Ludwig Boltzmann: Mathematik - Schönheit

S. 28-30 aus:
Gustav Robert Kirchhoff : Festrede zur Feier des 301. Gründungstages der Karl-Franzens-Universität zu Graz / gehalten am 15. November 1887 von Dr. Ludwig Boltzmann, z. Z. Rektor. — Leipzig : Barth, 1888. — VIII, 32 S.
Signatur UB Heidelberg: F 6970-1-50
Gerade unter den zuletzt erwähnten Abhandlungen Kirchhoff's sind einige von ungewöhnlicher Schönheit. Schönheit höre ich Sie da fragen; entfliehen nicht die Grazien, wo Integrale ihre Hälse recken, kann etwas schön sein, wo dem Autor auch zur kleinsten äusseren Ausschmückung die Zeit fehlt? — Doch — ; gerade durch diese Einfachkeit, durch diese Unentbehrlichkeit jedes Wortes, jedes Buchstabens, jedes Strichelchens kömmt der Mathematiker unter allen Künstlern dem Weltenschöpfer am nächsten; sie begründet eine Erhabenheit, die in keiner Kunst ein Gleiches, — Aehnliches höchstens in der symphonischen Musik hat. Erkannten doch schon die Pythagoräer die Aehnlichkeit der subjectivsten und der objectivsten der Künste. — Ultima se tangunt. Und wie ausdrucksfähig, wie fein charakterisirend ist dabei die Mathematik. Wie der Musiker bei den ersten Tacten Mozart, Beethoven, Schubert erkennt, so würde der Mathematiker nach wenigen Seiten, seinen Cauchy, Gauss, Jacobi, Helmholtz unterscheiden. Höchste äussere Eleganz, mitunter etwas schwaches Knochengerüste der Schlüsse charakterisirt die Franzosen, die grösste dramatische Wucht die Engländer, vor Allen Maxwell. Wer kennt nicht seine dynamische Gastheorie? — Zuerst entwickeln sich majestätisch die Variationen der Geschwindigkeiten, dann setzen von der einen Seite die Zustands-Gleichungen, von der anderen die Gleichungen der Centralbewegung ein, immer höher wogt das Chaos der Formeln; plötzlich ertönen die vier Worte: „Put n = 5.“ Der böse Dämon V verschwindet, wie in der Musik eine wilde, bisher alles unterwühlende Figur der Bässe plötzlich verstummt; wie mit einem Zauberschlage ordnet sich, was früher unbezwingbar schien. Da ist keine Zeit zu sagen, warum diese oder jene Substitution gemacht wird; wer das nicht fühlt, lege das Buch weg; Maxwell ist kein Programmmusiker, der über die Noten deren Erklärung setzen muss. Gefügig speien nun die Formeln Resultat auf Resultat aus, bis überraschend als Schlusseffect noch das Wärme-Gleichgewicht eines schweren Gases gewonnen wird und der Vorhang sinkt.

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