Bernoulli, Daniel: geb, 8. 2. 1700 Groningen, gest. 17. 3. 1782 Basel; Mathematiker, Physiker, Arzt. — D. war der 2. Sohn von JOHANN I B. Die Familie kam 1705 nach Basel, wo der Vater den Lehrstuhl des verstorbenen Bruders JAKOB I B. erhielt. In Basel verbrachte B. seine Schulzeit. Obwohl seine mathematischen Fähigkeiten früh erkannt wurden, hatte der Vater wenig Verständnis für seinen Sohn und bestimmte ihn zum Kaufmann. Zwischen JOHANN I B. und B. gab es zeitlebens Spannungen, die teilweise bis in die wissenschaftliche Arbeit reichten. Ab 1711 führte der wenig ältere Bruder NIKLAUS II B. B. in die Mathematik ein, der B.s Neigung gehörte. 1715 erlangte B. den niedrigsten akademischen Grad (prima laurea), und 1716 wurde er Magister der Philosophie. Nachdem B. zweimal eigenmächtig die Lehre abgebrochen hatte, erlaubte ihm der Vater, der selbst auch Arzt war, schließlich ein Medizinstudium, das B. 1716 in Basel begann, 1718 in Heidelberg und 1719 in Straßburg fortsetzte, um 1721 in Basel mit einer Arbeit über die Atmung „De respiratione“ zum Dr. med. zu promovieren. Gemeinsam mit dem Bruder NIKLAUS II B. und L. EULER wurde B. vom Vater in Mathematik unterrichtet.
Als Bewerbungen um eine Basler Professur fehlschlugen, begab sich B. 1723 nach Italien, zunächst um bei dem angesehenen Arzt P. A. MICHELOTTI (1673-1740) eine praktische Ausbildung zu erhalten. In Padua erkrankte er 1724 ernstlich, weshalb er seine Studien abbrechen mußte. Der Mediziner veröffentlichte 1724 die „Exercitationes quaedai mathematicae“, in denen er seinen Vater und den Onkel JAKOB I B. gegen Angriffe verteidigt, aber auch die seinerzeit sehr aktuelle Riccatische Differentialgleichung durch schrittweise Substitution behandelt. Diese Arbeit machte ihn bekannt, so daß er 1725 gemeinsam mit dem Bruder NIKLAUS II B. eine Berufung an die gerade gegründete Petersburger Akademie erhielt. Er war dort Prof. für Physiologie und bald für Mathematik. 1726 starb der Bruder NIKLAUS II B. Im folgenden Jahr traf EULER ein, um den sich die Brüder bemüht hatten. Trotz heftiger akademischer Auseinandersetzungen und gesundheitlicher Probleme durch das rauhe Klima blieb B. noch 3 Jahre über seinen Kontrakt hinaus in Petersburg. Gemeinsam mit dem Bruder JOHANN II B., der ihn abholte, reiste B. 1733 über Danzig, Hamburg Holland und Paris nach Basel, um eine Professur für Anatomie und Botanik anzunehmen. In den fruchtbaren 8 Petersburger Jahren schuf B. bedeutende Arbeiten über theoretische Mechanik, insbesondere sein einzig umfangreicheres Werk „Hydrodynamica,...“ (Hydrodynamik oder Erläuterungen über die Kräfte und Bewegungen von Flüssigkeiten), dessen erste Fassung spätestens 1733 beendet war, die aber erst 1738 in Straßburg erschien (deutsch, ed. K. Flierl, München 1965, russisch, mit Komment. und Autobiographie, ed. V.S. Gochman, Moske 1959). Die folgenden 17 Jahre in Basel widmete B. vornehmlich der Medizin (Arbeiten über den Blutkreislauf, die Herzarbeit, medizinische Statistiken). Er setzte sich 1760 für die Blatternimpfung in Basel ein.
1750 hatte B. dort einen Lehrstuhl für Physik erhalten und begann mit außerordentlich erfolgreichen Experimentalvorlesungen. B. war bis zu seinem Tode wissenschaftlich tätig. Er veröffentlichte 74 Arbeiten und gewann insgesamt 10 Pariser Akademiepreise (teilweise gemeinsam mit anderen prominenten Mitbewerbern); letztere waren häufig mit der Seefahrt verbundenen Problemen gewidmet (z. B. Ankerform, Meeresströmungen, Inklinationsnadeln, Zeitbestimmung am Meer).
An der Mathematik interessierte B. vor allem ihre Anwendbarkeit. Beiträge dazu betreffen deshalb besonders die Reihenlehre oder Wahrscheinlichkeitstheorie und wurden am Anfang bzw. Ende seiner Laufbahn abgefaßt. Abstrakte Gebiete wie Zahlentheorie fehlen. Ab 1724 benutzte B. rekurrente Reihen zum Lösen algebraischer Gleichungen (Methode von Bernoulli, publiziert 1732). Die Gleichung xy = yx löste er in rationalen Zahlen. Um 1770 untersuchte er Kettenbrüche, so 1775 die Kettenbruchlösung für x² + px = 1. In den 40er Jahren brachte B. Einwände gegen einige unzulässige Grenzwertbetrachtungen EULERS vor, für die dieser intuitiv, trotz falscher Verfahren, richtige Ergebnisse erhalten hatte. Wichtige Beiträge lieferte B. zur Wahrscheinlichkeitstheorie, beispielsweise übernahm P. S. LAPLACE eine Arbeit von B. aus dem Jahre 1730 in seine „Théorie analytique des probabilités“ von 1812. B. trennte um 1730 die mathematische Erwartung von der moralischen. Die letzten 2 Lebensjahrzehnte wandte er die Analysis auf Wahrscheinlichkeitsprobleme an, wobei er auf eigenes Zahlenmaterial zurückgriff. 1766 bewies B., daß die Vorteile der Pockenschutzimpfung deren Nachteile überwiegen. In einer Arbeit von 1778 („Diiudicatio“) erschien erstmals das Maximum-Likelihood-Prinzip.
Das heute als mathematische Physik bezeichnete Gebiet wurde durch B., EULER und D'ALEMBERT begründet. B. war ein früher Naturwissenschaftler, der die Verifizierung jeder Theorie durch das Experiment forderte. Den Streit um das wahre Kraftmaß klärte er in einer wenig beachteten Arbeit („Examen“) bereits 1726, während D'ALEMBERTS viel gelesene Veröffentlichung erst 1743 erschien. In einer Arbeit von 1734/35 („Demonstratio“) benutzte B. (wie sein Onkel JAKOB I B.) ein Prinzip, um die Schwingungen einer vertikal herabhängenden Kette zu ermitteln, das das d'Alembertsche Prinzip (1743) der Rückführung dynamischer Probleme auf statische vorwegnahm. Der Durchbruch in der Behandlung hydrodynamischer Probleme gelang B. und seinem Vater JOHANN I (1738 bzw. 1742). Obwohl sich B. in gewisser Weise durch das große Interesse an der „Hydraulica“ (1742) seines Vaters in seinem eigenen Ruhm geschmälert sah, erkannte er doch die Priorität des Vaters an, nämlich die „Hydraulica“ erstmals aus mechanischen Prinzipien abgeleitet und das Prinzip der lebendigen Kräfte formuliert zu haben. B.s Bedeutung wird durch die Anerkennung der väterlichen Verdienste kaum geschmälert: Bahnbrechend ist bei B. die grundlegende Rolle, die er dem Prinzip der lebendigen Kräfte gab. Die wichtige Unterscheidung zwischen hydrostatischem und hydrodynamischem Druck wurde getroffen. B. behandelte inkompressible und reibungsfreie Fluide (spezielle Form der Bernoullischen Gleichung) und unter gewissen Voraussetzungen auch elastische Fluide. Im Teil über elastische Fluide entwickelte B., ohne Vorgänger zu haben, die Anfänge einer kinetischen Gastheorie, wobei seine Anwendungen bis zur Ballistik reichten.
B. gab der Entwicklung der Variationsrechnung 2 wichtige Impulse (1741/42), indem er EULER anregte, unter der Wirkung einer Zentralkraft stehende Körper sowie die Balkenbiegung (zu der B. die zu minimierende Potentialkraft gefunden hatte) als Variationsproblem zu behandeln (Anhänge in EULERS „Methodus“, 1744). Erwähnenswert ist auch die Einführung von Kräftefunktionen (Potentiale) 1748. In der Stoßtheorie berücksichtigte B. die auftretenden Schwingungen, die mitunter einen erheblichen Teil der kinetischen Energie aufbrauchen können. Im Ansatz erschienen in einer Arbeit von 1770 bereits die Methode von J. W. RAYLEIGH (1842-1919) und W. RITZ.
Der Streit über die allgemeine Lösung beim Problem der schwingenden Saite, in den ab 1748 EULER und D'ALEMBERT aufgrund eines zu eng gefaßten Funktionsbegriffs geraten waren, erhielt durch B. eine tiefgreifende Wende. Von der physikalischen Fragestellung geleitet, baute B. die allgemeine Lösung durch eine unendliche Überlagerung (Superpositionsprinzip) von bestimmten Einzelschwingungen (Eigenschwingungen der Saite, Obertöne) auf („Réflexions“, 1753). B. sah das Prinzip als mechanischen Grundsatz an, der keines Beweises bedurfte, während EULER und J. L. LAGRANGE einen mathematischen Beweis verlangten und suchten. Mathematisch gesehen, wird die allgemeine Lösung (bzw. eine nach damaligen Empfinden „willkürliche“ Funktion) als trigonometrische Reihe dargestellt, wobei B. erkannte, daß auch für unstetige Funktionen sein Prinzip gilt. Obwohl A. CLAIRAUT und EULER in diesem Zusammenhang unbeachtet in postumen Veröffentlichungen (1759 bzw. 1798) sogar die entsprechenden Formeln für die Koeffizienten der Reihe bestimmt hatten, erkannte erst J. B. FOURIER in Arbeiten von 1807-1811 die Tragweite dieser Idee („Théorie de la chaleur“, 1822). Nach weiteren Abhandlungen J. P. G. DIRICHLETS von 1829, B. RIEMANNS (Ausgangspunkt eines neuen Integralbegriffs) von 1854 und G. CANTORS (Eindeutigkeit der Darstellung, Anregung zur Mengenlehre) setzte 1966 L. CARLESON mit allgemeinen Konvergenz- und Darstellungsaussagen (Fourierentwicklung einer quadratisch integrierbaren Funktion konvergiert fast überall) den Abschluß unter diese 200jährige Entwicklung.
Poggendorff, Dictionary of Scientific Biography — Rüdiger Thiele
Lit.: D. Speiser (Hrsg.): Die Werke von D. Bernoulli, Bd. 2, Basel 1982, Bd. 3 Basel 1987 (8 Bde. geplant); P. H. Fuß: Correspondance mathematique. Bd. 2, St. Petersburg 1843, Reprint 1968; I. Szabó: Geschichte der mechanischen Prinzipien. Basel 1987; C. A. Truesdell: An Idiot's Fugitive Essays. New York/Berlin/Heidelberg/Tokyo 1982
Abschrift durch Gabriele Dörflinger Kontakt
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