Henri-Jules Poincaré Jules-Henri Poincaré ist in Nancy am 29. April 1854 geboren. Seine lothringische Familie, deren Vorfahren in Neufchâteau ansässig waren, hatte sich vor etwa 100 Jahren in Nancy niedergelassen. Sein Großvater war Apotheker, sein Vater Arzt in Nancy; ein aus der École Polytechnique hervorgegangener Oheim war Brückenbaumeister. Wie bei vielen großen Männern, so werden auch bei ihm die großen Geistesgaben der Mutter gerühmt, die eine tüchtige und umsichtige Hausfrau war. Nebenbei sei erwähnt, daß Poincaré scherzhaft sagte, sein Name müssee Pontcaré lauten; denn es gebe zwar quadratische Brücken, nicht aber quadratische Punkte.
Im fünften Jahre seines Lebens schwer erkrankt, erholte sich der kleine Henri nur langsam und mußte das Sprechen erst wieder allmählich erlernen; er hielt sich daher von dem Umgange mit Knaben seines Alters fern und schloß sich innig an seine kleine Schwester an. Den ersten Unterricht erhielt er von einem im Ruhestand befindlichen Lehrer, der aber nicht systematisch vorging, sondern in enzyklopädischer Art die Dinge mit ihm besprach. Sein phänomenales Gedächtnis, das Poincaré in seinem ganzen Leben behielt, bewirkte, daß diese Unterrichtsart bei ihm die besten Früchte trug. Als Beispiel dieser Eigennatur von Poincaré führt Masson in der Bewillkommmmgsrede für Poincaré bei seinem Eintritt in die Académie Française an, daß der berühmte Mathematiker am Abende eines Tages die Nummern aller Droschken ansagen konnte, denen er im Laufe des Tages begegnet war; diese Nummern schaute er nicht etwa im Bilde, sondern hörte sie als Töne klingen.
Auf dem Lyzeum in Nancy, das Poincaré dann besuchte, errang er sofort den ersten Platz in allen Fächern. Er kann also zur Widerlegung der paradoxen, jetzt öfter verfochtenen Ansicht genannt werden, daß große, produktive Menschen auf der Schule nie etwas Besonderes geleistet hätten. Seine mathematische Begabung trat hervor, sobald er mathematischen Unterricht erhielt. Bei der Aufnahmeprüfung zur École Polytechnique 1873 erhielt er den ersten Platz in der Reihe der erfolgreichen Bewerber, und nach Beendigung des zweijährigen Studiums auf dieser Hochschule wurde ihm trotz seiner Abneigung gegen praktische Arbeiten, wie Linear- und Freihandzeichnen, der zweite Platz zuerteilt. Zur Fachausbildnng begab er sich 1875 auf die École des Mines und erhielt als erste Staatsstellung 1879 die eines Bergwerksingenieurs zu Vesoul. Sein Aufrücken in der Beamtenhierarchie der Bergwerke, in der er nominell weitergeführt wurde, führte ihn 1893 bis zu dem Range eines „Ingénieur en chef des Mines“. Aber noch während seiner praktischen Ausbildung zum Ingénieur des Mines betrieb er die mathematischen Studien mit leidenschaftlicher Hingebung. Die Prüfung als Licencié des Sciences legte er 1876 ab, den Grad des Docteur des Sciences mathématiques de Université Paris erwarb er am 1. August 1879 mit seiner Dissertation „Sur les propriétés des fonctions définies par les équations aux différentielles partielles“.
Damit war aber auch gleich sein Übertritt in die akademiache Lehrtätigkeit entschieden. Vom Arbeitsminister beurlaubt, überuahm er noch in demselben Jahre 1879 den Lehrauftrag über Analysis, den ihm der Unterrichtsminister an der Faculté des Sciences zu Caen erteilte. Zwei Jahre später wurde der siebenundzwanzigjährige Professor an die Universität zu Paris berufen; er lehrte dort in raschem Aufstieg, mit mannigfachen Lehraufträgen betraut, sowohl an der Universität, als auch an der École Polytechnique. So erhieit er 1886 den Vortrag über experimentelle und physikalische Mechanik zugewiesen, 1886 den über mathematische Physik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Seine Hauptvorlesung, mit (Seite 477/2) der er 1896 beauftragt wurde, war die über mathematische Physik und Himmelsmechanik. Mitglied der Académie des Sciences („Membre de l'Institut“) wurde er mit 33 Jahren 1887, ihr Präsident 1906. Als er dann 1909 als einer der „Quarante immortale“ seinen Sitz in der Académie Française einnahm, hatten sich die Ehren schon in so reicher Fülle auf ihn gehäuft, daß er bereits Mitglied von 35 Akademien war. Die gelehrten Gesellschaften seines Vaterlandes und die außerhalb Frankreichs hatten gewetteifert, ihn für sich zu gewinnen. Aber alle diese Ehrungen hatten ihn nicht seiner stetigen wissenschaftlichen Arbeit entfremdet; vielleicht dürfte es erlaubt sein, zu behaupten, sie seien für ihn ein Ansporn zu immer mehr sich erweiternden Forscbungen geworden.
Von seinem wissenschaftlichen Lebenswerk können in einem kurzen Nachruf, der zudem auch noch den Nichtmathematikern nicht ganz unverständlich bleiben möchte, nur schwache Andeutungen gegeben werden. Von Forschungen in den abstraktesten Teilen der Mathematik ausgehend, hat sich Poincaré bald zu den Anwendungen der gewonnenen Ergebnisse auf die mathematische Physik and die Astronomie begeben und ist dann durch die Untersuchung der Prinzipien dieser Wissenschaften weiter dazu getrieben worden, die philosophischen Grundlagen durchzuarbeiten. Die Ergebnisse solcher Studien hat er in Werken niedergelegt, die der Philosopbie zugerechnet werden können. Diese philosophischen Schriften, die dem Nichtmathematiker am leichtesten zugänglich sind, haben seinen Namen in weiteren Kreisen bekannt gemacht. Die wunderbare schöpferische Kraft des Poincaréschen Genius macht Masson in der schon erwähnten Rede in etwas verständlich. Bei der humoristischen Erwahnung der Zerstreutheit, deren Opfer Poincaré in seinem Leben oft geworden ist, sagt der Président der Académie Française: „Sie sind nichtsdestoweniger ein ausgezeichneter Reisender, der alles Sehenswerte sieht und alles bis auf die geringfügigsten Einzelheiten behält. Als Sie der Reihe nach ganz Europa, einen Teil Afrikas und Amerikas durchreisten, haben Ihre Gefährten bemerkt, wie Sie sofort über alles unterrichtet waren, was die Geschichte und Statistik, die Eigenart der Sitten und Gewohnbeiten sowie der Lebewesen betraf. Jene waren aber auch Teilnehmer an Spaziergängen, bei denen Sie in ganz andere Dinge versunken zu sein schienen, und die Sie nur unterbrachen, um eilig einige Zeichen auf Papierstücke hinzuwerfen. Kraft eines überraschenden Vermögens sich zu verdoppeln, sind Sie zu derselben Zeit, während der Sie hochfliegende mathematiscbe Überlegungen in sicb bewegen, außerdem noch imstande, äußere Eindrücke in sich aufzunehmen, die in Ihr Gedächtnis eindringen und sich dort einkapseln. Nur scheint Ihr Geist, der für diese beiden Tätigkeiten Raum hat, es aufzugeben, sich auch noch an dem Materielien des Lebens abzunutzen.“
In gewisser Hinsicht läßt sich die Entwickelung Poincarés mit der von Gauß vergleichen. Auch dieser begann seine Laufbahn mit den abstrakten Untersuchungen aus der Zahlentheorie und der Algebra, schritt dann zu den Untersuchungen der Astronomie und der mathematiscben Physik fort, um endlich als praktischer Geodät tätig zu sein. Allein Gauß befriedigte mit seinen Forschungen zunächst seinen Trieb zur Erkenntnis und hatte nach gewonnener Einsicbt durchaus nicht das Bedürfnis, seine Entdeckungen mitzuteilen. Ferner veröffentlichte er seine Arbeiten nur als abgeschlossene Kunstwerke; die Spuren seines Forschungsweges verwischend, stellt er oft den Leser vor die Frage: Wie ist der Meister dazu gekommen, diesen festgefügten wunderbaren Bau zu errichten? Poincaré dagegen tritt mit jeder neuen Entdeckung sofort an die Öffentlichkeit, unbekümmert darum, ob auch alles, was er intuitiv gefunden hat, gegen jeden Einwand gesichert ist. Daber muß er selbst sich zuweilen in Einzelheiten berichtigen oder von anderen berichtigen laasen, obschon der geniale Wurf im ganzen gelungen ist. Als (Seite 478/1) er durch seine Veröffentlichungen über die Theorie der Differentialgleichungen die Aufmerksamkeit aller Mathematiker erregte, bemerkte L. W. Thomé, der streng geschulte Zögling Weierstraßscher Richtung, schwache Punkte in der Beweisführung und rügte dies in einem Aufsatze. Poincarés Erwiderung bestand darin, daß er Thomé alle seine bezüglichen Veröffentlichungen sandte and schrieb, er habe nicht Zeit, diese Dinge nochmals durchzuarbeiten, er sei durch andere Untersuchungen gefesselt. Der Überreichtum, der ihm fortwährend zuströmenden neuen Gedanken bekundet sich in diesen Worten ebeneo stark wie der Glaube an den eigenen Genius, der sich des rechten Weges bewußt ist. — Bei dem Drucke der Abhandlung über das Dreikorperproblem, die mit dem Preise des Königs Oskar von Schweden gekrönt worden war, entdeckte er einige zu verbessernde Irrtümer, die eine Umarbeitung notwendig machten; daher mußten die gedruckten Bögen eingestampft werden und der Satz von neuen beginnen. Solcbe Vorkommnisse schadeten seinem Ansehen nicht.
Bei der Überreichung der goldenen Medaille der Royal Society in London an Poincaré (9. Februar 1909) sagte der Präsident G. H. Darwin: „Der vorherrschende Charakter der Poincaréschen Arbeitsweise scheint mir in einer unermeßlichen Weite von Verallgemeinerungen zu bestehen, so daß die große Zahl der möglichen Deduktionen zuweilen fast störend wirkt. Diese Macht im Anpacken der abstrakten Prinzipien ist das Wahrzeichen für den Intellekt des wahren Mathematikers. Für jemanden aber, der vielmebr gewohnt ist, das Konkrete zu behandeln, ist die Schwierigkeit, sich des Ganges der Schlußfolgerungen zu bemächtigen, bisweilen groß. Für diese andere Klasse von Geistern besteht daa leichtere Verfahren in der Prüfung irgend eines einfacnen und faßlichen Falles, um dann zur allgemeinsten Auffassung des Problems sich zu erheben. Icb stelle mir vor, daß Poincaré bei seiner Arbeit einen anderen Weg einschlagen muß, und daß er es leichter findet, zuerst die breitesten Auswege zu betrachten, um von da zu spezielleren Fällen hinunter zu steigen. Selten besitzt jemand diese Fähigkeit in hohem Grade, und man braucht sich nicbt zu wundern, daß einer, der sie besitzt, für die Männer der Wissenschaft kommender Geschleohter ein adeliges Erbteil zusammengebracht hat.“
Aus der geschilderten produktiven Tätigkeit erklärt sich der große Umfang der Schriften Poincarés. In der am 1. Juli 1809 abgeschlossenen Broschüre von E. Lebon: „Henri Poincaré. Biographie, Bibliographie analytique des écrits“, der die meisten Angaben dieses Artikels entnommen sind, werden gegen 450 Titel von Veröffentlichungen aufgezählt, unter ihnen 24 zum Teil mehrbändige Werke in Buchform.
Wie schon erwähnt, bezieben sicb die ersten Arbeiten Poincarés auf die Integration der Differentialgleichungen. Nachdem Riemann in seiner Behandlung der Differentialgleichung für die hypergeometriscbe Reihe den Weg für solche Untersuchungen gewiesen und Weierstraß seinen Schülern als Hauptaufgabe der Theorie der Differentialgleichungen die Ermittelung der Eigenschaften der durch sie charakterisierten Funktionen bezeicbnet hatte, war es Fuchs, einem Schüler von Weierstraß, gelungen, an der Theorie der linearen Differentialgleichungen die Fruchtbarkeit der neuen Gedanken zu erweisen und somit der Vater dieser Theorie zu werden. An dem Ausbau dieser Theorie beteiligten sicb dann neben ihm viele der damals lebenden jüngeren Mathematiker; doch fehlte eine allgemeine Charakteristik für die Funktionen, die den linearen Differentialgleiohungen genügen.
Hier nun setzte Poincaré ein. Durch Verallgemeinerung der Eigenschaften der elliptischen Funktionen und der Modulfunktionen kam er zur allgemeinen Untersuchung solcher Funktionen einer unabhängigen Veränderlichen, die bei gebrochenen linearen Substitutionen ungeändert bleiben, und gelangte zur Aufstellung (Seite 478/2) charakteristicher Gruppen dieser „automorphen Funktionen“. In aufrichtiger Anerkennung der deutschen Vorarbeiten für diese Untersuchungen nannte er die eine Klasse dieser Gruppen Fuchssche Gruppen, die andere Kleinsche Gruppen. Bei der weiteren Bearbeitung dieser Theorie konstruierte er Funktionen, die er in Analogie so bildete, wie dies in der Theorie der elliptischen Funktion vorbildlich geschehen war, und nannte sie thetafuchsische Funktionen und zetafuchsische Funktionen.
„Durch die Einführung der zetafuchsischen Funktionen, die als Quotienten einer Reihe mit rationalen Gliedern und einer Theta-Reibe definiert werden, ist es Poincaré gelungen, den Beweis zu erbringen, daß die Lösungen der linearen Difierentialgleichungen, deren Koeffizienten algebraische Funktionen der unabhängigen Veränderlichen sind, mittels dieser neuen Transzendenten ausgedrückt werden können. Dieses kapitale Ergebnis hat er dadurch erhalten, daß er einen Weg verfolgte, der dem entspricbt, auf welchem die Integrale algebraischer Differentiale, durch Abelsche Thetafunktionen ausgedrückt, gewonnen werden. Auf diese Weise hat Poincaré dem Studium der automorphen Funktionen ein weites Feld eröffnet, und durch die Aufhellung der Beziehungen dieser Theorie mit derjenigen der linearen Differentialgleichungen hat er dieses ältere Gebiet mit neuen und fruchtbaren Methoden ausgestattet.“
Weierstraß übersah sofort die Tragweite der Entdeckungen Poincarés und erkannte ihre fundamentale Bedeutung freudig an. In diesen Untersuchungen spielen solche Gebiete, in welche hinein eine analytisohe Funktion nicht fortsetzbar ist, die Lücken (lacunes) ihres Feldes, eine Hauptrolle. Auf diese Lücken hatte Weierstraß schon zum Beginn der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in seinen funktionentheoretischen Vorlesungen nachdrücklich hingewiesen, und als die Erfolge zutage lagen, die Poincaré durch die systematische Ausnutzung dieses Begriffes erzielt hatte, sprach Weierstraß zu einem seiner Schüler, der das Studium der linearen Differentialgleichungen zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte, seine Verwunderung darüber aus, daß dieser nicht die gegebenen Winke in der Richtung der Arbeiten von Poincaré benutzt hatte.
Der erweiterte Gesichtskreis, zu dem Poincaré in diesen Arbeiten aufgestiegen war, ermöglichte ihm die Aufstellung einer Reihe höchst wichtiger Sätze aus der allgemeinen Funktionentheorie. Insbesondere erkannte er den Nutzen, den man aus der geeigneten Behandlung divergenter Reiben für die Darstellung analytischer Funktionen ziehen könne, und er zog sie systematisch bei seinen „asymptotischen Darstellungen“ herbei. Aber auch die Geometrie, deren anschauliche Methoden er erweiterte, beschenkte er mit vielen unerwarteten Sätzen. Für die algebraischen Kurven führte er den Nachweis, daß die Koordinaten der Punkte einer irgendwie definierten algebraischen Kurve immer durch eindeutige Funktionen eines Parameters ansdrückbar sind. Die Vorstellungen der nichteuklidiscben Geometrie waren ihm bei seinen analytischen Untersuchungen von Nutzen gewesen, und nun konnte er umgekehrt, etwa wie Lie bei seinen Studien über die Berührungstransformationen, seine Einsicht in die neuen Funktionen zur höheren Auffassung der Begriffe der Geometrie verwerten. In Anerkennung dieser Leistungen wurde ihm 1905 von der ungarischen Akademie der Wissenschaften zu Budapest der Bolyai-Preis zuerkannt. Unter seinen geometrischen Untersuchungen sind auch zu nennen seine Beiträge zur Analysis Situs, insbesondere der Topographie der Flächen in mehrdimensionalen Räumen. Mit seinen letzten Arbeiten über die mehrfachen Integrale auf algebraischen Flächen betrat er ein Gebiet, das in engster Weise die Analysis der algebraischen Funktionen zweier Variablen und die Theorie der algebraischen Oberflächen verbindet, ein Gebiet, auf dem sein berühmter Kollege Picard seit längerer Zeit Lorbeeren gesammelt hat. Endlich stehen (Seite 479/1) auch die zahlentheoretischen Arbeiten Poincarés, unter ihnen die auf die geometrishe Darstellung quadratischer Formen sich beziehenden Abhandlungen, mit der Gruppentheorie in engem Zusammenhange.
Die Theorie der Differentialgleichungen, von der Poincaré in seinen Untersuchungen aus der reinen Mathematik ausging, wird in allen Forschungen der angewandten Mathematik: der mathematischen Physik und der Astronomie sowie Geodäsie, gebraucht, und daher ist es natürlich, daß Poincaré, der sich immer von konkreten Anschauungen zu verallgemeinerten Begriffen erbob, diesen Anwendungen seiner theoretischen Studien von Anfang an die größte Aufmerksamkeit zuwandte.
Es ist schon oft die Bemerkung gemacht worden, daß ganz verschiedene Probleme der Geometrie, der Mechanik, der mathematischen Physik auf dieselbe Differentialgleichung führen. Diese Beobachtung veranlaßte auch Poincaré zur Abfassung mehrerer fundamentaler Abhandlungen, von denen nur die wichtigsten genannt werden mögen, die außerdem eng miteinander zusammenhängen. Die beiden ersten sind betitelt „Sur les équations aux dérivées partielles de la Physique mathématique“ and „Sur les équations de la Physique mathématique“, sind also im Thema nahezu übereinstimmend. Die in der zweiten Arbeit behandelte Differentialgleichung (δ² / δx²) + (δ² / δy²) + (δ²v / δz²) + ξv + f = 0, in der ξ eine Konstante, f eine gegebene Funktion von x, y, z ist, kommt in der Elastizitätstheorie bei verschiedenen Problemen vor, ebenso in der analytischen Wärmetheorie und noch bei manchen anderen Fragen der mathematischen Physik. Die dritte große Arbeit „Sur la méthode de Neumann et le problème de Diricblet“ beschäftigt sich, wie auch schon die beiden vorangehenden, vornehmlich mit der Frage der Existenz von Lösungen solcher partiellen Differentialgleichungen bei gegebenen Randbedingungen. Zur Erledigung dieser Fragen hatte Poincaré in der erstgenannten Arbeit eine besondere Methode ersonnen, die als „Kehrausverfahren“ (méthode de balayage) bekannt geworden ist. Nachdem Fredholm durch seine Untersuchungen über die Theorie der Integralgleichungen gezeigt hatte, wie sowohl die Existenzfrage der integrierenden Funktionen durch die von ihm geschaffene Methode beantwortet werden, als auch eine Darstellung dieser Funktionen erreicht werden könne, verfehlte Poincaré nicht, auch diese von Hilbert vertiefte Theorie zur Lösung der früher von ihm behandelten Fragen zu verwerten, und befruchtete durch eine Reibe geistvoller Abhandlungen die mathematische Physik mit neuen Gedanken.
Für seine Vorlesungen in der mathematischen Physik arbeitete er mit bewundernswerter Leichtigkeit alle Teile der theoretischen Physik durch, überließ es aber seinen Schülern, die gehaltenen Vorträge auszuarbeiten und herauszugeben. Die vielen so entstandenen Bände zeugen von dem die ganze Physik umspannenden Geiste des jungen Professors. Man findet in diesen Bänden folgende Gegenstände bebandelt: 1. Kapillarität. 2. Theorie der Elastizität. 3. Newtonsches Potential. 4. Wirbeltheorie. 5. Analytische Theorie der Wärmeausbreitung. 6. Thermodynamik. 7. I. Mathematische Lichttheorie. II. Neue Studien über die Diffraktion. Helmholtzsche Dispersionstheorie. 9. Elektrische Schwingungen. 9. Elektrizität und Optik. I. Die Maxwellschen Theorien und die elektromagnetische Lichttheorie. II. Die Helmholtzschen Theorien und die Hertzschen Versuche. 10. Elektrizität and Optik. Das Licht und die elektrodynamischen Theorien. 11. Die Maxwellsche Theorie und die Hertzschen Schwingungen. Die drahtlose Telegraphie. 12., 13., 14. Vorlesungen über mathematische Elektrizitätslehre. Über die Fortpflanzung des Stromes in variabler Periode auf einer mit Rezeptor versehenen Linie. Über den telephoniscben Rezeptor. Über die drahtlose Telegraphie.
(Seite 479/2) An da» Verzeichnis der Titel dieser Bücher über mathematische Physik reihen wir sofort die der in Buchform erschienenen Werke aus der analytischen Mechanik und der Astronomie an. 1. I. Kinematik und Mechanismen. II. Potential und Mechanik der Flüssigkeiten. 2. Gleichgewichtsgestalten einer Flüssigkeitsmasse. 3. Vorlesungen über Himmelsmechanik, gehalten an der Sorbonne. 4. Lehrgang der allgemeinen Astronomie mit einem Anhange über Himmelsmechanik. Während diese vier Bücher ebenfalls Bearbeitungen gehaltener Vorlesungen sind, deren Herausgabe die Schüler Poincarés besorgt haben, ist das folgende Hauptwerk aus der Astronomie eine der wichtigsten Schöpfungen Poincarés: Die neuen Methoden der Himmelsmechanik. Band I: Periodische Lösungen. Nichtexistenz der eindeutigen Integrale. Asymptotische Lösungen. Band II: Methoden von Newcomb, Gyldén, Lindstedt und Bohlin. Band III: Integralinvarianten. Periodische Lösungen zweiten Grades. Doppeltasymptotische Lösungen.
Um alle in Buchform veröffentlichten Werke zusammen zu haben, nennen wir auch gleich noch die drei der Philosophie zuzurechnenden Bücher: 1. Wissenschaft und Hypothese. 2. Der Wert der Wissenschaft. 3. Wissenschaft und Methode.
Aus der Aufzählung dieser Titel leuchtet es von selbst ein, daß wir nicht den Versuch machen können, hier auf den Inhalt der Reihe von Bänden einzugehen. Möge das Verzeichnis das bestätigen, was am Eingange gesagt ist. An dem Reichtum der Gaben, die Poincaré freigebig ausgestreut hat, wird die Nachwelt noch lange zehren. Seine Nachfahren werden seine genialen Gedanken auf ihre Ergiebigkeit, auf ihre Richtigkeit zu prüfen, das Bleibende an ihnen in das rechte Licht zu stellen haben.
Im Verkehr gab sich Poincaré als liebenswürdigen schlichten Menschen; obgleich er sich seiner geistigen Gaben bewußt war, überhob er sich nicht über seine Mitbrüder. Mit nicht ermüdender Bereitwilligkeit gab er den Wünschen um Vorträge nach, die bei vielen Gelegenheiten an den berühmten Forscher gestellt wurden. So haben wir in Deutschland ihn kennen gelernt, als er auf Einladung der Verwalter der Wolfskehl-Stiftung in Göttingen sechs Vorträge über die Ziele der neuesten Forschungen hielt. So ist er uns in Berlin als Abgeordneter der Pariser Universität bei der Gelegenheit der Hundertjahrfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität entgegengekommen. Trotz der knappen Zeit, die ihm während der verschiedenen Feste gelassen wurde, gewann er doch die Muße, der Mathematischen Gesellschaft und dem Mathematischen Verein der Studierenden an der Universität Vorträge zu halten, zu zeigen, daß ein so hochstehender Gelehrter ein freundlicher, arbeitsbereiter Fachgenoase sein kann. Mit diesem schönen Erinnerungsbilde in unserem Gedächtnis gedenken wir des großen Mannes von kleiner Gestalt und vorzeitig gebeugter Körperhaltung in dankbarer Verehrung und trauern mit seinem Vaterlande um den Verlust, den die Menschheit durch seinen zu frühen Tod erlitten hat.
E. Lampe.
Signatur UB Heidelberg: O 29-3 Folio::27
Letzte Änderung: 01.11.2025 Gabriele Dörflinger
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