Eine sichere Grundlage, einen strengen Beweis hatte Keiner geliefert; erst der Schärfe, Gründlichkeit und Ausdauer der deutschen Forscher war es vorbehalten, den glücklichen Einfall zum Range sicheren Wissens zu erheben.

Die Spectralanalyse im engeren Sinne, d.h. die „Analyse der chemischen Elemente durch Spectralbeobachtung“ ist, wenn man überhaupt unterscheiden will, wohl Bunsen's Idee und Veranlassung zu verdanken. Zu den genialsten Arbeiten Bunsen's gehören gewisse sehr einfach physikalische Methoden der qualitativen chemischen Analyse, d.h. der Erkennung und Unterscheidung der chemischen Stoffe. Als charakteristischste Reaction dieser Art hatte er die Färbung von nichtleuchtender Flammen erkannt. Jedes chemische Element in geeigneter Weise in einer nichtleuchtenden Flamme, z. B. einer blaubrennenden Gasflamme verflüchtigt oder verbrannt, verleiht dieser letzteren eine ganz bestimmte, nur ihm eigenthümliche Färbung. Wir würden also im Stande sein, jede Substanz an dem Lichte zu erkennen, welches ihr glühender Dampf aussendet, wenn unser Auge fähig wäre so zahlreiche Farbenunterschiede zu trennen, wie es Stoffe in der Natur gibt. Kirchhoff und Bunsen kamen aber dem Auge zu Hilfe, indem sie das Licht der Flammen durch ein Prisma in seine einzelnen Bestandtheile, seine einzelnen Farben zerlegten. Auf diese Weise entsteht das Spectrum des Flammenlichts. Der Regenbogen ist ein durch die Regentropfen entworfenes natürliches Spectrum des Sonnenlichtes. Aber dieses, wie überhaupt das Spectrum aller glühenden festen Körper, bietet einen ganz andern Anblick, als dasjenige der Flammen, d. h. glühender Gase. Jenes besteht aus den bekannten allmälig, „continuirlich“ in einander übergehender Farben, dieses aus lauter einzelnen hellen Linien, die getrennt von dunklen Zwischenräumen nicht nur ganz charakteristische Farben besitzen, sondern auch in ganz bestimmten, für jedes Element eigenthümlichen Lagen und Abständen zu einander stehen. Wie wir die Sternbilder nach der gegenseitigen Lage und vrschiedenen Helligkeit der einzelnen Sterne erkennen, so unterscheiden wir das Spectrum des Eisens von dem des Kupfers an der gegenseitigen Entfernung und dem Farbencharakter seiner Linien. Ja, wir könnten die Farben ganz entbehren: es würde genügen, mit dem Maßstab abzumessen, wo die einzelnen Linien liegen, um aus Kirchhoff's und Bunsen's Tabellen zu erfahren, mit welchem Element wir es zu thun haben. Wunderbar ist es, aber wahr: ein total Farbenblinder könnte auf diese Weise mit absoluter Sicherheit erkennen, welche Farben eine Flamme aussendet! Der größte Vorzug einer naturwissenschaftlichen Methode, die Unabhängigkeit von subjectiver Beurtheilung, ist der Spectralanalyse durch ihre Entdecker gegeben worden. Die Hauptarbeit jedoch und das Hauptverdienst Kirchhoff's und Bunsen's war, den Beweis der Zuverlässigkeit der Methode geführt, d. h. bewiesen zu haben, daß die Lage der Linien wirklich nur abhängt von der chemischen Natur des lichtaussendenden glühenden Dampfes, nicht aber von seiner Temperatur, von mit ihm vermengten andern Stoffen, von der Natur der Flamme, in welcher er glühte, und anderen Nebenumständen. Dieser Beweis wurde sorgfältig und mit großer Mühe experimentell gegeben, und Bunsen konnte daher schon sehr früh die sichere Behauptung aussprechen, spectralanalytisch ein neues Element entdeckt zu haben, weil das Salz einer gewissen Mineralquelle unbekannte Linien zeigte. Heute ist die empfindlichste chemische Analyse die durch Spectralbeobachtung.

Und doch ist viel erstaunlicher, was auf Grund dieser mit Bunsen begründeten Methode von Kirchhoff weiter gefunden wurde. Kirchhoff ließ nämlich einst halb zufällig einen Sonnenstrahl zuerst durch eine mit Natrium gefärbte Flamme, dann durch ein Prisma gehen, so daß die Spectra der Sonne und der Flamme übereinander fielen. Es war zu erwarten, daß die bekannte gelbe Linie des Natiums sich hell vom Sonnensprectrum abheben würde; aber gerade das Gegentheil trat ein: genau an derselben Stelle, wo die helle Linie sich hätte zeigen müssen, erschien eine dunkle Linie. Kirchhoff war diese „Umkehrung der Natriumlinie“ sofort im höchsten Grade merkwürdig, und gleich vermuthtete er, daß ein grundlegendes Gesetz dahinter stecken müsse. Die Thatsache selbst hatten, wie sich später herausstellte, schon Andere beobachtet, und zwar Männer berühmtesten Namens. Den Schatz von neuen Wahrheiten indessen, welcher darin verborgen lag, zu ahnen und zu heben, ist nur dem Genius Kirchhoff's gelungen. Am Tag nach jenem Experiment vermochte er bereits das beobachtete Phänomen herzuleiten und zu erklären aus einem viel allgemeineren Princip, welches merkwürdigerweise gar nicht der Optik, sondern der Wärmelehre angehört. Aus dem scheinbar ganz fernliegenden Satz, daß Wärme nur übergeht von einem Körper höherer Temperatur zu einem Körper niederer Temperatur und nicht umgekehrt, folgerte er durch rein logische Schlüsse die Thatsache der „Umkehrung der Natriumlinie“. Das Zwischenglied der Schlußfolgerung bildet das berühmte „Kirchhoff'sche Gesetz über die Emission und Absorption der Körper für Licht und Wärme“, welches aussagt, daß alle Körper gerade diejenigen Strahlen, diejenigen Farben vornehmlich absorbiren, die sie selbst aussenden, und daß das Verhältniß zwischen der absorbirten und der ausgesendeten Lichtmenge bei allen noch so verschiedenen Körpern ein und dasselbe ist. Der Aufsatz, worin dieses bewiesen wird, ist wohl der schönste, den Kirchhoff geschrieben hat, obgleich er am wenigsten Mathematik enthält. Die Geschichte dieses Gesetzes kann als mustergültig für die Arbeit eines Naturforschers gelten: das Gesetz ist streng gefolgert aus bekannten allgemeineren Sätzen; das Gesetz sagt selbst Neues aus; das Gesetz ergibt die verschiedensten speciellen Folgerungen, welche durch das Experiment bestätigt werden können. Wenigen wird es beschieden sein, solche Entdeckungen zu machen; aber Alle sollten sich ein Beispiel nehmen an dem Fleiß, der Folgerichtigkeit und Sorgfalt, und nicht am Wenigsten an der wahrhaft großen Bescheidenheit Kirchhoff's, mit der er seine Entdeckung der Berliner Akademie mitteilte: „Bei Gelegenheit einer von Bunsen und mir in Gemeinschaft ausgeführten Untersuchung über die Spectren farbiger Flammen, durch welche es uns möglich geworden ist, die qualitative Zusammensetzung complicirter Gemenge aus dem Anblick des Spectrums ihrer Löthrohrflamme zu erkennen, habe ich einige Beobachtungen gemacht, welche einen unerwarteten Aufschluß über den Ursprung der Fraunhofer'schen Linien geben und zu Schlüssen berechtigen, von diesen auf die stoffliche Beschaffenheit der Atmosphäre der Sonne und vielleicht auch der helleren Fixsterne.“ Diese Worte zeigen, daß Kirchhoff die überraschende Anwendung seines Gesetzes sofort selbst gezogne hat. Die Fraunhofer'schen Linien, die er erwähnt, sind bekanntlich feine dunkle Streifen, welche das Sonnenspectrum schon an sich, d. h. ohne Zuhilfenahme einer Flamme durchfurchen. Das Wesen dieser Linien war früher vollständig räthselhaft. Kirchhoff's eben beschriebenes Experiment zeigte aber, daß man durch eine Flamme gleichsam künstliche Fraunhofer'sche Linien hervorrufen könne. Der Schluß lag also nahe, daß die natürlichen Linien durch dieselbe Ursache hervorgerufen werden wie die künstlichen, daß sie „umgekehrte“ Gasspectra seien, und daß das Licht des glühenden Sonnenkörpers irgendwo schon durch glühende Gase gegangen sein müsse, ehe es zur Erde gelangt. Es läßt sich aber noch mehr folgern. Wenn die künstlichen Linien mit Fraunhofer'schen zusammenfallen, wie es Kirchhoff z. B. für die Linien des Eisens, des Natriums, des Nickels nachwies, so durfte man auf Grund der mit Bunsen gemachten Untersuchung schließen, daß diese chemischen Elemente auch in jenen supponirten glühenden Gasen enthalten seien. Die Thatsache, daß die Sonne aus einem glühenden festflüssigen Kern bestehe, der von einer Hülle leuchtender Dämpfe umgeben sei, und vor Allem, daß diese diejenigen irdischen Stoffe enthalten, deren Linienspectrum mit Fraunhofer'schen Linien zusammenfällt, diese Thatsache ergab sich mit „einer so großen Sicherheit“, wie Kirchhoff sagt, „als sie bei den Naturwissenschaften überhaupt erreichbar ist“.

Es ist charakteristisch für Kirchhoff, daß er diese Gewißheit zahlenmäßig berechnet hat. Es wäre doch immerhin eine Möglichkeit gewesen, daß z. B. die hellen Linien des Eisens nur zufällig mit Fraunhofer'schen übereinstimmten. Aber die Wahrscheinlichkeit hierfür ergab sich nur = 1 / 1 000 000 000 000 000 000 , d. h. so gut wie Null. „Es muß also eine Ursache geben, welche diese Coincidenzen bewirk,“ sagt Kirchhoff: „Es läßt sich eine Ursache angeben, welche hierzu vollkommen geeignet ist; die beobachte Thatsache erklärt sich, wenn die Lichtstrahlen, welche das Sonnenspectrum geben, durch Eisendämpfe gegangen sind und hier die Absorption erlitten haben, die Eisendämpfe ausüben müssen. Zugleich ist dieses die einzige angebbare Ursache jener Coincidenzen; ihre Annahme erscheint daher als eine nothwendige.“

Hier sei eine Geschichte eingeschaltet, die Kirchhoff selbst gern erzählte. Es wurde die Frage erörtert, ob die Fraunhofer'schen Linien auch die Anwesenheit von Gold in der Sonne ergäben. Kirchhoff's Bankier bemerkte dazu: „Was nützt mich Gold in der Sonne, wenn ich es nicht herunterholen kann?“ Kirchhoff erhielt in Folge seiner Entdeckung eine englische Medaille und deren Goldwerth. Als er diesen dem Bankier brachte, meinte er: „Sehen Sie, da habe ich doch Gold von der Sonne geholt.“

Wie wir aber schon sagten, wäre es für Kirchhoff's eigene Beurtheilung der Wichtigkeit seines Gesetzes vollständig gleichgültig gewesen, ob sich daraus zufällig Etwas über die Natur der Sonne und Fixsterne ergab, oder ob dasselbe vorläufig nur theoretisches Interesse besaß. Es ist ungemein bezeichnend für ihn, daß er in seinen theoretischen Vorlesungen nicht mit einem Worte das ganze große durch eine Entdeckung erschlossene Gebiet erwähnt und es in der Sammlung seiner Aufsätze ganz an das Ende verlegt hat.

Die übrigen Aufsätze Kirchhoff's behandeln die verschiedensten Gegenstände aus der mathematischen Physik. Der Zahl nach die meisten liegen auf dem Gebiet der Elektricitätslehre. Eine Reihe derselben sind der Berechnung der Bahnen gewidmet, welche der elektrische Strom in verschieden geformten Körpern, oder in verzweigten Leitungsnetzen einschlägt. Auch hierüber gibt es ein „Kirchhoff'sches Gesetz“, welches für die Beurtheilung der Stromvertheilung bei den complicirten elektrischen Leitungsanlagen unserer Tage von grundlegender Bedeutung ist. Eine zweite Serie beschäftigt sich mit der Vertheilung der ruhenden Elektricität und des Magnetismus. Es waren das zum Theil berühmte Aufgaben, an denen sich schon die größten seiner Vorgänger, wie Poisson versucht hatten, ohne dieselben doch so vollständig bewältigen zu können wie Kirchhoff.

Er war ferner der Erste, welcher die sogenannte mechanische Wärmetheorie auf chemische Processe anwendete, und hat auch damit eine wichtige Brücke geschlagen zu der immer einheitlicheren Verbindung der verschiedenen Zweige der Naturwissenschaft durch mechanische Principien. Die Grundlage der mechanischen Wärmetheorie, das Gesetz von „der Constanz der Arbeit,“ wie Kirchhoff es nennt, ist nach ihm „unzweifelhaft die wichtigste Erkenntniß, die in unserem Jahrhundert auf dem Gebiet der Naturwissenschaften gewonnen ist“. (Rectoratsrede, Heidelberg 1865.)

Auch die bunten, mannigfachen und scheinbar complicirten Erscheinungen des Lichtes hat Kirchhoff in seiner Vorlesung über Optik aus den rein mechanischen Eigenschaften eines festen elastischen Körpers abgeleitet. Daß nämlich der Lichtäther ein solcher Körper sei, ist eine Hypothese, die zwar schon von Kirchhoff's Vorgängern aufgestellt, aber von ihm selbst in besonders strenger Weise durchgeführt worden ist. Und doch lassen sich nicht alle Erscheinungen durch diese Annahmen erklären. Warum Kirchhoff trotzdem diese und nur diese Hypothese entwickelt und sich begnügt hat, am Schluß der Vorlesung anzuführen, was dagegen spreche, und so in den Augen der Schüler gleichsam das ganze Gebäude wieder einzureißen, das beruht auf seinen innersten Anschauungen über das Ziel und die Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntniß und Lehre.

Damals und in ähnlichen Fällen, gestehe ich, habe ich mir oft die Fragen vorgelegt: „Wozu? Warum eine Theorie entwickeln, die zu Widersprüchen mit der Erfahrung führt? Ist die Natur für Kirchhoff am Ende nur das größte und interessanteste Rechenexempel?“

Zur Beantwortung solcher Zweifel will ich zunächst seine eigenen Worte anführen, welche er 1865 in seiner Heidelberger Rectoratsrede „Ueber das Ziel der Naturwissenschaften“ gesprochen hat. Hier sagt er: „Es gibt eine Wissenschaft, die Mechanik, deren Aufgabe es ist, die Bewegung von Körpern zu bestimmen, wenn die Ursachen, die diese bedingen, bekannt sind. … Die Mechanik ist mit der Geometrie nahe verwandt; beide Wissenschaften sind Anwendungen der reinen Mathematik; die Sätze beider stehen in Bezug auf ihre Sicherheit genau auf gleicher Stufe; mit demselben Recht wie den geometrischen Sätzen ist auch den mechanischen absolute Gewißheit zuzusprechen.“ Und weiter: „Kennte man alle Kräfte der Natur und wüßte man, welches der Zustand der Materie in einen Zeitpunkte ist, so würde man ihren Zustand für jeden späteren Zeitpunkt durch die Mechanik ermitteln und ableiten können, wie die mannigfaltigen Naturerscheinungen einander folgen und begleiten. Das höchste Ziel, welches die Naturwissenschaften zu erstreben haben, ist die Verwirklichung der eben gemachten Voraussetzung, … also die Zurückführung aller Naturerscheinungen auf die Mechanik. Vollständig erreicht wird dieses Ziel der Naturwissenschaft niemals werden; aber schon die Thatsache, daß es als solches erkannt ist, bietet eine gewisse Befriedigung, und in der Annäherung an dasselbe liegt der höchste Genuß, den die Beschäftigung mit den Erscheinungen der Natur zu gewähren vermag.“

Ferner muß ich die berühmt gewordenen Worte citiren, mit welchen Kirchhoff seine 1875 herausgegebene „Mechanik“ beginnt: „Die Mechanik ist die Wissenschaft von der Bewegung; als ihre Aufgabe bezeichnen wir: die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben.“ Der Unterschied zwischen der ersten und der letzten Definition der Mechanik ist beachtenswerth. Dort, damals und vor dem großen Publicum sprach Kirchhoff noch von den „Ursachen“ der Bewegung. Hier, jetzt und in dem streng mathematischen Buche kommt das Wort und der Begriff der „Ursache“ nicht mehr vor. Die Natur-„Erklärung“ wird aufgegeben, und nur eine möglichst einfache Natur-„Beschreibung“ gesucht. Jene Eingangsworte der „Mechanik“ und ihre Durchführung im Buche selbst sind der consequenteste, weitestgehende Ausdruck der Kirchhoff'schen Naturanschauung. Ueber die Möglichkeit der Erkennbarkeit der Dinge an sich macht sie keinerlei Hypothese oder Voraussetzung. Sie will nur in logisch gewisser Form die Erscheinungen abbilden. Logisch, d. h. a priori gewiß, sind nach Kant aber in Bezug auf die Sinnenwelt nur die Sätze der Geometrie und Mechanik, diese von jener sich nur dadurch unterscheidend, daß sie außer den drei Dimensionen des Raumes, noch eine vierte, die der Zeit, und den Begriff der sich bewegenden Materie braucht. Mit diesen drei Grundbegriffen von Raum, Zeit und Materie sucht Kirchhoff in der Beschreibung der Erfahrungsthatsachen auszukommen, und geht insofern über seine Vorgänger hinaus, als er auch die für logische Grundanschauungen gehaltenen Begriffe von „Kraft“ und „Masse“ rein geometrisch schildert. „Kraft“ stellt sich ihm zunächst dar als die Beschleunigung (die Aenderung der Geschwindigkeit), welche ein materielles Theilchen in der Zeiteinheit erfährt; die Kenntniß aller dieser „beschleunigenden Kräfte“ in einem Zeitpunkt würde zur Beschreibung der Welt genügen; es hat sich aber erfahrungsgemäß herausgestellt, daß die Beschreibung an Einfachkeit gewinnt, wenn man die Beschleunigungen noch multiplicirt mit „einer gewissen positiven Constante; diese Constante heißt die Masse „des gewegten Theilchens“.

Ich habe diesen abstracten Gedankengang angeführt, weil er ungemein bezeichnend ist für Kirchhoff. Die Nothwendigkeit, Naturkräfte als etwas wirklich Seiendes aufzufassen, oder die Masse als etwas wirklich Constantes, sich selbst Gleichbleibendes anzusehen, erkennt er nicht an. Es ist lediglich Erfahrungsthatsache, daß die bisher beobachteten Bewegungen der Welt so verlaufen sind, daß sie anscheinend am Einfachsten durch jene Annahmen dargestellt werden. Wir könnten mechanische Systeme auf ganz anderen Grundlagen aufbauen, aber für die Einfachkeit der Beschreibung der wirklichen Bewegungen wäre dadurch nichts gewonnen. Die Aufgabe der mathematischen Physik wäre also gelöst, wenn durch möglichst einfache Annahmen über die Natur der Kräfte und Vertheilung der Massen die beobachteten Erscheinungen beschrieben werden. Unmöglich ist daran nichts, es läßt sich im Gegentheil beweisen, daß Alles, was Menschen in endlicher Zeit je beobachteten, mathematisch beschreibbar sein muß.

Auch der Laie, glaube ich, wird empfinden, daß in dem Kirchhoff'schen Programm Eines nicht ausgesprochen ist. Die „einfachste Beschreibung“ vermag nicht die Ueberzeugung zu verschaffen, daß die Erscheinungen auch künftig noch nach ihr verlaufen müssen; ihre Gleichungen sind, mit anderen Worten, keine Gesetze. Es gibt einen von dem Kirchhoff'schen etwas verschiedenen Standpunkt: er sucht das Gesetzmäßige im Wechsel der Erscheinungen. Die Erfahrung lehrt, daß die Natur nach Gesetzen handelt; denn ohne Gesetze wäre überhaupt Erfahrung unmöglich. Erfahrung ist eben das Sammeln des Gleichartigen in verschiedenen Einzelwahrnehmungen. Daß Gesetze existiren, ist also eine beobachtete Thatsache und keine Hypothese. Wir empfinden dieselben in jedem Augenblick als wirksam und unabhängig von unserem Willen. Wir müssen ihnen also dieselbe Realität zuschreiben wie unserem Willen: sie stehen demselben gegenüber, Macht gegen Macht. Insofern bezeichnen wir sie als Kräfte, und ferner die Kräfte als „Ursachen“ der Bewegungen, die also ebenso wirklich sind, wie diese selbst. Insofern dürfen wir auch die Natur für begreifbar halten. Was eine Kraft ist, wissen wir nicht, sondern können daher nur sagen, daß sie sich äußert in der Beschleunigung, die sie der Masse ertheilt und kommen darum de facto über die Kirchhoff'sche Naturbeschreibung nicht hinaus. Im Resultat ist das Suchen nach dem „Gesetz“ und das Streben nach „einfachster Beschreibung“ dasselbe, verschieden höchstens in der Formulirung der Aufgabe und bisweilen vielleicht auch in dem Weg zu ihrer Lösung. Es folgt z. B. aus der Definition Kirchhoff's, daß es nicht nur aus pädagogischen, sondern auch aus philosophischen Gründen erlaubt sein muß, Hypothesen selbst dann noch zu gebrauchen, wenn sie zwar schon als nicht überall ausreichend erkannt, doch vorläufig noch die „einfachsten“ sind. Schließlich wird uns freilich nur das als „einfach erscheinen, was auch logisch wahr ist.

Aus dem Vorigen ersieht man, wie nahe manchmal die mathematische Physik der Metaphysik getreten ist. Kirchhoff hat in der Erkenntnißtheorie der Empirie den schärfsten und folgerichtigsten Ausdruck gegeben und ist insofern an die Spitze der ganzen modernen Physik getreten.

Kirchhoff's Streben nach Klarheit und Wahrheit in Allem tritt auch in seinem philosophischen Standpunkt hervor und hat ihn die Definition seiner eigenen Aufgabe der Naturerforschung lieber zu eng fassen lassen, als daß er auch nur den Schein eines Glaubenssatzes, wie ihn die Gesetzmäßigkeit der Natur vielleicht enthält, darin hätte dulden wollen. Und doch hat er nicht nur als kritischer Denker die Natur analysirt. Seine größte Entdeckung zeigt, daß er auch das lebendige Schauen, das liebevolle Eingehen, den intuitiven Einblick in das Wirken der Naturkräfte besaß, ohne die ein wirklicher Naturforscher mit Erfolg nicht forschen kann. Wir wiederholen: Kirchhoff war der ersten Naturforscher einer, weil er mathematischer Physiker in diesem Sinne war.


Letzte Änderung: 14.01.2013     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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