Lexikon bedeutender Mathematiker — David Hilbert

Quelle: Lexikon bedeutender Mathematiker / hrsg. von Siegfried Gottwald ... — Thun [u.a.], 1990. — S. 203-205


Hilbert, David: geb. 23. 1. 1862 Königsberg (Kaliningrad), gest. 14.2. 1943 Göttingen. — 1880-1885 studierte H. Mathematik in Königsberg, wo er 1885 mit der Dissertation „Über invariante Eigenschaften specieller binärer Formen, insbesondere der Kugelfunctionen“ promovierte, sich 1886 mit einer Arbeit über invariantentheoretische Untersuchungen im binären Formengebiet habilitierte und anschließend Privatdozent, Extraordinarius und 1893 Ordinarius wurde. 1895 erfolgte die Berufung an die Univ. Göttingen, an deren Entwicklung im ersten Drittel des 20. Jh. zu einem führenden mathematisch-naturwissenschaftlichen Lehr- und Forschungszentrum H. wesentlichen Anteil hatte und der er trotz zahlreicher Angebote anderer Univv. und Akademien bis zu seiner Emeritierung 1930 treu blieb.

Als der vielleicht bedeutendste und universellste Mathematiker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh. hat H. auf zahlreichen Gebieten der Mathematik und der mathematischen Physik grundlegende neue Resultate vorgelegt und wesentliche neue Entwicklungen angebahnt. Neben der Ausgestaltung der Theorie war ihm stets auch deren Begründung besonderes Anliegen. In methodologischer Hinsicht war H. ein Hauptvertreter der axiomatischen Richtung, die bei ihm philosophisch in eine formalistische Wissenschaftsauffassung mündete und zu deren metamathematischer Begründung er seine sog. Beweistheorie entwickelte. Die ersten Arbeiten H.s betreffen die zu jener Zeit besonders aktuelle Invariantentheorie. 1890 bewies er mittels neuartiger Betrachtungsweisen den heute nach ihm benannten Basissatz für Ideale und den Endlichkeitssatz der Invariantentheorie, der besagt, daß zu jedem System algebraischer Formen in n Variablen ein endliches volles Invariantensystem existiert. Während die Invariantentheoretiker vor H. für immer kompliziertere Systeme von Formen ein endliches volles Invariantensystem zu konstruieren versuchten, was z. B. 1868 P. GORDAN durch schwierige Rechnungen für binäre Formensysteme gelang und wofür H. 1888 einen einfachen Beweis geben konnte, löste H. jenes Problem in voller Allgemeinheit dadurch, daß er es mit allgemeinen Fragen der Modultheorie verknüpfte. Allerdings handelt es sich hierbei um einen reinen Existenzbeweis: H. erkannte, daß eine effektive Aufstellung des vollen Invariantensystems im allgemeinen Fall nicht erreichbar ist und man das Problem übersichtlich nur lösen kann, wenn man zunächst auf die Angabe eines einheitlichen allgemeinen Konstruktionsverfahrens verzichtet.

Diese Art der Lösung, in der sich bereits die axiomatische Denkweise H.s zeigt, stand im Gegensatz zu den Auffassungen der meisten Invariantentheoretiker und den u. a. durch L. KRONECKER geprägten Anschauungen über den effektiven Charakter algebraischer Beweisführungen. Erst das tiefere Eindringen in die Feinheiten der Modulsysteme und der Aufbau einer Theorie der Invariantenkörper führte H. 1893 auch zu einer Methode für die Aufstellung des vollen Invariantensystems von Grundformen in beliebig vielen Variablen.

Damit war bei H. zugleich ein Wechsel zu Problemen der Zahlentheorie verbunden. Insbesondere wendete er sich Fragen der Relativkörper, vor allem der relativ abelschen Körper, und der Reziprozitätsgesetze zu. Ergebnis seiner systematischen Arbeiten auf diesem Gebiet war der 1897 erschienene „Bericht über die Theorie der algebraischen Zahlkörper“, der von größter Wirkung war und die neuere Entwicklung der algebraischen Zahlentheorie begründete. Von den späteren im engeren Sinne algebraisch-zahlentheoretischen Forschungen H.s sei noch die dem Andenken des 1909 verstorbenen Freundes H. MINKOWSKI gewidmete Arbeit zum Waringschen Problem genannt, in der er zeigte, daß sich jede natürliche Zahl als Summe einer festen Anzahl n-ter Potenzen natürlicher Zahlen darstellen läßt.

Bereits 1891 wendete sich H. den „Grundlagen der Geometrie“ zu; er hielt 1898/99 seine berühmt gewordene Vorlesung „Elemente der Euklidischen Geometrie“ und veröffentlichte 1899 zur Feier der Enthüllung des Gauß-Weber-Denkmals in Göttingen seine „Grundlagen der Geometrie“. Mit diesem heute klassischen Werk fanden einerseits die bis in die griechische Antike zurückreichenden und insbesondere mit dem Namen EUKLID verbundenen Untersuchungen zur inhaltlichen Axiomatik in der Geometrie ihren Abschluß, zu der vor allem die Geometrie des 19. Jh. wesentliche neue Resultate geliefert hatte, die hier ihre endgültige und systematische Einordnung fanden. Andererseits war es — zusammen mit den sich in der 2. Hälfte des 19. Jh. herausbildenden strukturtheoretischen Auffassungen in der Algebra — der Anfang der heute in der Mathematik üblichen Form der Axiomatik, bei der die Objekte und die Beziehungen zwischen den Objekten einer axiomatischen Theorie allein als ein beliebiges System von Dingen und Beziehungen zwischen diesen aufgefaßt werden, die den als gültig vorausgesetzten Axiomen genügen, ohne Rücksicht auf vielleicht durch die verbale Einkleidung assoziierte anschauliche Vorstellungen. Dadurch wurd Fragen der Widerspruchsfreiheit, Vollständigkeit und Unabhängigkeit von Axiomensystemen zu wichtigen wissenschaftstheoretischen Problemen der Mathematik.

Wegen der in dieser Zeit entdeckten mengentheoretischen Antinomien bildete die Absicherung bedeutender Teile der Mathematik gegenüber Widersprüchen ein aktuelles Problem. In diesem Zusammenhang warf H. bereits 1900 die Frage auf, ob die zuvor durch K. WEIERSTRASS, G. CANTOR, R. DEDEKIND, G. FREGE u. a. gegebene genetische Begründung der Arithmetik der reellen und der natürlichen Zahlen ausreichend sei, und äußerte: „Trotz des hohen pädagogischen und heuristischen Wertes der genetischen Methode verdient doch zur endgültigen Darstellung und völligen logischen Sicherung des Inhaltes unserer Erkenntnis die axiomatische Methode den Vorzug“. Dabei erkannte H., daß die Schwierigkeiten bei der Begründung der Arithmetik anders geartet sind als diejenigen, die bei der axiomatischen Begründung der Geometrie zu überwinden waren: Während er in der Geometrie die Fragen der Widerspruchsfreiheit, Vollständigkeit und Unabhängigkeit weitgehend durch die Konstruktion geeigneter arithmetischer Modelle lösen konnte, erschien ihm in der Arithmetik die Berufung auf eine andere Grunddisziplin (z. B. die Mengenlehre) unerlaubt. Er entwickelte bereits in jener Zeit erste Ideen seiner späteren Beweistheorie, wobei er sich jedoch über das damit Erreichbare noch falsche Hoffnungen machte.

Im Jahre 1900 erhielt H. die Einladung zu einem Hauptvortrag auf dem 2. Internationalen Mathematikerkongreß in Paris. Er stellte ihn unter das Thema „Mathematische Probleme“ und formulierte in ihm 23 zu dieser Zeit ungelöste Probleme aus allen damals bestimmenden Zweigen der Mathematik. Die Entwicklung der Mathematik in der 1. Hälfte des 20. Jh. hat die Aktualität der Hilbertschen Probleme voll bestätigt, und zugleich hat der Vortrag diese Entwicklung wesentlich stimuliert. Er enthielt auch wichtige wissenschaftsphilosophische Gedanken über die Einheit der Mathematik und die Beziehungen der Mathematik zu den Naturwissenschaften, über die Bedeutung von „gut gestellten“ Problemen für die Entwicklung einer Wissenschaft und über die mathematische Strenge. In der Einleitung sprach H. seine feste Überzeugung von der Lösbarkeit jedes vernünftig gestellten mathematischen Problems aus.

Nicht zuletzt unter dem Eindruck der sich stürmisch entwickelnden Physik befaßte sich H. in den Jahren zwischen 1900 und 1920 nahezu ausschließlich mit Fragen der Analysis und der mathematischen Physik. Wie seine früheren Arbeiten zur Arithmetik, Algebra und Geometrie sind auch diese Untersuchungen meist auf grundlegende Probleme, insbesondere allgemeine Existenzaussagen orientiert. Zu den bahnbrechenden Arbeiten H.s zur Analysis gehören: der erste strenge Beweis des sog. Dirichletschen Prinzips und ein sich daran anschließender Ausbau der Variationsrechnung, die systematische Begründung der um 1900 von E. J. FREDHOLM geschaffenen Theorie der linearen Integralgleichungen zu einer Theorie der linearen Operatoren im unendlich dimensionalen Hilbert-Raum, eine allgemeine Theorie der Eigenwerte und Eigenfunktion symmetrischer Integralgleichungen, mannigfache Anwendung der Theorie der Integralgleichungen auf gewöhnliche und partielle Differentialgleichungen, Funktionentheorie, Variationsrechnung und Geometrie sowie die Lösung des auf B. RIEMANN zurückgehenden Problems der Konstruktion einer linearen Differentialgleichung mit gegebener Monodromiegruppe.

Auch in der theoretischen Physik ging es H. in besonderem Maße um die Anwendung seiner analytischen Methoden. Er beschäftigte sich ausführlich mit kinetischer Gastheorie, mit dem Kirchhoffschen Gesetz der Proportionalität von Emission und Absorption der Strahlung und mit dem Hamiltonschen Prinzip in der allgemeinen Relativitätstheorie. 1924 erschien der 1. Bd. seines mit R. COURANT verfaßten Lehrbuches „Methoden der mathematischen Physik“, das eine großartige Zusammenfassung der mathematischen Hilfsmittel des Physikers bietet; der 2. Bd. folgte 1937.

Die um 1920 beginnende letzte Schaffensperiode H.s gehörte ganz den Problemen der Grundlegung der Mathematik. Im Zusammenhang mit den Antinomien der Mengenlehre hatten sich unter den Mathematikern unterschiedliche Auffassungen über das Wesen der Mathematik, speziell über die Mengenlehre und das Unendliche herausgebildet. In scharfen polemischen Auseinandersetzungen mit den Vertretern des Intuitionismus, u. a. L. E. J. BROUWER und H. POINCARÉ, die mit einer strikten Ablehnung aktual unendlicher Mengen und bewährter Schlußweisen der klassischen Mathematik hervortraten, setzte sich H. für eine volle Aufklärung des Wesens des Unendlichen und jener Schlußweisen ein. Er sucht die Aufklärung in einer um eine Formalisierung der Ausdrucksmittel und der logischen Ableitungen erweiterten Axiomatik, innerhalb derer das Operieren mit unendlichen Mengen und die Schlußweisen der klassischen Mathematik durch einen finiten Widerspruchsfreiheitsbeweis gerechtfertigt werden sollten. Dazu entwickelte er im Anschluß an G. FREGE, E. SCHRÖDER, G. PEANO, B. RUSSELL u. a. einen allgemeinen Logikkalkül, in dem das inhaltliche logische Schließen durch ein äußeres Handeln nach Regeln ersetzt wird.

Der Nachweis der Widerspruchsfreiheit eines Axiomensystems bestand für H. dann im Nachweis, daß aus dem betrachteten Axiomensystem mittels der zugelassenen Regeln keine Aussage der entsprechenden Theorie und deren Negation hergeleitet werden können. Aus der Sicht seiner Beweistheorie wurde für H. die Mathematik zur allgemeinen Theorie der Formalismen. Seine ursprüngliche Hoffnung war dabei, die Widerspruchsfreiheit inhaltsreicher mathematischer Theorien mit finiten Mitteln beweisen zu können, d. h. mit Mitteln, die auch von den Vertretern des Intuitionismus anerkannt werden müssen. Auf dem Internationalen Mathematikerkongreß 1928 in Bologna stellte H. das Problem, die Vollständigkeit von Logik und elementarer Zahlentheorie zu beweisen. Während das erste Problem 1930 von K. GÖDEL positiv gelöst wurde, bewies dieser 1931, daß es für die elementare Zahlentheorie wie überhaupt für jede hinreichend ausdrucksfähige mathematische Theorie kein übersehbares vollständiges Axiomensystem gibt und zeigte, daß der Nachweis der Widerspruchsfreiheit einer formalisierten axiomatischen Theorie stets komplizierterer Mittel bedarf, als die Theorie zur Verfügung stellt.

Die Untersuchungen H.s zur mathematischen Logik und zu den Grundlagen der Mathematik haben ihre systematische Darstellung in den gemeinsam mit seinem Schüler W. ACKERMANN verfaßten „Grundzüge der theoretischen Logik“ (1928) und dem zusammen mit seinem Schüler P. BERNAYS verfaßten zweibändigen Werk „Grundlagen der Mathematik“ (1934/39) gefunden.

Poggendorff, Dictionary of Scientific Biography — Günter Asser

Lit.: C. Reid: Hubert. Berlin/Heidelberg/New York 1970


Abschrift durch Gabriele Dörflinger  Kontakt

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